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Vor Ende des Lübcke-Prozesses
Ein Urteil und viele offene Fragen

Im Juni 2019 wurde der hessische CDU-Politiker Walter Lübcke erschossen. Der Rechtsextremist Stephan E. hat die Tat gestanden und könnte dafür lebenslang ins Gefängnis kommen. Trotzdem sind viele Fragen noch immer ungeklärt – sie beschäftigen jetzt die Politik.

Von Ludger Fittkau | 25.01.2021
Ein Schwarz-weiß-Portrait des ermordeten Walter Lübcke, CDU, Regierungspräsident von Kassel, am 26.09.2020 beim Landesparteitag der CDU in Willingen, Hessen
Im Prozess um die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten und CDU-Politikers Walter Lübcke ist am 28.1.21 ein Urteil gesprochen worden (IMAGO / Hartenfelser)
Frankfurt am Main – das Justizviertel in der Innenstadt, Mitte Januar dieses Jahres. Es ist kurz vor zehn Uhr morgens, alle Plätze im größten Gerichtssaal, der dem Oberlandesgericht der Mainmetropole zur Verfügung steht, sind wie immer besetzt.
Bisher haben hier unter Corona-Bedingungen mehr als 40 Verhandlungstage im Prozess zur Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) stattgefunden. An diesem Donnerstag (28.01.20) soll nun voraussichtlich das Urteil gesprochen werden.

Bundesanwaltschaft will Höchststrafe

Die Bundesanwaltschaft fordert für den Hauptverdächtigen Stephan E. die Höchststrafe – den lebenslangen Freiheitsentzug und anschließende Sicherungsverwahrung. Oberstaatsanwalt Dieter Killmer sieht im Falle des mutmaßlichen Lübcke-Mörders eine besondere Schwere der Schuld – das machte er in seinem mehrstündigen Plädoyer kurz vor Weihnachten deutlich und erläuterte das danach noch mal vor dem Gerichtsgebäude.
Der Mord an Lübcke und die Rolle des Verfassungsschutzes Stephan E. muss sich wegen der Tötung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor Gericht verantworten. Dabei geht es auch um die Frage, warum Hessens Verfassungsschutz es zuließ, dass der mutmaßlicher Helfer jahrelang sechs Schusswaffen besitzen konnte.
"Die besondere Schwere der Schuld zielt darauf ab, dass nach unserer Rechtsordnung jeder – auch derjenige, der zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden ist – nach 15 Jahren die Perspektive haben muss, in Freiheit zu gelangen. Außer – und das ist der Punkt – es liegen Umstände vor, die die besondere Schwere der Schuld begründen. Und diese sind aufgrund einer Gesamtwürdigung festzustellen. Und bei der Vielzahl der Straftaten, über die wir hier beim Angeklagten Ernst reden, und der konkreten Tatbegehung und dieser Gewaltspirale, die sich da seit seinem Jugendalter bei ihm durchgezogen hat, nehmen wir eben solche besonderen Umstände an", sagte Killmer.

Mord hat "historische Dimension"

Der Mord am Kasseler CDU-Regierungspräsidenten Lübcke im Juni 2019 habe eine "historische Dimension", unterstrich Oberstaatsanwalt Killmer in seinem Plädoyer. Es handele sich um den ersten rechtsradikal motivierten Mord an einem Politiker in einem demokratisch verfassten Deutschland seit der Ermordung Walter Rathenaus 1922.
Die Tat stehe in der Tradition des von Rechtsextremisten propagierten "führerlosen Widerstands". Der Rechtsstaat müsse eine eindeutige Reaktion zeigen, forderte Killmer: "Aus unserer Sicht ist es schon so, dass, sobald ein Politiker in diesem Fall betroffen ist, man da tatsächlich wehrhaft sein muss. Einfach um zu verhindern, dass andere Menschen das Gewaltmonopol des Staates brechen und für sich selbst in Anspruch nehmen, deutsche Volksvertreter zu töten."

Mustafa Kaplan, der Kölner Verteidiger des Hauptangeklagten Stephan E., wirft hingegen der Bundesanwaltschaft vor, bei ihrem Plädoyer den gesamten Prozessverlauf nicht berücksichtigt zu haben. Die hätte "einfach stur an ihrer Anklageschrift festgehalten und wollen um jeden Preis da auch nicht ansatzweise irgendwelche Zweifel aufkommen lassen. Ich bin der festen Überzeugung, dass das vom Senat anders gesehen wird."
Mustafa Kaplan hat das Ziel, die Sicherungsverwahrung für seinen Mandanten Stephan E. zu verhindern. Er hat in der vergangenen Woche auf Totschlag plädiert.
Der CDU-Politiker Walter Lübcke
Der ermordete CDU-Politiker Walter Lübcke (imago images / Eibner)

Widersprüchliche Aussagen

Unabhängig davon, wie das Urteil ausfallen wird: Das wichtigste Ergebnis des Prozesses ist, dass der Mordangeklagte Stephan E. nach zunächst widersprüchlichen Aussagen zum Tatgeschehen schließlich ein Geständnis ablegte. Der 47 Jahre alte Rechtsextremist hat zugegeben, den CDU-Politiker Walter Lübcke im Juni 2019 aus nächster Nähe mit einer Pistole erschossen zu haben.
Der Prozess bestätigte auch das Tatmotiv, das die Bundesanwaltschaft in der Anklageschrift zugrunde legte. Oberstaatsanwalt Dieter Killmer: "Ausschlaggebend für diese Tat war ein von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit getragenes Tatmotiv. Der Angeklagte zielte darauf ab, die aus seiner Sicht missliebige Flüchtlingspolitik, die Haltung, die Herr Doktor Lübcke in diesem Zusammenhang vertrat, abzustrafen."
Der Stuhl auf der Ehrentribühne, der für den erschossenen Kasseler Regierungspäsidenten Walter Lübcke reserviert war, ist am Tag des Festumzugs mit einem Foto und einem Blumenstrauß geschmückt. Der Festumzug markiert auch in diesem Jahr wieder das Ende des Hessentages.
Vorwurf: Mord aus rechtsextremistischen Motiven
Nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erhebt die Bundesanwaltschaft Anklage. Juristisch wie politisch weist der Fall weit über sich hinaus.
Stephan E. bestritt dieses Tatmotiv im Prozessverlauf nicht mehr. Er wandte sich im Gerichtssaal an die Witwe und die Söhne Walter Lübckes und bezeichnete den Mord als "unentschuldbar und falsch."
Die Familie nahm regelmäßig an der Verhandlung teil. Holger Matt, Anwalt der Hinterbliebenen, erklärte gleich zu Prozessbeginn, warum: "Wir, die Nebenklage, wollen alle Umstände zur Mordtat erfahren. Die Planung, die Durchführung und Täter und Teilnehmer, Mitwisser, Beweggründe."

Mittäter und Mitwisser bleiben ungeklärt

Doch insbesondere zur Frage nach Mittätern und Mitwissern konnte der Prozess nicht die von der Familie Lübcke erhoffte Klarheit bringen. Vor allem kann dem mitangeklagten Rechtsextremisten Markus H. die unmittelbare Tatbeteiligung am Haus der Familie wohl nicht eindeutig nachgewiesen werden.
Die Hinterbliebenen sehen das jedoch anders. Sie gehen von einem gemeinschaftlichen Mord von Stephan E. und Markus H. aus.
Nebenklage-Anwalt Holger Matt fordert deshalb auch für Markus H. eine lebenslange Freiheitsstrafe. "Wir sind vom Ergebnis her davon überzeugt, dass die Angeklagten Ernst und H. den Mord an Walter Lübcke gemeinschaftlich und heimtückisch begangen haben aus niedrigen Beweggründen. Wichtig ist die Erkenntnis, es handelt sich hier nicht, soweit es den Angeklagten H. betrifft, um einen reinen Indizienprozess. Es gibt den angeklagten Ernst, er ist der einzige aussagebereite Tatzeuge."
01.10.2020, Hessen, Frankfurt/Main: Markus H. (M), Mitangeklagter im Prozess um die Ermordung des Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, kommt zur Fortsetzung des Prozesses in den Gerichtssaal im Oberlandesgericht. Markus H. wird aus der Untersuchungshaft entlassen. Das gab das Oberlandesgericht Frankfurt bekannt. Foto: Ronald Wittek/epa/Pool/dpa - ACHTUNG: Markus H. wurde aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen gepixelt +++ dpa-Bildfunk +++
Der Mitangeklagte Markus H. (epa/Pool)
Die Aussage des Hauptverdächtigen Stephan E., sein Gesinnungsgenosse Markus H. sei mit am Tatort gewesen, reicht wohl für eine Verurteilung von Markus H. nicht aus. Es fehlen aussagekräftige Spuren von H. am Tatort und weitere belastbare Zeugenaussagen, um ihm eine unmittelbare Mordbeteiligung nachzuweisen.
Die Bundesanwaltschaft sieht dennoch eine Mitverantwortung des Markus H. bei der Vorbereitung der Gewalttat und fordert für ihn eine Haftstrafe von neun Jahren und acht Monaten. Denn Markus H. habe Stephan E. in seinem mörderischen Vorhaben bestärkt und ihm überdies das Schießen beigebracht.
Markus H. wurde jedoch bereits im Herbst 2020 aus der bis dahin 15 Monate andauernden Untersuchungshaft entlassen. Das Gericht sah keinen hinreichenden, dringenden Tatverdacht mehr. Für die Familie Lübcke sei das ein besonders bitterer Moment gewesen, erklärte ihr Anwalt Holger Matt damals: "Eine kaum erträgliche Entscheidung, die hier heute getroffen worden ist."
Auch der Bundesgerichtshof lehnte im November 2020 eine Beschwerde der Bundesanwaltschaft gegen die vorläufige Freilassung von Markus H. ab. Der Rechtsextremist muss sich nun lediglich wegen Verstößen gegen das Waffengesetz verantworten.
Ebenfalls schwer zu belegen war im Prozess ein weiterer Vorwurf gegen den Hauptangeklagten Stephan E. Er soll – das sieht zumindest der Generalbundesanwalt so – am 6. Januar 2016 in Lohfelden bei Kassel versucht haben, den Flüchtling Ahmed I. mit einem Messerstich in den Rücken zu töten. Ob das Gericht dem folgt, ist unklar. Klar ist nur: Mit dem Ende des Prozesses ist die Aufarbeitung der Tat noch nicht abgeschlossen.

Untersuchungsausschuss hat viel Arbeit vor sich

Nancy Faeser ist Landesvorsitzende der hessischen SPD und Vorsitzende ihrer Fraktion im Wiesbadener Landtag. Die gelernte Juristin sieht nach dem Ende des Lübcke-Mordprozesses zusätzliche Arbeit auf den Untersuchungsausschuss des Landtages zukommen. Der wurde von der Opposition gefordert und hat seine Arbeit mit Vertretern aller Fraktionen im Herbst 2020 aufgenommen.
Faeser: "Wir hatten natürlich gehofft, dass auch über die Mittäter vielleicht noch ein bisschen mehr im Prozess rauskommt, das scheint nicht so zu sein zum jetzigen Stand."

Das sieht auch Holger Bellino so. Er ist parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Fraktion. Die CDU stellt in Hessen in einer Koalition mit den Grünen die Regierung. Als größte Landtagsfraktion hat sie überdies den Vorsitz im parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu den Hintergründen des Mordes an Walter Lübcke inne, der ja auch CDU-Politiker war.
Die Arbeit des Ausschusses müsse nun genau da ansetzen, wo der Mord-Prozess in Frankfurt am Main nicht weitergekommen sei, fordert Holger Bellino: "Da ging es ja auch vor Gericht darum: War Ernst ein Einzeltäter? Hatte er Leute, die ihn unterstützt haben? Zunächst hat man sogar recherchiert, ob er begleitet wurde, das hat man wohl dann mittlerweile verworfen. Aber dass beispielsweise der zunächst Mitangeklagte H. ihn ganz klar zumindest aufgehetzt hat, ist nach meinen Kenntnissen erwiesen."
Bellino weiter: "Und das wird man in dem Untersuchungsausschuss auch noch einmal herausarbeiten müssen. Inwiefern hat er Unterstützer gehabt? Inwiefern hat er sich von wem auch immer in diese extremistische Welt reinbringen lassen? Hat er vielleicht selbst noch versucht, andere – in Anführungszeichen – zu missionieren?"
Nancy Faeser, SPD
Nancy Faeser, SPD (imago/Thomas Imo/photothek)

NSU und rechtsextreme Szene in Hessen

Parteiübergreifend will man im Untersuchungsausschuss den Hinweisen nachgehen, dass die rechtsextreme Szene in Nordhessen möglicherweise erheblich größer ist als bisher bekannt.
Eva Goldbach ist stellvertretende Vorsitzende und innenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Wiesbadener Landtag. "Hatte Stephan Ernst in die bekannte Neonazi-Szene in Nordhessen und in Kassel Verbindungen? Wenn ja, welche Verbindungen waren das? Welche uns schon bekannten Personen sind das?", fragt Goldbach.
Ministerpräsident Bouffier spricht im Wiesbadener Landtag
NSU - Geheimdokumente belasten Hessens Ministerpräsidenten
Der NSU-Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag hat neue, bisher geheime Dokumente vorgelegt. Daraus geht nach Ansicht der Linken hervor, dass der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier Ermittlungen über die Ermordung eines Internetcafe-Betreibers durch den NSU im Jahr 2006 behindert hat.
"Und wir haben in dem Zusammenhang auch die ganzen Akten aus dem NSU-Untersuchungsausschuss der letzten Legislatur angefordert, damit wir eben diese Erkenntnisse uns auch noch einmal anschauen können und dann vielleicht Anknüpfungspunkte finden, um Zeugen zu laden, zu befragen und weitere Fragen zu klären", so die Grünen-Politikerin.
Etwa, welche Verbindung es möglicherweise zwischen dem mutmaßlichen Lübcke-Mörder Stephan E. und Andreas Temme gab. Temme ist ehemaliger Beamter des hessischen Verfassungsschutzes und V-Mann-Führer. Er war 2006 in Kassel am Tatort, als die rechtsextremistische Terrorgruppe NSU den Internetcafé-Betreiber Halit Yozgat ermordete.
CDU-Innenpolitiker Holger Bellino: "Wir werden uns das natürlich, wenn wir auch die entsprechenden Akten haben, das noch mal ganz genau anschauen."

Verfassungsschützer Temme im Visier

Hermann Schaus von der Linkspartei ist stellvertretender Vorsitzender des Lübcke-Untersuchungsausschusses. Die CDU hat ihn mit in dieses Amt gewählt, obwohl sie normalerweise im hessischen Landtag keine gemeinsamen inhaltlichen Anträge mit der Linken und der AfD formuliert.
Doch Hermann Schaus hat sich längst auch über die Grenzen der eigenen Partei den Ruf als engagierter Aufklärer in Sachen Rechtsextremismus in Hessen erarbeitet. Auch Schaus will im Untersuchungsausschuss des Landtages noch einmal das Augenmerk auf den umstrittenen ehemaligen Verfassungsschützer Andreas Temme richten: "Temme ist und bleibt dubios. Er hatte ja auch Kontakte, das wissen wir aus den NSU-Untersuchungen, in die Szene rein. Und zwar nicht nur über die V-Leute, die er betreut hat, sondern auch über privates Umfeld", so Schaus. "Da ging es um Schießtrainings, da geht es um Kontakte zu den Hells Angels zum Beispiel. Dieses Milieu also, bis hin zu bekannten Größen aus der Neonazi-Szene."
Der Zeuge Andreas Temme sitzt am 11.05.2015 bei einem Untersuchungsausschuss in den Landtag in Wiesbaden (Hessen) vor einem Mikrofon.
Der Zeuge Andreas Temme bei einem früheren Untersuchungsausschuss in den Landtag in Wiesbaden (dpa / Fredrik von Erichsen)
Der Lübcke-Mordprozess in Frankfurt am Main zeigte auch: Die rechtsextreme Szene in Nordhessen rund um Kassel versucht auf verschiedenen Wegen, ihre Unterstützerstrukturen zu erweitern. So fanden der Hauptangeklagte Stephan E. sowie der Mitangeklagte Markus H. politische Sympathisanten auch in dem Industriebetrieb, in dem sie beide zusammenarbeiteten. Kann man womöglich von einer rechtsextremistischen Betriebszelle sprechen?
Für die hessische SPD-Vorsitzende Nancy Faeser ist das nicht ausgeschlossen: "Das war auch einer der Punkte, der mich sehr erschrocken hat. Wenn man mitbekommt, wie sehr doch diese ja, ich finde menschenverachtenden Thesen dann doch Widerhall gefunden haben bei den Kolleginnen und Kollegen und es da ja auch offensichtlich gemeinsame Aktivitäten gab, also gemeinsam auf Demos zu gehen und ähnliche Dinge zu tun. Und das ist natürlich umso erschreckender, dass die Behörden genau das nicht auf dem Schirm hatten."
Die Frage, inwieweit Rechtsextremisten in Nordhessen ihr Gedankengut in der Kasseler Arbeiterschaft verbreiten konnten, beschäftigt auch Hermann Schaus. Der ebenfalls ein engagierter Gewerkschafter bei Verdi ist: "Also, es wird innerhalb der Gewerkschaften immer wieder und immer wieder natürlich auch mit den betrieblichen Funktionären das Thema angesprochen."
Schaus weiter: "Diese latente Rechtsentwicklung, die in Deutschland leider stattfindet, auch durch die AfD geprägt, durch das Pegida-Umfeld, bis hin jetzt zu den Anti-Corona-Demonstrationen. Und das nimmt leider zu. Das sind keine Funktionäre, sind keine Gewerkschafter im Regelfall, das ist die große Ausnahme. Aber es ist sozusagen so eine latente Stimmung da, die sich verändert, und das ist sehr bedenklich und sehr bedrohlich."

Behördenfehler werden geprüft

Ein weiterer wichtiger Punkt, der untersucht werden soll: Mögliche Fehler staatlicher Behörden im Vorfeld des Mordes an Walter Lübcke. Dafür setzt sich Stefan Müller ein, stellvertretender Vorsitzender der FDP-Fraktion im hessischen Landtag. Er vertritt die Liberalen im Lübcke- Untersuchungsausschuss.
Müller: "Denn wir haben ja eigentlich die Arbeit der Exekutive aufzudecken und da Fehlverhalten oder Fehler zu entdecken. Ich will das gar nicht mit großem Vorwurf formulieren. Aber man muss sehen, wo sind Fehler auch in den Abläufen und Strukturen. Damit wir dann besser werden können und das Leben und auch die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in Hessen besser schützen können."
Kritische Fragen an die Adresse des hessischen Verfassungsschutzes kommen im Mordfall Lübcke auch von der SPD im Wiesbadener Landtag. Nancy Faeser will etwa zu Stephan E. wissen, "wie es eigentlich sein kann, dass ein bekannter Rechtsradikaler, der sogar ja Straftäter war in dem Bereich, der verurteilt war, wie so jemand aus dem Fokus der Behörden verschwinden kann. Das ist unfassbar."
Das Foto zeigt ein Absperrband mit der Aufschrift "Polizeiabsperrung" ist vor dem Haus des getöteten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke.
Der Tatort. Das Wohnhaus von Walter Lübcke (dpa-Bildfunk / Swen Pförtner)
Holger Matt, der Anwalt der Familie Lübcke, spricht von einem – Zitat – "Komplettversagen" staatlicher Behörden. Die Angeklagten hätten unbehelligt mit Waffen hantieren können. Selbst eine Waffenbesitzkarte sei dem Mitangeklagten Markus H. ausgestellt worden – obwohl er sich mal vor Gericht verantworten musste. Der hessische Verfassungsschutz habe nicht alle Erkenntnisse zu rechtsextremistischen Aktivitäten etwa an die Polizei weitergegeben, so Matt im Prozess.
Dass der Mordverdächtige Stephan E. vom Radar der hessischen Sicherheitsbehörden verschwinden konnte, wird ein Hauptthema im Lübcke-Untersuchungsausschuss des Wiesbadener Landtages sein.
Eva Goldbach, die innenpolitische Sprecherin der Grünen: "Die Frage, die über allem schwebt lautet: Hätte man den Anschlag auf Walter Lübcke verhindern können? Und dann weiter, wenn Stephan Ernst zum Beispiel weiter vom Verfassungsschutz beobachtet worden wäre, wenn vielleicht die Polizei ihn als Gefährder im Blick gehabt hätte. Und das sind die wesentlichen Fragen, die wir jetzt klären müssen."

Zweifel an Struktur des Verfassungsschutzes

Eine andere wesentliche Frage, die hessische Innenpolitiker nach dem Mordfall Lübcke nun umtreibt, ist die Struktur des Verfassungsschutzes – in Hessen und anderswo. Es gibt quer durch alle Fraktionen starke Zweifel an der Effizienz der Inlandsgeheimdienste. Der stellvertretende FDP-Fraktionschef Stefan Müller:
"Ich glaube, dass wir uns schon Gedanken machen müssen, wie wir die Sicherheitsarchitektur in Deutschland ausgestalten mit 16 Bundesländern, 16 Landesämtern für Verfassungsschutz, die teilweise sehr klein sind, die teilweise über sehr wenig Mitarbeiter verfügen."
Die Diskussion, ob der Föderalismus bei den Inlandsgeheimdiensten sinnvoll ist oder nicht, ist nicht neu. Schon die NSU-Mordserie im vergangenen Jahrzehnt warf diese Frage in vielen Landtagen und im Bundestag auf.
Hermann Schaus (Die Linke) kommt zu einer Sitzung des Innenausschusses.
Hermann Schaus (Die Linke) (picture alliance/dpa/Boris Roessler)
Auch Hermann Schaus von der Linkspartei will insbesondere noch mal die Beobachtung des Mordverdächtigen Stephan E. und seines möglichen Beihelfers Markus H. im Vorfeld der Tat untersuchen.
Die Linkspartei sieht die Rolle der Inlandsgeheimdienste bei der Überwachung der rechtsextremistischen Szene aber auch grundsätzlich kritisch. Schaus: "Na ja, inwieweit die Verfassungsschutzämter tatsächlich hilfreich sind, dass stellen wir ja generell in Frage. Weil wir haben ja immer wieder, sei es bei NSU, sei es bei der Ermordung von Herrn Lübcke, sei es aber auch bei anderen Straftaten, wie zum Beispiel in Halle oder in Hanau – da gab es ja kein Vorwarnsystem, obwohl das ja eigentlich der Verfassungsschutz sein soll. Insofern haben wir starke Bedenken, dass das System Verfassungsschutz – ob jetzt Landesamt oder Bundesamt – das ja auf V-Leute, also auf bezahlte Neonazis, die für Informationen bezahlt werden, aufbaut, ob das überhaupt das Richtige ist."

So grundsätzlich stellen andere Fraktionen im hessischen Landtag den Verfassungsschutz nicht in Frage. Doch auch die grüne Innenpolitikerin Eva Goldbach ist mit den politischen Konsequenzen, die aus den Erkenntnissen der NSU-Verbrechen gezogen wurden, noch nicht zufrieden: "Was sicher verbesserungswürdig ist, ist die Zusammenarbeit zwischen den Diensten."
Die hessische SPD-Vorsitzende Nancy Faeser will – anders als etwa die Linkspartei – die Landesämter für Verfassungsschutz grundsätzlich erhalten. Doch möglicherweise könnten die einzelnen Behörden inhaltlich arbeitsteiliger vorgehen, so Faeser: "Ob es jetzt eine Schwerpunktbildung geben könnte im Bereich des Salafismus beispielsweise, dass es dort spezielle Experten mit einer ausgewiesenen Sprachkenntnis, mit einer wissenschaftlichen Expertise gibt, die mit beraten – das finde ich vorstellbar. Das muss nicht zwingend in jedem Verfassungsschutzamt selbst vorgehalten und aufgebaut werden, aber die Beobachtungen in dem Bereich würde ich nicht abgeben wollen. Also auch das nicht. Da will ich nicht missverstanden werden. Ich glaube, dass man über alle Phänomen-Bereiche eigene Beobachtungen braucht."
Vermutlich an diesem Donnerstag will das Oberlandesgericht Frankfurt am Main das Urteil im Prozess zum Mord an Walter Lübcke sprechen. Dass der Hauptverdächtige Stephan E. lebenslänglich ins Gefängnis muss, ist sehr wahrscheinlich. Ob er zusätzlich Sicherungsverwahrung bekommt, ist noch offen.
Auf der politischen Ebene geht es vor allem darum herauszufinden, welche Fehler die Behörden im Vorfeld des Mordes möglicherweise gemacht haben. Das wird den parlamentarischen Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag noch viele Monate beschäftigen. Die Akten aus dem Frankfurter Prozess hat er nun bekommen.
*Wir haben in der ersten Version der Bildunterschrift den falschen Eindruck erweckt, das Urteil sei schon früher gesprochen worden. Das haben wir korrigiert.