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Wahl in Irland
Politologe: "Dieses Ergebnis wird eine Überraschung"

Irland wählt, und in den Umfragen liegt Sinn Féin vorn. Das liege eher am sozialpolitischen Rumoren als an der Irland-Frage, erklärte der Belfaster Politologe Duncan Morrow im Dlf. Trotzdem könnten Brexit-Verhandlung durch eine irische Sinn-Féin-Regierung schwieriger werden.

Duncan Morrow im Gespräch mit Peter Sawicki | 08.02.2020
Der irische Premierminister Leo Varadkar
Muss um seine Widerwahl fürchten: der irische Premier Leo Varadkar von der Partei Fine Gael (AFP/Kenzo Tribouillard)
Eine Woche nach dem formalen Ausscheiden Großbritanniens aus der EU wird beim Nachbarn Irland ein neues Parlament gewählt – vorzeitig. In den Umfragen hat dort zuletzt die Sinn Féin geführt, also der ehemalige politische Arm der IRA. Sie setzt sich unter anderem für die irische Wiedervereinigung ein.
Nach den Einschätzungen von Korrespondent Thomas Spieckhofen sieht es für den amtierenden Premierminister Leo Varadkar nicht gut aus. In den jüngsten Umfragen kommt seine regierende Fine Gael nur auf Platz drei. Womöglich muss Varadkar nach nur zweieinhalb Jahren seinen Posten schon wieder räumen.
Die ebenfalls im liberalkonservativen Lager angesiedelte Fianna Fail liegt auf Platz zwei. An die Spitze hat sich in den Umfragen überraschend Sinn Féin gesetzt. Die Partei, die vor allem für ein vereinigtes Irland eintritt, setzte im Wahlkampf auf sozialpolitische Themen und füllte damit offenbar eine Lücke, die die beiden großen Mitte-Rechts-Parteien offengelassen haben.
Eine Sinn-Féin-Regierung ist trotzdem unwahrscheinlich, da die beiden anderen großen Parteien eine Zusammenarbeit mit ihr ausgeschlossen haben. Sie halten Sinn Féin vor allem wegen ihrer Verbindungen zur Terror-Organisation IRA auf Distanz.
Die Wahllokale schließen heute Abend um 22 Uhr Ortszeit, 23 Uhr deutscher Zeit. Mit der Auszählung der Stimmen wird erst am Sonntag begonnen. Das Wahlsystem ist kompliziert, es erlaubt jedem Wähler mehrere Stimmen, die er in einer Reihenfolge verteilen kann. Mit einem Ergebnis wird frühestens am Sonntagabend gerechnet.
Duncan Morrow, Politologe in Belfast, mit Einschätzungen zur Wahl.
Peter Sawicki: Leo Varadkar, der Premierminister von den Konservativen, er hatte die Neuwahlen angesetzt. Er galt lange Zeit als populär, jetzt liegt seine Partei hinten. Hat er sich verzockt?
Duncan Morrow: Ja, es schaut so aus. Ich glaube, sehr viele Kommentatoren haben gedacht, die Wahl würde über den Brexit gehen oder vielleicht über die neue Wirtschaft in Irland, aber es scheint so, als ob die Regierung jetzt unter Druck steht, vor allem wegen innenpolitischen Fragen und sozialpolitischen Fragen wie Gesundheit und Wohnungsbau und so was. Deswegen hat Sinn Féin irgendwie sehr viel Erfolg mit diesen Themen in der Wahl gehabt.
Brennende sozialpolitische Fragen
Sawicki: Genau, aber schauen wir dann noch mal auf die Ausgangslage: Brexit, haben Sie ja gesagt, war ja auch lange Zeit ein wichtiges Thema – warum jetzt offenbar nicht mehr?
Morrow: Es ist ein wichtiges Thema, aber ich glaube, man denkt, erstens waren die Parteien in Irland eigentlich ziemlich einig über Brexit, darüber, wie man eigentlich vorgeht. Und es ist auch gewisserweise, es ist nicht vorbei, aber die ersten Schritte sind schon gemacht worden. Und ich glaube, es ist nicht mehr so aktuell wie die brennenden innenpolitischen Fragen, die jetzt in Irland anstehen, zum Beispiel Gesundheit vor allem und Wohnungsbau sind die zwei großen Themen in Dublin vor allem von Sinn Féins Punkten.
Sawicki: Und worin liegen da genau die Probleme, was finden die Leute derzeit falsch, was da derzeit gemacht wird?
Morrow: Der Regierungspartei wird vorgeworfen, dass sie sich nur auf die Reichen konzentriert, das heißt, Wirtschaftswachstum hat wenig Auswirkung für die ärmeren Leute, gerade für jüngere Leute. Und die Preise von Wohnungen und Häusern sind sehr hoch gestiegen in Dublin, und man sagt, die bauen nicht genug Wohnungen. Und auch das Gesundheitssystem hat große Probleme nach zehn Jahren mit der IMF, und deswegen ist gerade in den Städten eigentlich sehr große Sorge über Gleichheit und über die Zukunft von den Jungen.
Sawicki: Wurde da nicht genug investiert in diese Sektoren?
Morrow: Ja, es wird nicht genug investiert in diese Sachen, und gerade Brexit ist irgendwie nicht vorbei, aber die ersten Schritte sind schon gemacht worden. Deswegen ist es nicht so aktuell wie früher, und die brennenden Sachen sind sozialpolitische Fragen.
Sinn Féin punktet als linke Oppositionspartei
Sawicki: Das heißt, ist es der falsche Zeitpunkt auch für Neuwahlen, jetzt aus Sicht von Leo Varadkar, dem Premierminister?
Morrow: Ja, sicher, es schaut so aus. Wir müssen jetzt abwarten, wie die Wahl eigentlich ausgeht, aber es schaut so aus, als ob er die falsche Zeit gewählt hat. Das heißt, er hat es gewählt, aber war unter Druck. Es war immer eine Minderheitsregierung, und die Regierung hat länger gedauert wegen Brexit. Die anderen Parteien, die Oppositionsparteien, haben irgendwie informelle Abkommen mit der Regierung gemacht, dass bis zum Schluss vom Brexit sie keine Wahl haben würden, und jetzt direkt nach der Brexit-Entscheidung gibt es diese Wahl. Also er hat die Wahlzeit nicht genau gewählt, aber es schaut so aus, als ob die Leute jetzt eigentlich andere Fragen angehen wollen.
Sawicki: Und die Sinn Féin, haben Sie ja auch gesagt, die greift das also offenbar geschickt auf. Ist das der einzige Grund, oder woher kommt insgesamt diese neue Popularität für Sinn Féin?
Morrow: Ja, eigentlich ist Sinn Féin die große linke Opposition in Irland jetzt, das heißt, sie sind in gewisser Weise eine populistische Partei, aber die anderen linken Parteien sind verschwunden, in einer Weise wie die SPD zum Beispiel, sie sind sehr viel kleiner geworden, und diese populistischen linken Parteien sind größer geworden, auch in Irland. Deswegen ist Sinn Féin eigentlich sozusagen die große Opposition, und sie punkten nur deswegen nicht so sehr über die nordirische Frage oder über die traditionellen Fragen wie irische Einheit, vielmehr über ihre Opposition zur Regierung innerhalb der Republik Irland an sozialen Fragen.
Nordirland-Frage lange im Hintergrund
Sawicki: Aber sie setzt sich ja auch für die Wiedervereinigung ein, die Sinn Féin, und das war ja jetzt auch zu lesen, dass es eine Mehrheit durchaus gibt, der Iren, die sich eine Wiedervereinigung wünschen. Welche Rolle hat das im Wahlkampf gespielt?
Morrow: Es ist interessant, in einer gewissen Weise hat die Wahl die Unterschiede in Irland aufgezeigt, weil gerade die [unverständlich] hat soziale Themen in den Vordergrund gerückt und nicht Nordirland. Nur in der letzten Woche ist Nordirland irgendwie zum Thema geworden, und deswegen, weil die Frage nach dem Sinn-Féin-Ansatz zum Gesetz und der Geschichte, der Verbindung zur IRA, wurde nuer in der letzten Woche ein Merkmal. Deswegen glaube ich, es wird große Wirkung auf Nordirland haben, aber dieser Wahlkampf geht nicht um Nordirland meistens – obwohl in der letzten Woche haben die Parteien versucht, das wieder zu einem Thema zu machen.
Sawicki: Das heißt, welche Auswirkungen könnten das sein?
Morrow: In Nordirland gibt es eine sehr fragile Situation, wo Sinn Féin eigentlich zusammen mit ihren Feinden sozusagen, den Unionisten, zusammenarbeiten müssen. Aber wenn eigentlich die Regierung auch in Südirland von Sinn Féin besetzt würde, würde das irgendwie sehr schwierig in Nordirland, weil eine Partei wäre in zwei Regierungen eigentlich dabei. Und das ist nie vorher passiert, und wir können nur spekulieren, aber man kann sehen, dass das sehr schwierig wird.
"Dieses Ergebnis wird eine Überraschung"
Sawicki: Was würde das denn bedeuten?
Morrow: Es könnte bedeuten, dass die Koalition in Nordirland nicht mehr halten könnte. Es könnte bedeuten, dass wir vielleicht früher zu einer Abstimmung kommen könnten über die Grenze in Nordirland, über die irische Einheit. Es könnte bedeuten, dass Beziehungen mit Großbritannien spannender würden. Es ist irgendwie jetzt schwer zu sagen, weil die Wahl noch angeht, und wir wissen noch nicht, wie das eigentlich ausgehen wird. Aber es ist irgendwie in der Luft, und dieses Ergebnis wird eine Überraschung. Sinn Féin ist bei den Umfragen besser dran, als man vorher gedacht hätte, und deswegen kommen die Parteien erst jetzt zu diesem Punkt. Keiner weiß genau, wie sich das auswirken wird.
Sawicki: Wie stehen denn die anderen Parteien zum Thema Wiedervereinigung?
Morrow: Ja, die anderen Parteien im Süden Irlands sind im Großen und Ganzen für die Wiedervereinigung, aber sie wissen, dass das Friedensabkommen sehr wichtig ist. Sie wollen nichts machen, was das zum Wackeln bringt, und deswegen sind sie eher dafür, dass man eine Zusammenarbeit mit Großbritannien noch findet und dass man abwartet, bis es eine größere Mehrheit geben würde für die irische Einheit, damit es stabiler wird nachher. Deswegen sind sie eigentlich gegen eine Abstimmung in den kommenden Jahren.
"Brexit-Verhandlungen könnten schwieriger werden"
Sawicki: Das heißt, wie blickt London jetzt auch auf diese Wahl in Irland?
Morrow: Ich weiß nicht, ob London bis jetzt irgendwie das gemerkt hat. Öfters merkt man, dass man in London nur zu irischen Fragen kommt dann am Schluss, wenn man sieht, wie schwierig das wird. Sicher wird man nichts von London hören bis zum Ergebnis, weil London wird sich nicht einmischen wollen. Aber natürlich, wenn es zu einer neuen Regierung mit Sinn-Féin-Beteiligung kommt, wird es dann sicher ein ganz neues Problem für London werden, und bei den Brexit-Verhandlungen könnte es schwieriger werden, würde ich sagen.
Sawicki: Inwiefern?
Morrow: Gerade weil die nordirische Frage in den Vordergrund gerückt würde durch Sinn Féin und dass – man kann nur spekulieren, aber historisch gibt es eine Feindschaft zwischen den Republikanern, der Sinn-Féin-Gruppe, und Großbritannien. Also es ist nicht mehr eine Koalition über Nordirland, sondern es wird eher eine neue Konstellation geben, wo eigentlich viel mehr umstritten wird über die Zukunft.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.