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Vor 40 Jahren
"Deutschland im Herbst" kam in die Kinos

Als der irrationale Terror der RAF auf seinem Höhepunkt 1977 die Bundesrepublik sechs Wochen lang in den Ausnahmezustand stürzte, versuchten namhafte deutsche Filmautoren Stellung zu den Ereignissen zu beziehen. So entstand das einmalige Zeitdokument "Deutschland im Herbst".

Von Hartmut Goege | 17.03.2018
    Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer wurde am 05.09.1977 in Köln von RAF-Mitgliedern entführt, drei Polizisten und der Fahrer starben bei der Geiselnahme. Schleyer wurde am 19.10.1977 im Kofferraum eines Autos in der elsäßischen Stadt Mühlhausen ermordet aufgefunden.
    Ikonisches Bild: Die Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer im Jahr 1977 endete mit dessen Mord durch die RAF (dpa)
    "Gütiger Vater, in deine Hände empfehlen wir deinen Diener Hanns-Martin Schleyer. Wir danken dir für alles Gute, mit dem du ihn in seinem irdischen Leben beschenkt hast."
    Mit den Szenen einer streng protokollierten Staats-Trauerfeier für Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer beginnt einer der ungewöhnlichsten Filme des deutschen Gegenwartkinos. Schleyer war aus Rache für die vergebliche Freipressung und die Selbstmorde der einsitzenden Stammheim-Terroristen von der RAF ermordet worden. Episodenförmig angelegt, entwickelt sich "Deutschland im Herbst" als eine wilde Mischung aus Dokumentaraufnahmen, Interviews, Spielszenen und kommentarlos eingebauten Bilder-Collagen über die deutsche Geschichte bis hin zu den Verbrechen der NS-Zeit. Ein Film, der die sich überschlagenden Ereignisse im Herbst 1977 unmittelbar auf dem Höhepunkt des RAF-Terrorismus zu hinterfragen versucht.
    "Hier ist das deutsche Fernsehen mit der Tagesschau. ... 5 Wochen nach der Ermordung des Bankiers Ponto … Linienmaschine der deutschen Lufthansa ist seit dem Nachmittag in der Gewalt von Entführern … Baader lag tot auf dem Zellenboden … Hanns Martin Schleyer heute Abend ermordet aufgefunden worden …"
    Eine Gegenöffentlichkeit schaffen
    Es war die schlimmste politische Krise seit Gründung der Bundesrepublik. Nur drei Tage nach der Auffindung von Schleyers Leiche trafen sich elf Filmschaffende des Neuen Deutschen Films. Die Gruppe um Alexander Kluge und Volker Schlöndorff wollte eine Gegenöffentlichkeit schaffen, um eine offene Diskussion zur gesellschaftlichen Lage in Gang zu bringen. Viele bekannte Künstler, wie Wolf Biermann oder Heinrich Böll, der Teile des Drehbuchs entwarf, engagierten sich. Denn eine Hysterie im Land griff um sich: Lehrer etwa wurden denunziert und angezeigt, wenn sie das Thema Terrorismus im Unterricht behandelten. Wer kritische Fragen stellte, galt als verdächtig, so wie Böll:
    "Es wird dauernd verlangt, dass man sich geistig mit dem Terrorismus auseinandersetzt. Das kann ja nicht darin bestehen, dass man nur dauernd seinen Abscheu äußert gegenüber dem Terrorismus."
    Die Springer-Presse stellte Böll an den Pranger und stempelte ihn als Terrorsympathisanten ab. Die Generation der 68er, die die verkrusteten Strukturen einer die NS-Zeit verdrängenden Gesellschaft erneuern wollte, geriet plötzlich unter Generalverdacht: Sie wurde mitverantwortlich gemacht auch für den irrationalen Terror der RAF-Kommandos. Wer sich als Linker nicht eindeutig für den Staat aussprach, war also gegen ihn. Diesen Automatismus wollten Schlöndorff und seine Regie-Kollegen aufbrechen:
    "Was kann man eigentlich sagen? Was, von dem, was ich sage, ist eigentlich schon staatsfeindlich? Da ist doch etwas geblieben, was dringend aufgearbeitet werden muss, wenn es nicht so eine permanente Vergiftung sein soll."
    Als "Deutschland im Herbst" am 17. März 1978, in die Kinos kam, war die Kritik gespalten. Einseitigkeit lautete ein Vorwurf. In einem Zeitungsinterview erklärte Alexander Kluge dazu:
    "Unsere Parteilichkeit geht nicht dahin, uns für den Terrorismus auszusprechen. Wir sind aber auch nicht auf Seiten der Obrigkeit, wir sind keine Richter, sondern Beobachter, die Unterschiede darstellen und diese Unterschiede in den Zusammenhang eines Films stellen."
    Eine politische und geistige Stimmungsbeschreibung
    Aus heutiger Sicht eine der authentischsten Szenen ist die Episode, in der Rainer Werner Fassbinder nachts am Küchentisch mit seiner Mutter über den Umgang mit Terroristen streitet:
    "Als der Pilot in Mogadischu erschossen worden ist, hast du gesagt, du möchtest gerne, dass für jeden, der da in Aden erschossen worden ist, ein Terrorist in Stammheim erschossen wird!" – "Ja, öffentlich!" – "Öffentlich, ja? Und das ist demokratisch!" – "In einer solchen Situation, da kannst du einfach nicht ankommen mit Demokratie!"
    Eingerahmt von Szenen der Beerdigungen Schleyers und der Terroristen, stellt der Film die Geschehnisse als ein kompliziertes Geflecht von Vergangenheit und Gegenwart dar und wird so zu einer politischen und geistigen Stimmungsbeschreibung dieser Zeit. Der Film-Kritiker Hans Christoph Blumenberg schrieb:
    "Er ist Ausdruck einer Erschütterung. Ein Dokument der Ratlosigkeit, aber ein authentisches Dokument: ungefiltert durch die von Selbstzensur und Proporz bestimmte Pseudo-Objektivität des Fernsehens."
    "Deutschland im Herbst" endet mit den stillen, nüchternen Beobachtungen der Friedhofsarbeiter, die die Gräber der Terroristen zuschaufeln, um später fast beiläufig in einer langen Einstellung eine junge Frau mit ihrer kleinen Tochter an der Hand zu begleiten, die die Beerdigungsszenerie langsam und scheinbar nachdenklich verlässt.
    "Was wird bloß aus unseren Träumen in diesem zerrissenen Land?"