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Vor 45 Jahren
Der "Radikalenerlass" wird verabschiedet

Als Rudi Dutschke im Jahr 1967 seine Anhänger dazu aufrief, ihr revolutionäres Potenzial in einem "langen Marsch durch die Institutionen" in die Gesellschaft zu tragen, erzeugte das bei einigen Entscheidern in Politik, Justiz und Verwaltung große Ängste. Die Folge: Der "Radikalerlass" vom 28. Januar 1972, der für einige einem Berufsverbot gleichkam.

Von Andreas Baum | 28.01.2017
    Schwarzweiß-Porträt von Rudi dutschke.
    Trotz des "Radikalenerlasses" gelang es zahlreichen LInken, Rudi Dutschkes Aufruf zum "Marsch durch die Institutionen" zu folgen und Postionen im Öffentlichen Dienst zu besetzen. (Imago / Lars Reimann)
    Als die Innenminister des Bundes und der Länder am 27. Januar 1972 zusammentrafen, um die sogenannten "Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im Öffentlichen Dienst" final zu diskutieren, taten sie dies nicht ohne Vorbild: In der Freien und Hansestadt Hamburg galt bereits eine Regelung, die zur Blaupause für den "Radikalenerlass" werden sollte. Der Hamburger SPD-Bürgermeister Peter Schulz wollte vor allem die Schulen von vermeintlichen Staatsfeinden frei halten.
    "Es genügt der ernsthafte Zweifel daran, dass der Bewerber sich für unsere demokratische Grundordnung einsetzt. Er hat, wenn Sie so wollen, die Beweislast."
    Am 28. Januar 1972 unterzeichnete Bundeskanzler Willy Brandt den "Radikalenerlass". Sein Anliegen war vor allem die Ostpolitik: 1968 war, nach zwölf Jahren Verbot, wieder eine Kommunistische Partei zugelassen worden, als Konzession an den Warschauer Pakt. Um zu verhindern, dass die DKP erneut verboten wurde, sollten zumindest ihre Anhänger keine Beamten werden dürfen. Vor allem aber war es der von Rudi Dutschke 1967 angekündigte "Lange Marsch durch die Institutionen", der den etablierten Politikern die Sorgenfalten auf die Stirn trieb. Unerkannt würden Achtundsechziger einflussreiche Positionen besetzen: Das war die Angst der Konservativen, unter ihnen der Soziologe Helmut Schelsky.
    "Bei ihrem Marsch durch die Institutionen besteht die Strategie der Linken darin, zuerst die Schlüsselpositionen außerhalb des Regierungsapparates zu besetzen, wie Universitäten und Lehrerausbildungsstätten. Sie haben eine bedeutende Anzahl von Studenten radikalisiert, die bereit sind, Widerstand gegen die verfassungsmäßige Ordnung zu leisten. Unser Staat kann sich aber verfassungsfeindliche Lehrer wegen ihrer Wirkung als Multiplikatoren nicht leisten."
    Das neue Feindbild
    "Linke Lehrer" wurden zum Feindbild der Union. Im Unterschied zu dem seit 1950 gültigen Extremistenbeschluss listete der neue Erlass keine verbotenen Organisationen auf. Um den Weg in den Öffentlichen Dienst zu versperren, genügten Ansichten und Verhaltensweisen. Für den Juristen und ehemaligen Vizepräsidenten der Freien Universität Berlin, Uwe Wesel, war der "Radikalenerlass" deshalb selbst verfassungswidrig.
    "Wir haben immer gesagt, das verstößt gegen das sogenannte Parteienprivileg des Artikels 21 des Grundgesetzes, in dem gesagt wird, dass eine Partei erst dann als verfassungswidrig angesehen werden kann, wenn das Bundesverfassungsgericht sie verboten hat. Dann hat man ein neues Wort erfunden und hat statt verfassungswidrig gesagt, diese Organisationen sind verfassungsfeindlich."
    Die Behörden mussten beim Bundesamt für Verfassungsschutz eine Regelanfrage für Bewerber stellen. In einzelnen Fällen genügte die Teilnahme an einer Demonstration oder eine Reise in die DDR, um Verdacht zu erregen. Den Bewerbern wurden Fragen zum Privatleben gestellt, zur Gesinnung von Freunden und ob sie Begriffe wie "Imperialismus" oder "Diktatur des Proletariats" benutzten. Dabei gingen die Prüfer so lange von der Schuld des Befragten aus, bis sie diese als widerlegt sahen.
    1,4 Millionen Menschen wurden überprüft, 1.100 von ihnen wurde der Eintritt in den Öffentlichen Dienst verwehrt. Weil Lokomotivführer, Briefträger und Lehrer außerhalb des Staatsdienstes keine Anstellung fanden, sprach man bald vom "Berufsverbot" - ein Wort, das seinen Weg in die Landessprachen anderer westeuropäischer Länder fand, wie Blitzkrieg, Panzer, Kindergarten und kaputt.
    "Der Radikalenerlass ist ein Wahnsinnsakt einer Demokratie, die sich ihrer eigenen Stärke offenbar nicht bewusst ist."
    Der Schriftsteller und spätere Literaturnobelpreisträger Günter Grass 1974.
    "Die Bundesrepublik verträgt ohne Weiteres drei bis viertausend kommunistische oder weiter links stehende Lehrer, Richter, was sie aber nicht erträgt, ist eine verbrämte Aufforderung zur Denunzierung."
    Der Aufstand der Betroffenen
    Was folgte, war ein Aufstand der Betroffenen. Es entstanden zahlreiche Kunstwerke, Theaterstücke und Bücher, die die Berufsverbote anprangerten. Peter Schneider, Schriftsteller und Wortführer der Studentenbewegung, wurde 1973 der Eintritt in den Schuldienst verwehrt. Der Radikalenerlass schuf Schneider zufolge erst die Staatsfeinde, gegen die er sich zu schützen vorgab.
    "Hätte man uns einfach als Angestellte genommen und die hätten sich bewährt, die Gesellschaft hätte uns viel schneller sozialisiert, wir hätten uns schneller mit unserem Widerspruch in der Gesellschaft eingefunden. Es wäre für alle besser gewesen."
    Ironischerweise gelang es getarnten und gut trainierten Kommunisten in Einzelfällen besser, die Prüfer auszutricksen, als unorganisierten Linken. Das Ende des "Radikalenerlasses" kam während der Kanzlerschaft Helmut Schmidts, den Anfang machte wieder Hamburg. Bürgermeister Hans-Ulrich Klose schlug vor, die Regelung abzuschaffen.
    "Sie können mich ja prügeln deswegen, aber ich stelle lieber 20 Kommunisten ein, als dass ich 200.000 junge Leute verunsichere."