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Walter Wüllenweber
"Frohe Botschaft"

War früher wirklich alles besser? Mitnichten, betont Walter Wüllenweber. Sein Buch ist vielmehr ein beeindruckendes Plädoyer für die Rückkehr zum Faktischen. Es stehe nicht gut um die Menschheit, aber besser als je zuvor, meint der "Stern"-Autor und belegt seine These anhand zahlreicher Beispiele.

Von Christina Janssen | 24.06.2019
Hintergrundbild: Ein Globus im schwarzen All, der an unterschiedlich bunt eingefärbt ist und in der Mitte eine graue Fläche zeigt: das Ozonloch über der Antarktis. Vordergrund: Buchcover
"Immerschlimmerismus" verzerrt das Gesamtbild (dpa/DLR & DVA)
Der Reflex funktioniert und springt schon nach zwei Seiten Lektüre an: Da schreibt Wüllenweber, Jahrgang '62, seit er den Kindergarten besucht habe, sei die Zahl der Hungertoten weltweit um 99 Prozent zurückgegangen. – Kann nicht sein. Oder doch? Die Zahlen geben Wüllenweber Recht. Und so geht es munter weiter: Saurer Regen und Ozonloch, Hunger und Armut, Kriminalität und der Kampf gegen Krebs – Wüllenweber belegt anhand von Daten und Zahlen, was sich in den vergangenen Jahrzehnten zum Guten entwickelt hat.
"Anfang der 80er Jahre machten Forscher eine beängstigende Entdeckung: Jedes Jahr im September verschwindet die Ozonschicht über der Antarktis. Schnell machte das Ozonloch Karriere. Es war eine der großen berechtigten Ängste nicht nur der Deutschen."
Die Weltgemeinschaft reagierte. Greenpeace ließ 1992 den ersten FCKW-freien Kühlschrank entwickeln. Heute sind die schädlichen Fluorchlorkohlenwasserstoffe aus Spraydosen und Kühlschränken verschwunden - und seit 2016 wissen wir: Das Ozonloch schließt sich wieder:
"Der Kampf gegen das Ozonloch ist der bislang größte Erfolg der internationalen Umweltpolitik und ein Beweis für die Wirksamkeit des Engagements der Zivilgesellschaft für die Umwelt."
"Immerschlimmerismus" als Erblast der Evolution
Ähnliche Erfolge belegt Wüllenweber in weiteren Bereichen. Gesundheit, Bildung, Wohlstand und Menschenrechte sind einige davon. Doch die frohen Botschaften passen nicht ins Weltbild. Irgendwie wird doch – zumindest gefühlt - alles immer schlimmer. Woher unser tiefsitzender Pessimismus rührt, ergründet Wüllenweber im zweiten und spannendsten Teil seines Buches:
"Die Evolution hat den Menschen als Fluchttier konstruiert. Menschen suchen ständig nach etwas, das Angst macht. Auch, wenn es dafür keinen Grund gibt. Vorsichtshalber. Aus Prinzip."
Vor diesem Hintergrund fällt es nicht schwer sich auszumalen, welche Wirkung die mediale Dauerreizung unseres Angstzentrums entfalten kann. Auf 10 Stunden Mediennutzung bringt es der durchschnittliche Deutsche inzwischen pro Tag. Unablässig erhält der "Immerschlimmerismus" neue Nahrung. Eine paradoxe Rolle kommt da ausgerechnet dem Qualitätsjournalismus zu, für den Wüllenweber selbst steht.
"Die frohen Botschaften sind nicht sexy. Darum ignoriert auch der Qualitätsjournalismus systematisch die positiven Sensationen in seiner Berichterstattung. Doch sein Anteil an deren Zustandekommen kann kaum überschätzt werden. Das Aufdecken und Bewusstmachen von Missständen ist eine der entscheidenden Erfolgsmethoden unserer Gesellschaften."
Soziale Medien sind "hochwirksame Angstmaschinen"
Das Dilemma: Viele der schlechten Nachrichten sind meldenswert. In ihrer Gesamtheit verzerren sie jedoch das Bild. Verstärkt wird der von Kriegen, Terroranschlägen, Unfällen, Straftaten und Naturkatastrophen geprägte Negativ-Eindruck durch die oft faktenfrei geführten Diskussionen in den sozialen Medien. Hocheffiziente "Angstmaschinen", meint Wüllenweber, in deren Echokammern nur Meinungen zählen, nicht Fakten. Auf eben diesem Nährboden gedeihe – so die Analyse – der Extremismus. Mit ihrem ewigen Narrativ vom kurz bevorstehenden Untergang, der "Mutter aller Fake News", bedienten die Rechtspopulisten den pessimistischen Instinkt:
"Es gibt eine neue ideologische Grenze. Sie verläuft nicht zwischen links und rechts, nicht zwischen Kommunismus und Kapitalismus, nicht zwischen Ost und West, nicht zwischen Nord und Süd und nicht zwischen Arm und Reich. Die neue politische Aufteilung ergibt sich aus der Antwort auf eine Frage: Wie bewertet man die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte? Es treten an: Fakten gegen Gefühl, Zuversicht gegen Verunsicherung, Selbstbewusstsein gegen Angst, Zufriedenheit gegen Unzufriedenheit. Der neue ideologische Graben verläuft zwischen froher Botschaft und Hiobsbotschaft."
Mit ihren Angriffen auf freie Presse und Wissenschaft rütteln Populisten an den Grundpfeilern des lernenden Gemeinwesens – und dies mit Erfolg: So werden etwa Flüchtlinge in Umfragen inzwischen von einer knappen Mehrheit der Deutschen als Überforderung oder Bedrohung bezeichnet. Ohne rationalen Grund, schreibt Wüllenweber:
"Die Staatskassen blieben gefüllt. Alle Sozialleistungen wurden pünktlich auf den Cent überwiesen, niemand musste länger auf eine Baugenehmigung warten oder auf die Zusendung eines Falschparktickets. Keine Subvention wurde gestrichen, kein öffentliches Projekt verschoben. War was?"
Epochale Erfolge stehen auf der Kippe
Wüllenweber ist nicht naiv. Die Erfolge der vergangenen Jahrzehnte seien weder selbstverständlich noch unumkehrbar, warnt er. Die To-do-Liste der Menschheit bleibt in der Tat herausfordernd genug: Klimawandel, Insektensterben, Plastikmüll, das Abholzen der Regenwälder - gemessen an den "Sustainable Development Goals" der Vereinten Nationen steht es nicht gut um den Umweltschutz. Hinzu kommen laut Wüllenweber Rückschritte in puncto Demokratie und Menschenrechte in Ländern wie den USA, der Türkei oder Ungarn. Die "Frohe Botschaft" lautet daher nicht "alles ist gut", sondern vielmehr "alles könnte gut werden" - ausreichend Engagement in Politik und Zivilgesellschaft vorausgesetzt. Ein Blick in die nicht allzu ferne Zukunft:
"Machen Sie ein Kreuzchen in den Kalender. 4. September 2040, ein Dienstag. An diesem Tag wird Deutschland feiern: 25 Jahre Flüchtlinge."
Gesinnungsjournalismus? Ja natürlich. Jedenfalls, wenn man darunter versteht, für die Relevanz wissenschaftlich fundierter Fakten zu streiten. Wüllenwebers lesenswertes Buch könnte dazu beitragen, eine Debatte anzustoßen – über evidenzbasierte Politik und Journalismus. Doch Augenblick: das Haar in der Suppe. Ein Kapitel bleibt der Autor uns schuldig. Es fehlt die Antwort auf die Frage, wie Aufklärung im Zeitalter des Postfaktischen gelingen kann – durch Datenjournalismus oder "constructive journalism", Medienerziehung in den Schulen, die Vermittlung von Datenkompetenz in der universitären Ausbildung? Fast wirkt es, als sei Wüllenweber hier die Puste ausgegangen. - Diese kritische Anmerkung hat die Rezensentin übrigens nach der Lektüre als erstes zu Papier gebracht. Ein eingeübter Reflex.
Walter Wüllenweber: "Frohe Botschaft. Es steht nicht gut um die Menschheit – aber besser als jemals zuvor."
DVA, 224 Seiten, 18 Euro.