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Vor 60 Jahren
Der Volksaufstand in Ungarn beginnt

Das Jahr 1956 schien eine Liberalisierung im Ostblock einzuläuten. Das sogenannte "Tauwetter" setzte Entwicklungen in Gang, die den Sowjets nicht genehm waren. Zu den tragischsten Kapiteln der Freiheitsbestrebungen im östlichen Europa gehört der Volksaufstand in Ungarn 1956.

Von Doris Liebermann | 23.10.2016
    Der Kopf eines gestürzten Stalin-Denkmals auf der Straße. Am 23. Oktober 1956 fielen bei einer zunächst friedlichen Kundgebung in Budapest erste Schüsse. Arbeiter, Studenten und Jugendliche bewaffneten sich und nahmen den Kampf gegen die einrückenden sowjetischen Truppen auf.
    Die friedliche Großdemonstration von Studenten, Arbeitern, Intellektuellen und Künstlern wuchs zu einer revolutionären Bewegung an. (picture-alliance / dpa / UPI)
    Budapest, am späten Abend des 23. Oktober 1956. Aufgebrachte Menschen haben das Stalin-Denkmal gestürzt. Sie hoffen, dass es ein für alle Mal vorbei ist mit der stalinistischen Ära in Ungarn, das am Ende des Zweiten Weltkrieges in den sowjetischen Machtbereich gelangt war. Im Februar 1956 hatte Nikita Chrustschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU in Moskau seine berühmte "Geheimrede" gehalten und mit den Verbrechen der Stalin-Zeit abgerechnet. Danach war der frühere ungarische Innen- und Außenminister László Rajk rehabilitiert worden. Rajk war 1949 als vermeintlicher "imperialistischer Agent" zum Tode verurteilt und hingerichtet worden.
    "Zuerst haben wir vorgeschlagen, dass wir nicht nur Russisch lernen, sondern auch westliche Sprachen, dass man Marxismus-Leninismus als Schulfach ein bisschen reduzieren muss … und so ging das ein Schritt nach dem anderen."
    Mátyás Gödrös, Arzt, Dokumentarfilmer und Autor, war damals Student in Budapest. Am 23. Oktober nahm er morgens um zehn Uhr an einer studentischen Versammlung an der Hochschule teil.
    Hoffnung auf demokratische Veränderungen
    "Und etwa um halb zwölf hat schon die ganze Universität skandiert: 'Russen raus'. Also eine äußerst radikale Forderung ... Genau da passierte es, dass die Arbeiterschaft aus dem roten Csepel, das ist eine Vorstadt – Eisenwerke -, beschlossen hat, eine Demonstration durchzuführen."
    Die friedliche Großdemonstration von Studenten, Arbeitern, Intellektuellen und Künstlern wuchs zu einer revolutionären Bewegung an, die dreizehn Tage lang von der Hoffnung auf demokratische Veränderungen getragen wurde.
    Als die Regierung am Abend in die Menge schießen ließ, brach der bewaffnete Kampf aus. Teile der Armee und der Polizei schlossen sich den Aufständischen an.
    "Die Straßen sind voll von Menschen, die Wachen der Revolutionskomitees sprechen auch immer mit bewaffneten Milizsoldaten, auf den Bürgersteigen lang, auf den zerstörten Boulevards."
    Nagy verkündete das Ende der Ein-Parteien-Herrschaft
    In der Nacht zum 24. Oktober wurde Imre Nagy auf den Druck der Menge hin vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei - der Partei der Ungarischen Werktätigen - wieder zum Ministerpräsidenten ernannt. Er war im Vorjahr aus diesem Amt entfernt und aus der Partei ausgeschlossen worden.
    "Nagy erscheint, winkt mit dem Hut, tritt an das Mikrofon ..."
    "Wir dulden überhaupt keine Einmischung in die ungarischen internen Angelegenheiten."
    Am 30. Oktober verkündete Nagy das Ende der Ein-Parteien-Herrschaft. Am 1. November beschloss sein Kabinett den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt und bat die Vereinten Nationen um Anerkennung als neutraler Staat. Moskau antwortete darauf mit der Operation "Wirbelsturm".
    60.000 Soldaten und hunderte sowjetische Panzer rückten in das Land ein und schlugen den Aufstand blutig nieder. Ministerpräsident Imre Nagy appellierte in mehreren Sprachen an die Weltöffentlichkeit.
    Aufständische leisteten verzweifelten Widerstand
    "Hier spricht Imre Nagy, Ministerpräsident der Ungarischen Volksrepublik. Heute Morgen haben die sowjetischen Truppen die Hauptstadt angegriffen mit dem offensichtlichen Zwecke, die gesetzliche Regierung Ungarns zu stürzen."
    Am 4. November begann frühmorgens der Sturm auf Budapest. Zehn- bis fünfzehntausend Aufständische leisteten verzweifelten Widerstand. Gegen die sowjetischen Panzer hatten sie keine Chance, und vergeblich hofften sie auf die militärische Hilfe des Westens.
    Bei den Kämpfen, die in Budapest eine Woche, in manchen Ortschaften aber länger dauerten, starben mehr als 2.600 Ungarn - und 669 sowjetische Soldaten. Bereits am 4. November setzten die Sowjets eine neue Regierung unter János Kádár ein.
    Nach der Niederschlagung des Aufstandes flüchteten etwa 200.000 Ungarn aus Angst vor Verfolgung und Verhaftung in den Westen. Auch der damals 19-jährige Matyas Gödrös.
    Mindestens 229 Aufständische wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Nach einem Geheimprozess wurden auch der von den Sowjets verschleppte Imre Nagy hingerichtet und in einem Massengrab beigesetzt. Erst im Juni 1989 erhielt er ein Ehrengrab.