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Erdogans Wahlsieg
"Erdogan ist jetzt auf dem Zenit der Macht"

Nach dem Sieg des türkischen Regierungschefs Recep Tayyip Erdogan bei der Präsidentenwahl hat sich Grünen-Chef Cem Özdemir skeptisch über den angekündigten Versöhnungskurs geäußert. Er sagte im Deutschlandfunk, solche Ankündigungen habe es in der Vergangenheit schon häufiger gegeben.

Cem Özdemir im Gespräch mit Dirk Mülller | 11.08.2014
    Grünen-Parteichef Cem Özdemir ist skeptisch, ob der designierte türkische Präsident das Land versöhnen wird.
    Grünen-Parteichef Cem Özdemir ist skeptisch, ob der designierte türkische Präsident das Land versöhnen wird. (dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Auf Erdogan warteten viele Aufgaben in der Innenpolitik; die Außenpolitik der Türkei sein ein "einziger Scherbenhaufen", sagte der Grünen-Parteichef im DLF. "Er ist jetzt auf dem Zenit der Macht, mehr Macht geht nicht." Ob Erdogan die Probleme "anpacken wird oder ob er sich vor allem darauf beschränken wird, seine Macht zu festigen, das bleibt abzuwarten".
    Soziale Themen und Arbeit hätten die Präsidentenwahl entschieden, sagte Özdemir. "Da ist Erdogan offensichtlich derjenige, der bei den Wählerinnen und Wählern am meisten Zuvertrauen ausgelöst hat", sagte Özdemir. "Er hat hauptsächlich die Wahl deshalb gewonnen, weil alle in der Türkei sagen: Korrupt ist wahrscheinlich auch die Opposition, aber bei ihm springt auch etwas für die Bevölkerung ab." Die großen Oppositionsparteien müssten sich fragen, ob es nicht klüger gewesen wäre, einen gemeinsamen Kandidaten zu präsentieren.

    Das Interview in voller Länge mit Cem Özdemir:
    Dirk Müller: Barack Obama kann davon nur träumen: Anders als Wladimir Putin und jetzt bei Recep Erdogan kann er nach Ablauf seiner zweiten Amtszeit nicht einfach weitermachen an der Spitze des Staates. Denn das US-Staatsoberhaupt ist zugleich auch Regierungschef. Zweimal vier Jahre, das ist das Maximum in Washington. Anders in Ankara, anders bei Erdogan. Der türkische Ministerpräsident ist nun zum Staatspräsidenten gewählt worden. Er bleibt also ganz oben in der türkischen Politik. Im Westen äußerst umstritten, will Erdogan nun seine neue Machtposition weiter ausbauen.
    Wie mächtig wird der neue Präsident der Türkei, wie mächtig wird Erdogan? – Unser Thema nun mit dem Grünen-Parteichef Cem Özdemir. Guten Morgen!
    Cem Özdemir: Guten Morgen!
    Müller: Herr Özdemir, vielleicht eine Quizfrage zu Beginn, wenn Sie einverstanden sind! Sie können sich auch ein bisschen Zeit lassen bei der Antwort: Was haben Silvio Berlusconi, das Gespann Schüssel-Haider aus Österreich damals, Nicolas Sarkozy, George Bush und Erdogan gemeinsam?
    Özdemir: Ein Problem mit der Presse?
    Müller: Hatten alle, stimmt auch. Noch eine Chance, meine ich nicht!
    Özdemir: Denselben Frisör?
    Müller: Nein, die Deutschen hätten diese Politiker alle niemals gewählt!
    Özdemir: Ja, da würden mir noch ein paar mehr einfallen!
    Müller: Warum wissen wir immer alles besser als die jeweilige Bevölkerung?
    Özdemir: Vielleicht, weil es schwierig ist, wenn man nicht in dem Land lebt. Ich meine, selbst ich als Mensch türkischer Herkunft, dessen Eltern aus der Türkei kommen, tu mich manchmal schwer, alles wirklich zu verstehen, wenn man nicht in dem Land sich tatsächlich aufhält. In der Türkei geht es im Prinzip wie in jedem anderen Land als wahlentscheidende Frage um die soziale Frage, um die Arbeit. Und da ist Erdogan derjenige, der den Wählerinnen und Wählern offensichtlich am meisten zu vertrauen ausgelöst hat. Und deshalb hat er die Wahl gewonnen. Er hat nicht die Wahl gewonnen, weil die Leute Korruption toll finden, er hat nicht die Wahl gewonnen, weil die Leute es toll finden, wenn man von seinen Nachbarn nicht geliebt wird, sondern er hat ausschließlich die Wahl deshalb gewonnen oder hauptsächlich, weil alle in der Türkei sagen: Korrupt ist wahrscheinlich auch die Opposition, aber bei ihm springt auch was für die Bevölkerung ab.
    Müller: Also, zwei Drittel aller Türken in Deutschland haben auch für Erdogan gestimmt.
    Özdemir: Bei einer Wahlbeteiligung allerdings von unter zehn Prozent. Selbst wenn man berücksichtigt, dass die Wahlbedingungen doch sehr erschwerend waren, weil es keine Briefwahl gab, weil man sich vorher im Internet anmelden musste, ist es doch trotzdem eine sehr niedrige Wahlbeteiligung, die zeigt, dass die meisten Deutschtürken in Deutschland nicht davon ausgehen, dass Herr Erdogan oder wer auch immer die Probleme ihrer Kinder in der Schule löst, sondern die sind selbstverständlich in Deutschland zu lösen.
    "Mehr Macht geht nicht mehr"
    Müller: Aber ist da ein bisschen was dran, dass wir hier ein bisschen Panikmache machen, auch gerade jetzt in Richtung Erdogan, unser aktuelles Beispiel, sagen, das ist eine Katastrophe, das ist für die Beziehungen zum Westen eine Katastrophe und im Inland wirkt er eben auch autoritär, repressiv und alles andere als zukunftsweisend?
    Özdemir: Na ja, er hat ja auch einiges dazu beigetragen, dass er diesen Ruf hat. Den hat er ja auch in der Türkei bei seinen Kritikern. Er ist jetzt auf dem Zenit der Macht, mehr Macht geht nicht mehr, er tut sich ganz offensichtlich schwer damit zu akzeptieren, dass Gerichte nicht nur dazu da sind, einem immer recht zu geben, dass Presse nicht dazu da ist, einen zu huldigen, und eine Zivilgesellschaft nicht die Hauptfunktion hat, eine Art Vorfeldorganisation der eigenen Partei zu sein. Damit tut er sich schwer. Seine Ankündigung, jetzt nach der Wahl zu versöhnen, darf man doch sehr skeptisch sein, ob er der diesmal Taten folgen lässt, auch die gab es ja nicht zum ersten Mal. Die Region, in der sich die Türkei befindet, ist mittlerweile hoch explosiv im wahrsten Sinne des Wortes, die türkische Außenpolitik ist de facto gescheitert, sie ist ein einziger Scherbenhaufen, und innenpolitisch warten viele Aufgaben auf ihn. Ob er die alle anpacken wird oder ob er sich vor allem darauf beschränken wird, seine Macht zu festigen, das bleibt abzuwarten.
    Müller: Würde demnach immer noch der römische Satz gelten: Brot und Spiele sind am wichtigsten?
    Özdemir: Es geht um Brot und Spiele und die hat er dem Land geboten. Mit Brot ist gemeint, dass die Leute sagen, immerhin gibt es jetzt ein halbwegs funktionierendes Gesundheitssystem, das sich auch Ärmere leisten können, es gibt mehr Jobs, das Pro-Kopf-Einkommen ist gestiegen. Und mit Spiele ist gemeint, dass er die Leute unterhält, dass er ihnen das Gefühl gibt, die Türkei zählt wieder was, im In- und Ausland hat sie Ansehen zugenommen. Dass das natürlich im Prinzip von ihm alles selber durch sein Vorgehen auch infrage gestellt wird, das sind Fragen, die werden sich vermutlich erst morgen und übermorgen stellen.
    Müller: Ich weiß nicht, ob Sie sich in Köln auskennen oder in Nordrhein-Westfalen, aber da ist jede zweite Brücke sanierungsbedürftig. In der Türkei werden ganz große Brücken und Projekte auf den Weg gebracht von Erdogan, zum Beispiel der dritte Flughafen in Istanbul. Dann hat es den Tunnelbau gegeben im Bosporus, dann gibt es Hochgeschwindigkeitszüge, haben wir in der Form bislang noch nicht geschafft. Hat dieser Mann auch eine Vision, die es verdient, erst genommen zu werden?
    Özdemir: Erstens sollte man das Verkehrsministerium grundsätzlich nicht der CSU überlassen, wenn man funktionierende Straßen und Schienenverbindungen möchte, aber das wird unser Problem ja nicht lösen, wenn wir jemanden von der AKP nach Deutschland holen. Die Türkei hat im Prinzip einen Bauboom, der seinesgleichen sucht. Das erklärt auch ein bisschen die Wahlsiege und die Jobs, wo sie herkommen. Sie zahlt allerdings auch einen hohen Preis dafür. Denn bei Herrn Erdogan darf es ja nicht irgendein Flughafen sein, sondern es muss dann gleich einer der größten der Welt sein. Es darf nicht irgendein Kanal sein, sondern es muss gleich am besten eine Parallele zum Bosporus sein mit allen ökologischen Konsequenzen. Und anstatt dass man Sonne und Wind in der Türkei nutzt für die Energieversorgung, müssen es jetzt Atomkraftwerke sein, und zwar aus den Ländern, wo wir die letzten Havarien hatten, aus Russland und aus Japan. Wenn man dann noch weiß, dass die Türkei eine der schlimmsten Erdbebenregionen der Welt ist, kann man sich ungefähr vorstellen, worauf man sich einzustellen hat.
    Müller: Meinen Sie, Erdogan weiß auch um die Situation am Berliner Flughafen?
    Özdemir: Ich hoffe, nicht! Und wenn, dann wird es sicherlich ein spannendes Gesprächsthema zwischen Herrn Erdogan und Frau Merkel, wenn Frau Merkel ihm was über Demokratie erzählt und Herr Erdogan etwas über Infrastruktur!
    Erdogan "Putin gleich"
    Müller: Gucken wir noch einmal nach vorne, im Sinne Erdogans, vielleicht mal von dieser Seite betrachtet: Hat Erdogan das Potenzial, die Türkei aus dieser Krise zu führen, wie sie sie eben genannt haben, also nachhaltige Wirtschaftspolitik zu betreiben, tatsächlich der entscheidende Faktor, auch für uns im Westen wieder als Brücke in Richtung Naher Osten zu werden?
    Özdemir: Zumindest gibt es keine Ausreden mehr. Herr Erdogan hat die Macht absolut in der Hand, Putin gleich gibt es niemanden im Land, der ihn wirklich kontrollieren kann, vielleicht mit der Ausnahme Selahittin Demirtas, den Überraschungssieger der Wahl, vielleicht sogar eigentlichen Sieger neben Erdogan, denn er hat seine Wählerstimmen mobilisieren können und hat sogar welche dazugewonnen, neben den kurdischen Wählern auch Wähler aus dem Westen, die ganz offensichtlich eine liberale Gesellschaft wünschen, ökologischere Gesellschaft wünschen, mehr Bürgerrechte wünschen. Insofern, muss man vielleicht sogar sagen, deutet sich da die eigentliche Opposition in der Türkei an und die offiziellen großen Oppositionsparteien müssen sich fragen, ob es nicht ein Fehler war, einen gemeinsamen Kandidaten zu präsentieren, dem es nicht gelungen ist, das Wählerspektrum dieser zwei größeren Oppositionsparteien auszuschöpfen. Wie sich Erdogan entwickelt, habe ich mir abgewöhnt, Prognosen anzustellen, denn das hat sich bis jetzt praktisch immer als falsch erwiesen. Erdogan wurde zunehmend autoritärer, insofern gibt es keinen Anlass, wirklich zu glauben, dass sich in der Türkei Grundlegendes ändert bei Herrn Erdogan, trotz dieses Wahlsieges.
    Müller: Dann hätte das Ganze vielleicht ein Gutes, wenn man das so sieht: Die Beitrittsdebatte zur Europäischen Union hat sich damit erledigt?
    Özdemir: Sie hat sich vielleicht nicht endgültig erledigt, aber sie hat auch nicht an Fahrt gewonnen durch den Wahlsieg von Herrn Erdogan. Man darf doch skeptisch sein, ob Herr Erdogan selber Großes damit verbindet, ob er tatsächlich hofft auf die Mitgliedschaft. Mein Eindruck ist, dass sowohl in Berlin oder Brüssel als auch in Ankara man eigentlich so eine klammheimliche Verständigung hat, die so aussieht: Wir hier in Europa und in Berlin tun so, als ob die Türkei eine faire Chance auf eine Mitgliedschaft hätte, und in Ankara tut man so, als ob man noch an die Mitgliedschaft glaubt.
    Müller: Versuchen wir, Herr Özdemir, eine kleine inhaltliche Brücke zu bauen: Sie haben eben gesagt, in der Außenpolitik ist Erdogan komplett gescheitert. Nun haben wir den Irak, die Krise des Irak gar nicht weit weg von der Türkei, ganz im Gegenteil. Die Kurden, die unter Druck sind, die Amerikaner, die sich jetzt beteiligen, kann Erdogan dort eine Rolle spielen?
    Özdemir: Er muss seine Politik grundlegend ändern. Dazu gehört, dass er auf eine Partnerschaft mit den Kurden setzen muss, denn die Kurden sind zurzeit die einzige Ordnungsmacht in der Region, die für Stabilität sorgen können. Insbesondere die Führung um Barzani im Nordirak, in Irakisch-Kurdistan ist säkular, sie ist prowestlich und sie sind die Einzigen, die IS stoppen können, da leider in Bagdad wir Chaos haben, es dem gewählten Ministerpräsidenten nicht gelingt – er versucht es ja auch gar nicht – eine Regierung der Einheit zu bilden. Insofern muss Herr Erdogan darauf setzen, eng mit den Kurden zusammenzuarbeiten. Dazu ist aber auch dringend notwendig, dass er die Terroristen stoppt, im Inland wie in der Nachbarschaft. Allzu lange hat die Türkei die IS- oder ISIS-Terroristen durch die Türkei durchreisen lassen, übrigens in beide Richtungen, auch rückwärts in Richtung Europa und Deutschland. Und das geht nicht.
    Obama versucht Kurskorrektur im Irak
    Müller: Viele, Herr Özdemir, bei uns zu Lande, werden ja vielleicht überrascht sein, dass Sie sich ganz klar für Waffenlieferungen ausgesprochen haben in Richtung kurdische Armee im Kampf gegen ISIS. Das haben wir alle richtig verstanden?
    Özdemir: Ich sage es gerne noch mal: Die Amerikaner wiederholen gerade nicht den Fehler, den sie unter George W. Bush gemacht haben, Obama versucht, die Politik zu korrigieren. Allerdings hat er auch das Problem, dass wir im Irak einen Scherbenhaufen haben. Und den Scherbenhaufen löst man nicht damit, dass man sich um den Irak nicht mehr kümmert. Sondern wir müssen jetzt leider Gottes – übrigens auch ein Fehler von Frau Merkel und der CDU/CSU, die damals ja für den Krieg waren und am liebsten deutsche Soldaten hingeschickt hätten –, wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die IS oder ISIS gestoppt wird. Das macht man nicht, indem man mit ihnen Diskussionen macht, sondern das macht man so, wie es die Amerikaner machen, indem Sie sie aus der Luft bombardieren und dafür sorgen, dass die Kurden auf dem Boden das Land wieder zurückerobern und befreien und damit die Jesiden, Christen, Turkmenen und andere befreien. Und die Kurden machen das wiederum nicht mit der Yogamatte unterm Arm, sondern sie machen es mit Waffen. Und diese Waffen kriegen sie gegenwärtig in Form von Munition beispielsweise aus den USA. Wer das kritisiert, muss sagen, wie es anders geschehen soll.
    Müller: Macht die SPD ja beispielsweise. Aber diese Bomben erinnern ja auch an George Bush, Sie nicht?
    Özdemir: Mich erinnert Obamas Politik daran, dass er eine Politik geerbt hat, die man nicht mal seinem schlimmsten Feind wünscht. Er hat mit Afghanistan ein Land geerbt, wo man so ziemlich alles falsch gemacht hat, was man falsch machen kann, im Krieg gegen den Terrorismus, und er hat vor allem mit dem Irak-Krieg einen unnötigen, einen falschen Krieg geerbt, den er nie wollte. Er hat ja als einer, der wenigen auch damals schon gegen diesen Krieg opponiert und hat ihn jetzt geerbt. Aber so ist das halt, manchmal kann man sich nicht aussuchen, was man bekommt. Und jetzt muss er versuchen, die Scherben zusammenzulesen, die ihm George W. Bush hinterlassen hat. Und ich sage es nochmals: Wenn es nach Frau Merkel gegangen wäre, wären es auch die Scherben von Frau Merkel gewesen.
    Müller: Heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk Grünen-Parteichef Cem Özdemir. Danke für das Gespräch, Ihnen noch einen schönen Tag!
    Özdemir: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.