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Vor dem EU-Gipfel
"Die EU ist so gefährdet wie noch nie"

Der Vorsitzende der Europäischen Linken, Gregor Gysi, warnte im Deutschlandfunk vor einem Zerfall der Europäischen Union. Die EU sei so gefährdet wie noch nie. In sechs Mitgliedstaaten sagten die Menschen schon nicht mehr "Ja" zu Europa. Allein schon wegen der Jugend müsse die EU gerettet werden, betonte Gysi.

Gregor Gysi im Gespräch mit Sandra Schulz | 09.03.2017
    Der Linken-Politiker Gregor Gysi spricht am 1.10.2015 im Bundestag.
    Der Linken-Politiker Gregor Gysi (dpa / picture-alliance / Michael Kappeler)
    Sandra Schulz: Konzentrische Kreise haben denselben Mittelpunkt, aber unterschiedliche Radien, sind also unterschiedlich groß, und diese mathematische Figur bemüht EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ja, um seine Vorstellungen für die Zukunft des Bündnisses zu skizzieren. Oder wirken in der Europäischen Union im Jahr 2017, 60 Jahre nach Abschluss der Römischen Verträge, heute eher Zentrifugalkräfte, die alles auseinandertreiben? Eine Frage, die so auf keiner Gliederung steht, aber doch auch diesen EU-Gipfel überschattet. Zwei Gipfeltage sind es, heute ein Treffen aller 28 Staats- und Regierungschefs, morgen informell ohne die britische Premierministerin Theresa May. Und gleich zu Beginn steht ein kalkulierter Eklat an. Am Telefon begrüße ich Gregor Gysi, Bundestagsabgeordneter der Partei Die Linke und seit September Vorsitzender der Europäischen Linken. Schönen guten Morgen.
    Gregor Gysi: Einen schönen guten Morgen, Frau Schulz.
    Schulz: Jetzt steht gleich für den Auftakt dieser Affront an. Die polnische Regierung will den Polen Tusk nicht als EU-Ratspräsidenten verlängern. Verbunden ist das mit dem Vorwurf, Tusk sei eigentlich ein deutscher Kandidat. Ist das eine Anekdote, oder sagt das was über den Zustand der EU?
    Gysi: Na ja, das sagt schon etwas über den Zustand der EU. Die polnische Regierung hat ja zum Beispiel die Rechte der Medien eingeschränkt, die Rechte des Verfassungsgerichts eingeschränkt. Dagegen hat die EU protestiert, wurde ja auch von Tusk noch etwas dabei unterstützt, und das finden die nun wiederum eine Unverschämtheit und wollen sich das nicht bieten lassen. Man darf immer eins nicht unterschätzen: Rechte machen alles, was sie ankündigen. Ich meine jetzt nicht Konservative, sondern Leute, die rechts davon stehen. Das sehen wir an Ungarn, das sehen wir genauso in Polen, das sehen wir aber auch in einigen skandinavischen Ländern, und das macht mir schon Sorgen. Die sind dann eben stur und das ist ja dann auch egal der Ministerpräsidentin, ob sie jetzt verliert oder nicht verliert. Und möglicherweise kommt ja das, was gerade der Kommentator gesagt hat, dass man dafür wiederum schweigt zum Verfassungsgericht oder schweigt zu den Medien und das herauskommt, wenn dann doch Tusk bestätigt wird. Ich halte ja von solchen Deals, ehrlich gesagt, ziemlich wenig.
    "Frage bei Freihandelsabkommen ist, wird Rechtsstaat ausgehöhlt oder nicht"
    Schulz: Okay, werden wir beobachten. Es sind heute die Wirtschaftsthemen, die rein offiziell gesehen im Mittelpunkt stehen. Da will die EU eine deutliche Botschaft nach Washington schicken, will eine Antwort geben auf die protektionistischen Tendenzen von Donald Trump und sagen, gut, dann treiben wir andere Freihandelsabkommen voran, und offenbar klappt das ja auch ganz gut bei den Verhandlungen um ein Freihandelsabkommen mit Japan. Da heißt es, da werde mit einem baldigen Abschluss gerechnet. Gibt es da dann wieder so empörte Proteste wie gegen TTIP und CETA, was wir gesehen haben?
    Gysi: Das kann sein, das muss bei Japan nicht der Fall sein. Noch schwieriger wird es, wenn es jemals Verhandlungen mit China diesbezüglich gibt. Es ist ja immer die Frage, wird der Rechtsstaat ausgehöhlt oder nicht ausgehöhlt, gibt es unterschiedliches Recht dann für deutsche und japanische Unternehmen, oder gibt es das nicht, werden Verbraucherschutzregeln aufgeweicht oder nicht aufgeweicht. Das Problem ist immer, wenn ich sage, ich nehme Produkte eines anderen Landes so wie sie sind und dort gelten ganz andere Regeln als bei uns, dann werden unsere Regeln aufgeweicht, weil natürlich unsere Unternehmen dann auch zurecht sagen, Moment mal, wir haben hier Anforderungen und die japanischen Unternehmen haben sie nicht. Das weiß ich nicht. Das hängt dann von dem Text ab, da muss man sich dann den Vertrag sehr genau ansehen. Aber es gibt tiefe Bedenken dagegen.
    Schulz: Ja, Herr Gysi. Aber die Verhandlungen, die scheinen, ja jetzt schon recht weit fortgeschritten zu sein. Wie kommt es denn, dass wir bisher überhaupt noch keinen Protest gesehen haben? Ist es so, wie Sie sagen, dass es wirklich vollkommen offen ist, ob Japan ein Land mit strengen Umweltvorschriften ist, das Land von Fukushima?
    Gysi: Ja. Das kann daran liegen, dass es dort auch strenge innere Vorschriften gibt, auch was den Verbraucherschutz betrifft. Zweitens hat man nicht die Erfahrung mit japanischen Produkten, die man mit Produkten aus den USA hat. Bei Kanada hatte man auch andere Erfahrungen. Damit kann das zusammenhängen. Außerdem ist so ein Widerstand gelegentlich mal aufgebraucht. Weil man jetzt davon ausgeht, dass TTIP möglicherweise nicht kommt, weil ja auch Trump TTIP nicht will, sagt man sich, na gut, das mit Japan nehmen wir noch irgendwie hin, das werden wir schon noch durchstehen. Es kann auch solche Überlegungen geben. Wissen Sie, es ist immer so schwer einzuschätzen, wann es in einer Gesellschaft wirklich rumort und wann nicht. Ich habe das bei TTIP gut verstanden, aber ich verstehe auch, dass man jetzt nicht bei jedem Freihandelsabkommen versucht, dagegen vorzugehen. Es gibt ja schon ganz viele, wobei natürlich bei denen mit Afrika das immer so ist, dass die afrikanischen Staaten benachteiligt werden, nicht die europäischen, und es wird Zeit, dass wir darüber uns auch mal Gedanken machen.
    Schulz: Okay. Jetzt müssen die Staats- und Regierungschefs sich heute beugen über die Vorbereitungen des Gipfels, der Ende März ansteht. Da soll der Unterzeichnung der Römischen Verträge gedacht werden. Es wird da natürlich viel in die Vergangenheit geschaut werden. Aber die Europäische Union muss ja auch verschärft darüber nachdenken, wie die Zukunft aussieht. Da hat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker jetzt diese fünf Szenarien unterschiedlicher Intensität der Zusammenarbeit entworfen. Welche Perspektive sehen Sie?
    Gysi: Ich glaube, dass die Europäische Union so gefährdet ist, wie sie noch nie gefährdet war, und obwohl ich sie für unsolidarisch, unsozial, undemokratisch, ökologisch nicht nachhaltig, intransparent und nun zunehmend auch noch militärisch halte, was ich alles kritisiere, sage ich, wir müssen sie retten. Dafür gibt es viele Gründe. Unsere Jugend ist europäisch, die kann sich den alten Nationalstaat mit Pass und Grenzbaum gar nicht mehr vorstellen. Jetzt stellen Sie sich mal vor, es gibt irgendeinen Konflikt; dann braucht man wieder ein Visum für Frankreich. Das ist ja für die gar nicht mehr machbar. Die arbeiten mal dort, sie studieren mal dort und so weiter. Das wäre so ein Rückschritt für die Jugend, dass ich glaube, dass man es schon deshalb verhindern muss.
    "Linke muss ein Faktor werden gegen die Rechtsentwicklung in Europa"
    Schulz: Wie will Die Linke das denn machen, die Europäische Union retten? Die Linke, die im Moment im öffentlichen Diskurs quasi gar keine Rolle spielt?
    Gysi: Na ja, das ist mit der Grund dafür, dass ich mich entschieden habe, Präsident der europäischen Linken zu werden, weil ich denke, wir müssen ein Faktor werden, zum Beispiel gegen die Rechtsentwicklung in Europa. Und wenn wir dieser Faktor sind, dann schätzt uns auch die Mitte, weil es plötzlich ein Gegenüber gibt. Dafür müssen wir uns stärken. Da müssen wir ein paar innere Strukturen verändern. Wir müssen wahrgenommen werden. Ich war bei Martin Schulz, ich bin in Kürze bei Herrn Juncker, ich bin dann auch bei Herrn Draghi. Ich werde mit ihnen allen (auch noch bei anderen) darüber sprechen, wie der Zustand der EU ist. Und wenn wir einfach so weitermachen, auch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, dass man sagt, wir nehmen ein Stückchen Europa so weit mit, den Rest nehmen wir nicht mit etc., dass dann der Zerfallsprozess möglicherweise sogar beschleunigt wird, und das ist gar nicht gut. Vielleicht hätte man einige Länder nicht so schnell aufnehmen müssen, aber nun hat man sie aufgenommen und jetzt müssen wir auch den Weg versuchen, gemeinsam zu gehen.
    Ich bin folgender Meinung: Die Mehrheiten der Bevölkerung in allen Mitgliedsländern müssen Ja zur EU sagen, und ich glaube, es gibt jetzt schon sechs Länder, wo die nicht mehr Ja sagten, und das ist überhaupt nicht in Ordnung. Dagegen muss man was machen. Zum Beispiel müssen wir den Süden anders behandeln. Statt Abbau, Abbau, Abbau, immer wieder, endlich Aufbau. Portugal hat bewiesen, dass es mit Aufbau geht. Also brauchen wir diesen Weg auch für Spanien, wir brauchen diesen Weg auch für Griechenland. Dann müssen wir demokratischer werden. Ich nenne Ihnen mal ein Beispiel.
    Schulz: Herr Gysi, bevor Sie jetzt in den Vortragsmodus abdriften, die letzte Chance für mich, noch eine Frage zu stellen, obwohl die Zeit langsam knapp wird. Sie haben die Entwicklungen ja skizziert. Aber die Frage, woran es liegt, dass Die Linke da nicht gehört wird, obwohl Sie, Gregor Gysi, ja nun schon lange Politik machen, die haben Sie nicht beantwortet.
    Gysi: Na ja, ich bin ja erst im Dezember gewählt worden. Es liegt einfach daran, dass es schlechte Erfahrungen aus der Vergangenheit gibt. Deshalb gibt es dort das Prinzip, dass man alles in Übereinstimmung erklären muss. Das ist natürlich nicht leicht, wenn es so viele unterschiedliche Auffassungen gibt. Aber sie akzeptieren jetzt meine Reise, sie akzeptieren, dass ich solche Wege gehe. Das ist das Entscheidende und deshalb glaube ich schon, dass wir strukturell gestärkt werden und unseren, wenn auch bescheidenen Beitrag leisten, um die EU deutlich zu verändern, aber eben doch zu retten. Beides müssen wir hinkriegen.
    Schulz: Gregor Gysi, Präsident der europäischen Linken und nach wie vor auch Bundestagsabgeordneter der Partei Die Linke, heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk im Interview. Ganz herzlichen Dank Ihnen.
    Gysi: Bitte schön, Frau Schulz.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.