"Der Preis hat mir geholfen, angesichts der grausamen Verfolgung nicht zerstört zu werden. Der Preis verschaffte meiner Stimme Gehör dort, wo meine Vorgänger Jahrzehnte lang nicht gehört und nicht verstanden wurden. Er half mir zu verwirklichen, was ich ohne ihn nicht geschafft hätte."
Es ist 1974. Vier Jahre sind bereits vergangen, seitdem der Schriftsteller Alexander Solschenizyn aus der damaligen Sowjetunion mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Doch erst die Ausweisung aus seiner Heimat machte es Solschenizyn möglich, nach Stockholm zu reisen, den Preis entgegenzunehmen und der Schwedischen Akademie zu danken:
"Ich wage, ihr auch im Namen des breiteren, nicht staatlichen Russlands zu danken, dem verboten ist, frei und laut zu sprechen. Das verfolgt wird, sowohl für das Schreiben als auch für das Lesen der freien Bücher."
Für die Wahrheit und die Freiheit
Trotz Verfolgung schreibt Alexander Solschenizyn - für die Wahrheit und die Freiheit. Sein Werk fesselt Millionen von Leserinnen und Lesern – auch international. Ein Großteil seiner Geschichten dreht sich um das Leben im Gulag – also in den Straflagern und Arbeitslagern der ehemaligen Sowjetunion. Solschenizyn saß selbst jahrelang im Lager – und verarbeitete die Erlebnisse unter anderem 1959 in der Erzählung "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch."
"Um fünf Uhr morgens erscholl wie immer der Weckruf. Ein Schlag mit dem Hammer auf eine Eisenschiene an der Stabsbaracke. Schwach drang der unterbrochene Ton durch die zwei Finger dick gefrorenen Scheiben und verstummt bald wieder; es war kalt, und dem Posten verging die Lust am Schlagen. Der Ton war verklungen, und hinter dem Fenster war alles so wie in der Nacht, als Schuchow die Stubenlatrine aufsuchte; duster und finster."
Lebendig, glaubwürdig, in schlichter Alltagsdiktion verfasst, dabei prägnant und voller innerer Kraft – so rühmt der damalige Chefredakteur der Literatur-Zeitschrift "Nowy Mir", "Neue Welt", Alexander Twardowski, die rund 100 Seiten umfassende Schilderung eines gewöhnlichen Tages in einem sibirischen Straflager.
Die Erstausgabe ist sofort ausverkauft
Twardowski kämpft, dass die Erzählung erscheinen darf. 1962, gut drei Jahre nach ihrer Entstehung, ist es so weit. In der Sowjetunion herrscht Tauwetter. 1953 war der langjährige Diktator Josef Stalin gestorben. Nikita Chruschtschow wurde Erster Sekretär der Kommunistischen Partei und später Regierungschef. Ihm liegt Twardowski immer wieder in den Ohren. Das Manuskript über den Häftlingsalltag vom Wecken bis zum Zapfenstreich wühlt den Journalisten und Dichter Twardowksi auf. Er hält es für ein Kunstwerk von ganz besonderem Wert:
"Der Solschenizyns Erzählung zugrundeliegende, aus dem Leben gegriffene Stoff ist in der Sowjetliteratur ungewohnt. In ihm spiegeln sich jene Erscheinungen in unserer Entwicklung, die mit der von der Partei schonungslos bloßgelegten und verurteilten Periode des Personenkults in Zusammenhang stehen, die uns als ferne Vergangenheit erscheint. Die Gewähr für einen vollständigen und endgültigen Bruch mit all jenem in der Vergangenheit, was sie verdüstert hat, liegt darin, dass wir ihre Folgen bis zum Letzten ergründen."
Die fast 100.000 Exemplare der Erstausgabe sind sofort ausverkauft. Man wähnt Solschenizyn unter dem Schutz von Chruschtschow. Die Rezensionen fallen positiv aus. Die heutige Moskauer Historikerin und Germanistin Irina Scherbakowa, deren Vater bei der "Literaturnaja Gazeta" arbeitete, erinnert sich, wie in jenen Jahren die Schriftstellergrößen in ihrem Elternhaus ein- und ausgingen. Die Lager seien in aller Munde gewesen, doch man sprach immer bloß im Flüsterton über sie, und nur daheim am Küchentisch.
"Schon ab Mitte der 50er-Jahre sind die Menschen zurückgekommen aus den Lagern. Also in der Tauwetterzeit gab es verschiedene Zeichen, dass das Thema aus der Geheimhaltung irgendwie in der Gesellschaft doch nach oben kommt."
Kälte, Hunger, Krankheiten, harte Arbeit
Mindestens 18 Millionen Menschen waren von 1930 bis 1953 inhaftiert, oft waren es rund 2,5 Millionen Menschen pro Jahr. Die Häftlinge litten unter Kälte, Hunger, Krankheiten, katastrophalen sanitären Bedingungen und unmenschlich schwerer Arbeit. Fast drei Millionen starben. In den 1950er-Jahren, nach Stalins Tod, werden die ersten Lagergeschichten veröffentlicht, allerdings von nach wie vor Partei treuen Ex-Sträflingen, die ihre Erzählungen schönen.
"Das waren sozusagen die Halbwahrheiten, die man der Gesellschaft präsentiert hat. Solschenizyn ist eine Zäsur, weil, das war die Geschichte eines absolut einfachen, wie das damals hieß, sowjetischen Menschen. Dieser Alltag im Lager, das schon Millionen Menschen in ihrem eigenen Schicksal erlebt haben."
"Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" schildert den Lageralltag ungeschminkt, präzise, in einem fast beiläufigen Ton, gut verständlich für ein breites Publikum. Es ist ein schmales Büchlein. Acht Jahre nach seinem Erscheinen wird dem Autor, einem ehemaligen Physiklehrer, der Nobelpreis zuerkannt. 1970. Da ist das Tauwetter längst vorbei, Solschenizyn in Ungnade gefallen.
Mit dem Sturz Chruschtschows und dem Beginn der Breschnew-Ära werden Solschenizyns nachfolgende Texte stets verrissen. Schließlich erscheint gar keiner mehr, Solschenizyn wird aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, gilt als Verräter. Eine Parallele zur Stalin-Zeit. 1945 war er, der im Zweiten Weltkrieg an der Front diente, zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Wegen angeblich abfälliger Äußerungen in seinen Feldpostbriefen über den Diktator. Alexander Solschenizyn, zum Zeitpunkt der Auszeichnung mit dem Nobelpreis Anfang 50, hatte sich erst seit dem Publikationserfolg seines Debüts ganz für das Schreiben entschieden.
"Er muss ins Schwarze getroffen haben"
Die Reise zur Schwedischen Akademie nach Stockholm wagt er nicht, aus Angst, nicht mehr in sein Heimatland zurückkehren zu dürfen, in dem der Autor inzwischen mit Verachtung und übler Nachrede überzogen wird. Fedor Poljakov erlebte diese Zeit als Kind in der Sowjetunion. Der Experte für russische und ostslawische Literatur an der Universität Wien sieht Parallelen zu anderen sowjetischen Dissidenten.
"Er war ein verfemter und verleugneter Schriftsteller und man hat genau gesehen, wie er ins Schwarze getroffen haben muss. Wie diese Intensität war, der Polemik und der Hetze, die dann in den Zeitungen und im Radio zu hören waren. Und die Erwachsenen haben das immer mit Pasternak verglichen. Aber es war auch dann später im Vergleich zu den Reaktionen auf Andrej Sacharow vergleichbar. Der war mit ähnlicher Hysterie konfrontiert."
Boris Pasternak hatte 1958 den Nobelpreis abgelehnt - aus Angst um sein Leben. Sein Roman "Doktor Schiwago" war im Ausland erschienen und von den sowjetischen Behörden als revolutionskritisch aufgefasst worden. Fedor Poljakov erklärt, warum er die Entscheidung der Schwedischen Akademie vor 50 Jahren, Solschenizyn auszuzeichnen, für besonders bemerkenswert hält.
"Seine Methode erinnert in vielem an Lew Tolstoi. Die Rekonstruktion der Geschichte mit literarischen Mitteln. Und da wollte er eigentlich auch als Schriftsteller wahrgenommen werden, sodass er das nicht nur als historische Zeugnisse, sondern als seine Entdeckungsreise gestaltete. Dennoch war das praktische Material dort so, dass keine Widerlegung gelang, auch als sich die offiziellen Seiten damit befasst haben."
Da Solschenizyn nicht wagt auszureisen, will ihm das Nobelpreiskomitee die Auszeichnung nach Moskau bringen, doch der Gesandte bekommt von den sowjetischen Behörden kein Einreisevisum.
Vom KGB vergiftet
Wenige Monate später wird der international geehrte Autor vom KGB mit einer Spritze Rizin vergiftet und ist monatelang krank. Auch seine Bücher zu lesen war längst wieder gefährlich geworden, sagt Fedor Poljakov vom Institut für Slawistik der Universität Wien.
"Ich erinnere mich noch an eine Episode, wie mein Freund und ich – damals zwölf und 13 Jahre alt, wie wir in einem Aufzug fuhren. Und in demselben Aufzug waren der Dramatiker Alexej Arbusow und zwei Damen. Und sie redeten und lachten, und mein Freund stellte mir unvermittelt die Frage: 'Wie stehst du eigentlich zu Solschenizyn?' Und ich erinnere mich an diese Stille, die dort im Aufzug ausgebrochen ist. Also diese Leute, die soeben gesprochen haben, waren wie ganz Fremde in einem Raum zusammen."
Die Erzählung "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" ermutigt viele Menschen, Solschenizyn von ihren eigenen Lagererfahrungen zu berichten. Ihre Briefe fließen ein in die Recherchen für sein Buch "Archipel Gulag" über das System der Straflager in der UdSSR, auf dem das staatlich organisierte Unrecht aufgebaut war. Anhand vieler Einzelschicksale entsteht ein Bild des sowjetischen Überwachungsstaates, der an erster Stelle mit Terror und Angst regiert.
Irina Scherbakowas Mutter gehört zu dem engen Kreis, der für den Schriftsteller im Untergrund arbeitet. Tochter Irina hat somit Zugang zu noch unveröffentlichten Büchern. "Archipel Gulag" liest sie als Samisdat-Ausgabe, als konspirativ kopierte Abschrift, die heimlich von Hand zu Hand wandert.
"Das war eine unglaubliche Kostbarkeit und eigentlich das gefährlichste Manuskript, das im Lande überhaupt kursierte. Es kostete auch einige Menschen die Freiheit, wenn man sie dabei erwischt hat. Meine Mutter hat einige Exemplare, das war Winter 73, geschmuggelt. Auf irrsinnigen Wegen. Und ich bekam für 48 Stunden das Buch und habe diesen "Archipel Gulag" zwei Tage lang durchgelesen. Und es war schon eine große Warteschlange."
"Archipel Gulag" kostet Solschenizyn die Heimat
"Archipel Gulag" wird Solschenizyns Hauptwerk. Kurz nachdem es in Frankreich auf Russisch erscheint, wird Alexander Solschenizyn 1974 wegen angeblichen Verrats seiner Heimat verhaftet. Er verliert seine Staatsbürgerschaft und wird des Landes verwiesen. Es hätte sogar noch weit schlimmer für ihn ausgehen können, meint der Literatur-Professor Poljakov.
"Das hatte ihm vermutlich das Leben gerettet, dass er bereits so eine internationale Anerkennung erhalten hat. Er wurde durch sein Werk so bekannt, weil eine systematische Darstellung geboten wurde. Nicht nur seine eigene Erfahrung wurde darin verarbeitet, sondern sehr viele Zeugen wurden darin aufgenommen und ihre Erfahrungen wiederum dargestellt. So hatte sein Werk eine ganz andere, tiefgehende Wirkung."
Solschenizyn wird nach Deutschland abgeschoben, wo ihn sein Freund Heinrich Böll aufnimmt, der zwei Jahre zuvor den Literaturnobelpreis erhalten hat. Im Dezember 1974 tritt Alexander Solschenizyn die Reise nach Stockholm an, um mit vierjähriger Verspätung seinen Literaturnobelpreis entgegenzunehmen.
"Ihre Majestät, Königliche Hoheiten, Damen und Herren, die Schwedische Akademie machte bei mir eine ziemlich seltene Ausnahme. Sie verlieh mir die Auszeichnung im mittleren Lebensalter, und was mich als Schriftsteller angeht, sogar im Kindesalter. Bereits nach acht Jahren meiner öffentlichen Schriftstellertätigkeit. Das war für die Schwedische Akademie ein Risiko. Der größte Teil meiner schon geschriebenen Bücher war vor vier Jahren noch nicht erschienen."
"Schweigende Generationen werden alt und sterben"
Laut Reglement sollen alle Nobelpreis-Geehrten einen Vortrag halten. Solschenizyn kann dem nicht nachkommen, hat ihn aber vorbereitet. Er wäre im Ton sehr viel pessimistischer ausgefallen als seine Rede vier Jahre später, denn in dem alten Text-Entwurf heißt es.
"Schweigende Generationen werden alt und sterben, ohne jemals über sich gesprochen zu haben, weder untereinander noch zu ihren Nachkommen. Wenn solche Meister wie (Anna) Achmatowa und (Jewgenij) Samjatin — ihr Leben lang lebend eingemauert — dazu verurteilt sind, in Schweigen zu schaffen bis zum Grab, ohne das Echo des von ihnen Geschriebenen zu hören — dann ist dies nicht nur ihr persönliches Elend, sondern das Weh der ganzen Nation."
1974 schlägt er leichtere Töne an.
"Ich sehe jetzt sogar einige Vorteile darin, auf den Nobelpreis erst mit einigen Jahren Verspätung zu antworten. Nach vier Jahren kann man erkennen, welche Rolle dieser Preis im Leben eines Menschen schon gespielt hat. In meinem eine große. Der Preis hat mir geholfen, angesichts der grausamen Verfolgung nicht zerstört zu werden. (…) Der Schwedischen Akademie wurden viele Vorwürfe gemacht, dass ihre damalige Entscheidung von politischen Interessen geleitet sei. Das riefen aber ausgerechnet die heiseren Kehlen, die selbst keine anderen Interessen als politische kennen."
Von 1976 an lebt Solschenizyn in den USA. Zurückgezogen auf einer Farm bei Cavendish im Bundesstaat Vermont setzt er sein begonnenes Mammutwerk über die russischen Revolutionen fort. "Das rote Rad", so der Titel, ist angelegt auf zehn Bände, von denen drei erscheinen. Als die Berliner Mauer fällt, die Sowjetunion zerbricht, stellt er die Arbeit am "Roten Rad" ein.
In Putin getäuscht
Nach 20 Jahren Exil kehrt er 1994 in sein Heimatland zurück, das nun nicht mehr Sowjetunion, sondern Russische Föderation heißt. Solschenizyn nannte es auch zu kommunistischen Zeiten oft einfach nur Russland. Seine Bürgerrechte hat er vier Jahre zuvor von Präsident Michail Gorbatschow zurückbekommen. Im Jahr 2001 macht er wieder mit einem Buch auf sich aufmerksam. In "Zweihundert Jahre zusammen", so der Titel, schildert er die jüdisch-russische Geschichte. Das zweibändige Werk bringt ihm den Vorwurf ein, antisemitisch zu sein, was die Kritiker an Solschenizyns Behauptung festmachten, bei den Bolschewiken seien Juden überproportional stark vertreten gewesen. Für die Historikerin Irina Scherbakowa überwiegen ungeachtet dieser Kritik Solschenizyns Verdienste.
"Er hat eine sehr große Rolle gespielt, spielt sie nach wie vor in der russischen Aufarbeitungsgeschichte, was Stalinismus anbetrifft, und nicht nur Stalinismus. Ich glaube, seine Suche, nach einem sogenannten russischen Weg, hat ihn schon viel, viel früher, schon in den 70er und in den 80er-Jahren und in seiner Emigration zu einem Konservatismus und Antiliberalismus geführt."
Mit Präsident Wladimir Putin hat sich Alexander Solschenizyn bis zu seinem Tod 2008 mehrfach getroffen, er achtete ihn sehr, schätzte ihn allerdings nicht immer richtig ein.
"Der Präsident geht mit einer ungewöhnlichen Umsicht und Ausgewogenheit bei seinem Urteil und bei seinen Entscheidungen zu Werke. Überhaupt hat er einen wachen Verstand und eine schnelle Auffassungsgabe. Er hat keinerlei persönlichen Hunger nach Macht, er hält an ihr nicht fest."
Anlässlich des 100. Geburtstages rief Putin 2018 ein Solschenizyn-Jahr aus. Bereits zehn Jahre zuvor wies der damalige Premier Putin an, den "Archipel Gulag" in die Schullektüre aufzunehmen.
"Putin war in seinen Augen derjenige, der dieses Land zusammenhalten will. Und das war eine große große Täuschung. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er schon wieder angegriffen wird. Dass seine Werke und auch oft seine Frau, seine Witwe, Natalja Solschenizyna, angegriffen werden. Also von den Stalinisten. Wenn es weiter so läuft, wird auch 'Archipel Gulag' wieder schon zu einem fast verbotenen Buch."
Die Aufarbeitung der sowjetischen Verbrechen wird wieder schwieriger im heutigen Russland. Als sich die Schwedischen Akademie vor 50 Jahren entschied, Alexander Solschenizyn mit dem Literaturnobelpreis zu ehren, hat sie dessen Bemühen darum gewürdigt. Sein Werk prägte Generationen von Lesern. Viele seiner Anhänger sind überzeugt, dass er das Ende des Kommunismus maßgeblich beschleunigt hat.