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Wahlerfolg der AfD
"Da sind nicht alle rechtsradikal"

Cem Özdemir, Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, sieht die Grünen in einem deutlich besseren Zustand als die Große Koalition. Besonders das Verhalten von CSU-Chef Horst Seehofer helfe der rechtspopulistischen Partei AfD. Das hätten die Ergebnisse der Landtagswahlen in bedauerlicher Weise gezeigt, sagte Özdemir im DLF. Die Partei sammle die Stimmen der Enttäuschten.

Cem Özdemir im Gespräch mit Sandra Schulz | 14.03.2016
    Der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir, spricht am 17.10.2015 in Bad Windsheim (Bayern) auf dem Landesparteitag der Grünen.
    Der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir (picture alliance / dpa / Nicolas Armer)
    Özdemir sagte im Deutschlandfunk, die AfD habe Stimmen von denjenigen erhalten, die Zweifel an Gesellschaftsordnung und am System haben. Er sagte, wir müssten uns um deren Probleme kümmern. Der Grünen-Chef forderte von der AfD Leistungen in den Parlamenten, in die sie eingezogen seien. Bisher hätten sie die immer nur von anderen eingefordert.
    Mit Blick auf die anderen Parteien sagte Özdemir: "Wir müssen dringend aufhören, so übereinander zu reden, wie wir es in der letzten Zeit gemacht haben." Als Beispiel nannte er das Zitat von CSU-Chef Horst Seehofer, der von einer "Herrschaft des Unrechts" in Deutschland gesprochen hatte.
    Mit Blick auf die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die in großen Teilen auch von den Grünen unterstützt wird, wies Özdemir den Vorwurf zurück, sich nicht genug von ihr abzusetzen. Man müsse ja nicht immer genau das Gegenteil ihrer Positionen einnehmen, sondern ihre Politik jeweils bewerten. "Wir sind nicht der Kanzlerwahlverein, sondern Bündnis 90/Die Grünen", sagte Özdemir.

    Das Interview in voller Länge:
    Sandra Schulz: Gute und schlechte Nachrichten, die gab es gestern für die Grünen. Winfried Kretschmann, der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, der holt das beste Ergebnis, das je ein Grüner bei Landtagswahlen geschafft hat. In Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz, da schaffen die Grünen den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde dagegen nur knapp, in Rheinland-Pfalz mit zweistelligen Verlusten. Was sind die Schlussfolgerungen für die Grünen? Was sind die Schlussfolgerungen der Grünen aus diesen Landtagswahlen? Darüber wollen wir in den kommenden Minuten sprechen. Am Telefon begrüße ich den Vorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen. Guten Morgen, Cem Özdemir.
    Cem Özdemir: Guten Morgen, Frau Schulz.
    Schulz: Erfolgreich war bei den Wahlen ja eigentlich nur Winfried Kretschmann, auch wenn das sicherlich ein historischer Erfolg war. Aber werden Sie nicht auch ein bisschen unruhig bei dem Gedanken, dass ein konservativer 67-Jähriger im Moment der größte Hoffnungsträger Ihrer Partei ist?
    Özdemir: Ich glaube, da tun Sie uns ein bisschen Unrecht in Baden-Württemberg. Ich bin ja auch Baden-Württemberger. Wir sind nicht nur konservativ. Wir sind auch liberal, wir sind auch weltoffen, wir sind auch sozial ausgerichtet. Das macht den Erfolg Baden-Württembergs aus und das macht den Erfolg der Politik von Winfried Kretschmann aus.
    "Die bürgerlichen Tugenden sind gerade eher bei uns zuhause"
    Schulz: Ich komme darauf, weil es da dieses Zitat gibt von Günther Oettinger, einem der Vorgänger von Herrn Kretschmann und einem CDU-Mann, der gesagt hat, der Kretschmann, der sei sicherlich in vielen Fragen sehr viel konservativer als er. Ist Winfried Kretschmann möglicherweise deswegen so erfolgreich, weil er bei den Grünen so eine Außenseiterposition hat?
    Özdemir: Das kann ich nicht erkennen. Woran machen Sie das fest? Auf den letzten zwei Bundesparteitagen hat er stehende Ovationen bekommen. Die Bundespartei arbeitet sehr eng zusammen. Das ist sicherlich richtig, dass es da am Anfang anders zuging, aber das hat sich doch sehr deutlich verändert. Die Grünen Baden-Württembergs, übrigens auch insgesamt die Landesverbände und die Bundespartei arbeiten doch mittlerweile sehr gut zusammen. Und wenn man uns vergleicht mit der Großen Koalition, vor allem mit dem Zustand der CDU/CSU, wie Frau Merkel und Herr Seehofer miteinander umgehen, und das mit uns vergleicht, dann kann man doch sagen, die bürgerlichen Tugenden sind gerade eher bei uns zuhause.
    Schulz: Aber ich erinnere an vor zwei Jahren, als Winfried Kretschmann den Asylkompromiss durchgesetzt hat und sich über einen Parteitagsbeschluss hinweggesetzt hat, als Marokko, Tunesien und Algerien zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt wurden. Er ist inzwischen erklärter Autoministerpräsident im Autoland Baden-Württemberg. Wenn wir auf die Wahlen von gestern schauen, haben ihn schlichtweg wahnsinnig viele eingefleischte CDU-Wähler gewählt.
    "Aus Baden-Württemberg kann man eine Menge lernen"
    Özdemir: Das ist doch super! Das freut uns!
    Schulz: Woran merkt man denn, dass er grüne Politik macht?
    Özdemir: An den Inhalten. Und dass CDU-Wähler uns wählen, das ist ja was Erstrebenswertes. Wir wollen von überall dazugewinnen und wollen das auch im Bund schaffen. Das ist etwas, wofür ich mich schon seit vielen Jahren einsetze, dass wir schauen, dass wir auch im Bund uns nach allen Seiten hin erweitern und wachsen. Jetzt ist sicherlich nicht alles aus Baden-Württemberg eins zu eins übertragbar, aber wir sind gut beraten, wenn wir kapieren, was in Baden-Württemberg passiert, das nicht zwingend alles kopieren, aber kapieren, uns das genau anschauen, und da gibt es eine Menge, was man vom Erfolg lernen kann.
    Schulz: Über die Inhalte habe ich ja gerade gesprochen. Wenn Winfried Kretschmann sagt, die Autoindustrie sei eine Halsschlagader für den Wohlstand unseres Landes, was vielleicht gar nicht so falsch ist, dann stelle ich doch die Frage, wieviel Grüne oder originär Grüne einer ökologischen Partei sich denn hinter diesem Satz versammeln können?
    Özdemir: Sehr viele, weil wir sagen doch damit aus, es geht darum, dafür zu sorgen, dass auch das künftige Auto von morgen noch aus Baden-Württemberg kommt. Das wird aber ein Elektromobil sein müssen. Und wenn man auf die Industriepolitik der CDU/CSU setzt, die vor allem glaubt, dass gute Industriepolitik darin besteht, dass man bewusst wegschaut bei der Einhaltung von Grenzwerten wie bei VW, dann hilft man der deutschen Automobilindustrie nicht, hilft nicht den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Bundesrepublik Deutschland. Im Gegenteil: Man wiegt sich in falscher Sicherheit. Dann wird das Elektromobil der Zukunft aus Japan, aus Südkorea, aus China kommen. Ich hätte aber gern, das sehen Sie mir nach, dass es aus dem mittleren Neckar-Raum kommt.
    "Seehofers Position ist ungefähr das Gegenteil von Frau Merkel"
    Schulz: Wenn wir jetzt auf die Flüchtlingsfrage schauen, da galt Kretschmann oder gilt Kretschmann ja als einer der größten Unterstützer der merkelschen Flüchtlingspolitik. Was ist das denn eigentlich für eine Ausgangslage für die Bundestagswahl? Wollen Sie da auch mit der Prämisse reingehen, wir sind Kanzlerinnen-Unterstützer?
    Özdemir: Nein, das sind wir ja nicht per se. Aber eine Position definiert man ja nicht dadurch, dass man sagt, das sagt die Kanzlerin, und das Gegenteil davon ist unsere Position, sondern man schaut sich an, was sie sagt, und bewertet es danach, ob das der Sache angemessen ist oder nicht. So versuchen wir zumindest Politik zu machen und sind baff erstaunt darüber, wie man das wie gesagt innerhalb der Großen Koalition macht. Da ist es nämlich tatsächlich so: Immer das Gegenteil dessen, was Frau Merkel sagt, ist ungefähr die Position von Herrn Seehofer. Das hilft nur der AfD, das hilft nur den Rechtspopulisten. Das hat der gestrige Abend auf bedauerliche Weise, sehr atemberaubende Weise gezeigt. Das hätte man vermeiden sollen und vermeiden können.
    "Wir doch eine ziemlich harmonische Veranstaltung"
    Schulz: Aber wenn es wirklich um die Bundestagswahl geht, da werden doch die Menschen, die die Politik der Kanzlerin gut finden, in der Tat auch die Kanzlerin wählen und nicht die Grünen.
    Özdemir: Noch mal: Wir sind jetzt nicht der Kanzlerwahlverein, sondern wir sind Bündnis 90/Die Grünen, eine selbstbewusste Partei, die immer noch in 16 von 16 Bundesländern vertreten ist, zurzeit neun Landesregierungen stellt, im Bund in der Opposition ist, und das wollen wir ändern. Dazu müssen wir im Bund stärker werden. Das machen wir, indem wir als eigenständige grüne Partei antreten, indem wir keine Ausschließeritis machen, indem wir für unsere Inhalte werben. Wir haben unsere Lektion gelernt aus der Bundestagswahl 2013. Der Streit, den gibt es sicherlich auch noch gelegentlich bei uns. Wir sind ja schließlich auch nicht die SPD. Aber gemessen an allen anderen im Bundestag vertretenen Parteien sind wir doch eine ziemlich harmonische Veranstaltung.
    Schulz: Warum honorieren das die Wähler in Sachsen-Anhalt und in Rheinland-Pfalz kaum? Sie haben da teils zweistellige Verluste zu verkraften. Wenn man jetzt mal den Kretschmann-Bonus in Baden-Württemberg abzieht, zeigen dann die beiden anderen Länder nicht eher den Aggregatzustand der Grünen im Moment?
    Özdemir: Da muss man zwischen Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz doch noch mal ein bisschen unterscheiden. Zweistellige Verluste in Sachsen-Anhalt hätte bedeutet, wir wären irgendwo im Minusbereich. Zweistellige Verluste hatten wir in Baden-Württemberg. In Sachsen-Anhalt sind wir froh, dass wir trotz einer schwierigen für uns Ausgangsposition mit harten Angriffen von rechts, mit Zerstörung von Plakaten, am Schluss gab es sogar ein gefälschtes grünes Plakat, dass es den Unseren gelungen ist, wieder einzuziehen in das Landesparlament. In Rheinland-Pfalz, da haben Sie Recht: Das tut sehr weh, dass wir dort um die zehn Prozent verloren haben. Das werden wir aufarbeiten müssen, woran das liegt. Jetzt steht erst mal eine schwierige Regierungsbildung vor uns dort. Aber insgesamt ist wichtig: Die Grünen sind nach wie vor in allen Ländern vertreten.
    "Die AfD sammelt die Stimmen aller Enttäuschten ein"
    Schulz: Noch mal mit Blick auf alle drei Länder. Warum hat die AfD so stark abgeschnitten?
    Özdemir: Die AfD sammelt die Stimmen aller Enttäuschten ein. Sie sammelt die Stimmen all derjenigen ein, die Zweifel haben an unserer Gesellschaftsordnung, an unserem System. Da sind nicht alle rechtsradikal. Da würden wir einen großen Fehler machen, wenn man der AfD diesen Gefallen tun würde, jetzt über die Wähler herzufallen. Aber das, was die AfD selber macht, das wird man sehr genau anschauen müssen in den Parlamenten. Jetzt sind sie zum ersten Mal in einer Situation, dass sie auch in den Parlamenten Leistung zeigen müssen, das was sie ja gerne immer von anderen einfordern. Da wird man sehen, wieviel es dann damit her ist. Das was man bislang hört von der AfD in den Landesparlamenten, sieht da ja sehr mau aus. Der Auftrag an die demokratischen Parteien dagegen ist es, dass wir uns um die Probleme kümmern. Ich glaube, je mehr wir die Sorgen der Menschen ernst nehmen, indem wir nicht einfach darüber quatschen, sondern die Probleme lösen, auf dem Wohnungsmarkt, bei Langzeitarbeitslosen, bei der Unterbringung von Flüchtlingen, bei schnellen Verfahren bei der Integration, umso besser für die Gesamtfrage, umso eher werden die Zahlen bei der AfD auch wieder zurückgehen.
    Vielleicht der alles entscheidende Punkt: Wir müssen dringend aufhören, so übereinander zu reden, wie wir es in letzter Zeit gemacht haben. Ich kann mich da nur immer wieder wiederholen. Wenn jemand davon spricht, dass Deutschland ein Unrechtsstaat ist, was soll ich denn dann jungen Schülern sagen, die zu mir in den Bundestag kommen, mit denen ich diskutiere, wenn sie als Quelle dafür den Ministerpräsidenten von Bayern angeben. Ich meine, da fehlen einem dann einfach alle Worte.
    Schulz: Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir heute hier bei uns im Deutschlandfunk in den "Informationen am Morgen". Ganz herzlichen Dank für das Interview.
    Özdemir: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.