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Vor 30 Jahren
Als das albanische Flüchtlingsschiff "Vlora" Italien erreichte

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geriet auch Albanien zunehmend unter Druck. Als keine Reformen in dem isolierten Land in Sicht waren, wählten viele Albaner die Flucht übers Mittelmeer. Am 8. August 1991 erreichte der völlig überfüllte Frachter "Vlora" die italienische Hafenstadt Bari.

Von Matthias Bertsch | 08.08.2021
    Albanische Flüchtlinge auf dem Schiff "Vlora"im Hafen von Bari, Italien, am 8. August 1991
    Albanische Flüchtlinge auf dem Schiff "Vlora"im Hafen von Bari, Italien, am 8. August 1991 (dpa / epa ansa)
    Waren es 9.000, 12.000 oder gar 20.000? Die Zahlen in den Berichten gehen auseinander, doch das Bild brannte sich ein: ein altes rostiges Schiff, von Menschen übersät. Es war fast ein Wunder, dass niemand zu Tode gedrückt wurde, als der albanische Frachter Vlora am 8. August 1991 in den Hafen von Bari einlief. Die Behörden hätten es gern verhindert, doch der Kapitän weigerte sich, ein weiteres Mal abzudrehen, nachdem er in Brindisi bereits abgewiesen worden war. Dort waren in den Monaten zuvor Tausende albanischer Flüchtlinge in überfüllten kleinen Booten angekommen, auf der Suche nach einem besseren Leben, wie es ein Anwohner beschrieb.

    Ursache für den Exodus: katastrophale Lage in Albanien

    "Es war wie eine Heuschreckeninvasion. In jedem Winkel der Stadt hockten vier, fünf dieser armen Gestalten. Die Stadt war voll mit ihnen, mit ihrer Verzweiflung, ihrem Schmerz."
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    Einige Zeit lavierte die von Enver Hodscha am 11. Januar 1946 ausgerufene "Volksrepublik Albanien" zwischen Moskau und Belgrad. Dann etablierte der zunehmend paranoide Diktator ein Terrorregime eigener Art.
    Ursache für den Exodus war die katastrophale ökonomische Situation in Albanien. Das kommunistische Regime unter Enver Hoxha hatte das Land in eine Isolation geführt, die nur mit der Nordkoreas vergleichbar war. Nach seinem Tod 1985 und den Umstürzen in Osteuropa wenige Jahre später, führte sein Nachfolger Ramiz Alia zwar gewisse Lockerungen ein, doch die ersten freien Wahlen im März 1991 änderten kaum etwas. Die Kommunisten dominierten die Medien und die Infrastruktur des Wahlkampfes und gingen deshalb als Sieger aus der Parlamentswahl hervor.
    "Diese komplette Abschottung hat halt diesen inneren Druck bewirkt, mit der Armut, mit dem Zusammenbruch und der Perspektivlosigkeit, dass der Druck immer stärker wurde. Und diese Vlora, das ist eigentlich das Bild dieses Drucks, wie hoch der war, wie voll es dort am Hafen und auch auf dem Schiff war sozusagen, also dass Menschen Leib und Leben riskiert haben, um auf dieses Schiff zu kommen, es war ja augenscheinlich fast nicht mehr fahrtüchtig."

    Flüchtlinge zwangen Kapitän, mit Hilfsmotor in See zu stechen

    Die Vlora war eines von vier Frachtschiffen, die Albanien besaß, so der Südosteuropa-Experte Jochen Töpfer von der Freien Universität Berlin. Sie kam aus Kuba und hatte in der Hafenstadt Durrës ihre Ladung gelöscht. Der Motor war kaputt und sollte repariert werden, doch am Hafen hatten sich Tausende eingefunden – in der Hoffnung, mit einem Schiff in das nur gut 80 Kilometer entfernte Italien zu gelangen. Sie stürmten die Vlora und zwangen den Kapitän, mit dem Hilfsmotor in See zu stechen. Die meisten hatten den Untergang der Sowjetunion und den Fall der Berliner Mauer vor Augen und wussten, was sich im benachbarten Jugoslawien abspielte.
    "Das das war ja auch im Sommer 1991. 25. Juni 1991, Unabhängigkeitserklärung Slowenien, Kroatien, das war ja eigentlich ein entscheidendes Datum, und da hat man gesehen, alle haben eine progressive Aufbruchsstimmung, wollen was erreichen, erreichen etwas, und bei uns verharrt es. Die alten Eliten kleben an der Macht, aber die Einstellung der breiten Masse der Bevölkerung wird halt nicht wahrgenommen, sozusagen."
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    Auf italienischer Seite wurde die Unzufriedenheit der Albaner sehr wohl registriert – und zwar zunächst positiv. "Am Anfang waren die Flüchtlinge aus Albanien noch Helden, die aus einem Unrechtsstaat in die Freiheit strebten. Aber dann kamen so viele, dass sich diese Wahrnehmung schnell änderte. Statt positiv wurden sie nun negativ wahrgenommen. Das ist eine typische Kehrtwende bei starken Einwanderungswellen nach Italien."

    Soziologin: Medien prägten das Bild einer Masseninvasion

    Mitverantwortlich dafür waren die Medien, betont die Soziologin Laura Zanfrini: "Das Fernsehen zeigte von morgens bis abends diese Schiffe, die vor Menschen überquollen, und brannte den Italienern so das Bild einer Masseninvasion ins Gedächtnis."
    Die Politik unter Ministerpräsident Giulio Andreotti reagierte mit demonstrativer Härte. Die Flüchtlinge durften zunächst nicht von Bord gehen, dann wurden sie von der Polizei in ein Fußballstadion gebracht. Um ihr Ausbrechen zu verhindern, wurden die Tore geschlossen, Hubschrauber warfen Lebensmittelpakete ab. Ein paar hundert Migranten gelang dennoch die Flucht, doch die große Mehrheit wurde - gegen zum Teil erbitterten Widerstand - innerhalb weniger Tage mit Schiffen und Flugzeugen nach Albanien zurückgebracht.

    Politik der Abschreckung gilt bis heute

    "Man hatte ja Angst zu der Zeit auch, die westeuropäische Sicht, dass sich jetzt ganz Osteuropa öffnet und eine riesige, millionenfache Fluchtbewegung daraus wird. Also, wenn man jetzt sagt, wir lassen die rein und behandeln die gut, dass das Dimensionen annimmt, die man dann nicht mehr bewältigen kann."
    30 Jahre später hat sich an dieser Angst nicht viel geändert, und auch an der daraus resultierenden Politik der Abschreckung – nur, dass die Mehrheit der Flüchtlinge nicht mehr aus Osteuropa kommt, sondern aus dem Nahen und Mittleren Osten.