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Wahlimpressionen Türkei
Linke Opposition fürchtet Diktatur

Der Gedanke an einen künftigen türkischen Präsidenten Erdogan offenbart die Zweiteilung des Landes: Während mehr als die Hälfte dem künftigen Präsidenten und dessen Vision einer neuen Türkei vertraut, fürchten Nicht-Konservative und Linke Erdogans drohende Allmacht. Impressionen vom Wahlsonntag.

Von Gunnar Köhne |
    Der Wahlsieg des türkischen Ministerpräsidenten bei der Parlamentswahl offenbart die Zweiteilung des Landes: Während etwas mehr als die Hälfte der Wähler dem künftigen Präsidenten und dessen Vision einer neuen Türkei vertraut, fürchten Nicht-Konservative und Linke den
    Sonntag Mittag im Istanbuler Stadtteil Cihangir: Mit trägen Schritten streben die Wählerinnen und Wähler auf die Grundschule des Stadtteils zu, um im dortigen Wahllokal ihre Stimmen abzugeben. Von Schicksalswahl keine Spur. Vielleicht liegt es an der brütenden Hitze, vielleicht aber auch an dem vorhersehbaren Ergebnis.
    Die Wahlbeteiligung jedenfalls scheint hier nicht besonders hoch zu sein. Dabei gilt Cihangir als Hochburg der linken Opposition. Der Stadtteil ist unter Istanbuls Künstlern und Intellektuellen beliebt, auch Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk wohnt hier. Die Wähler fürchten das Wahlergebnis:
    "Wir gehen in Richtung Diktatur. Der Druck auf Andersdenkende wird steigen, die Korruption auch. Und denkbar sind auch wieder bewaffnete ethnische Auseinandersetzungen."
    "Es wird im Land kein Frieden kommen. Das geht so weiter und es wird schlimmer."
    Nicht nur in Cihangir zweifelt niemand daran, dass Tayyip Erdogan sich als Staatspräsident nicht bloß auf repräsentative Aufgaben beschränken wird. Wiederholt hat er angekündigt, sich weiterhin in die Tagespolitik einmischen zu wollen. Schon jetzt gibt die Verfassung dem Staatsoberhaupt das Recht, Kabinettssitzungen einzuberufen – Erdogan will das regelmäßig tun. Ohnehin wird davon ausgegangen, dass Erdogan einen Erfüllungsgehilfen auf den Posten des Ministerpräsidenten hieven wird.
    Bedeutet Erdogans Sieg das Ende der Gewaltenteilung?
    Dem ehemaligen linken Parlamentsabgeordneten Ufuk Uras schaudert es bei dem Gedanken an einem Staat nach Erdogans Gusto. Nach Bekanntwerden der ersten Hochrechnungen sitzt Uras in einem Café und rührt nachdenklich in einem Glas Tee:
    "Die Gewaltenteilung ist mit Erdogans Sieg in diesem Land so gut wie obsolet. Es wird nur noch eine Gewalt geben - Erdogan. Als Präsident bestimmt er ja auch die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts. Man rechnet damit, dass er zunächst den derzeitigen Außenminister Davutoglu zum Regierungschef machen wird. Und dann, glaube ich, wird Erdogan die für das nächste Jahr geplanten Parlamentswahlen vorziehen."
    Und das in der Hoffnung, mit seiner AKP im Parlament die erforderliche Mehrheit für Verfassungsänderungen zu erreichen. Erdogan hätte, das hat er wieder und wieder deutlich gemacht, lieber ein Präsidialsystem á la Russland. Doch dafür braucht er eine Drei-Fünftel-Mehrheit im Parlament. Verfehlt er die, könnte es zu einer dauerhaften Verfassungskrise kommen: Parlament gegen Präsident.
    Doch Erdogan setzt darauf, auch diese Hürde nehmen zu können. Stets spricht er von der "alten" und der "neuen" Türkei. Bei der 100-Jahr-Feier der Republik im Jahr 2023 will er als der Politiker in die Geschichte eingehen, der selbst Staatsgründer Atatürk in den Schatten stellt.
    Die Opposition zeigt sich hilflos
    Die türkische Opposition steht dem Ganzen hilflos gegenüber. Der von insgesamt 14 Mitte-Rechts-Parteien nominierte konservative Kandidat Ekmeleddin Ihsanoglu erreichte nicht einmal alle Stimmen seiner Unterstützer. Der linke kurdische Herausforderer Demirtas erzielte mit knapp zehn Prozent einen Achtungserfolg. Dass er offensichtlich auch viele Stimmen außerhalb des kurdischen Lagers gewinnen konnte, ist für Ufuk Uras ein kleiner Lichtblick auf der Suche nach Alternativen zum Erdogan-Staat.
    "So wie die AKP einst als Erneuerer verbrauchter religiöser Parteien hervorging, so müssen sich auch die türkischen Parteien im Mitte-links-Spektrum erneuern – insbesondere die alt-kemalistische Republikanische Volkspartei CHP. Solange die Opposition mit ihrer Zerstrittenheit die AKP groß macht, so lange wird Erdogan weiter alles bestimmen. Für die Opposition ist endlich die Zeit für Selbstkritik gekommen."
    Doch Sonntagabend, nach den ersten Hochrechnungen, überwog im Istanbuler Stadtteil Cihangir eine spürbare Gleichgültigkeit. Und das lag nicht nur am schwül-warmen Wetter.