Martin Zagatta: Der Bahnverkehr in Deutschland läuft erst nach und nach wieder an, nachdem der Fernverkehr am Morgen zum völligen Stillstand gekommen ist – aufgrund von Streiks. Entsprechend groß war auch das Chaos an den Bahnhöfen und der Frust. Klaus-Dieter Hommel ist der stellvertretende Vorsitzende der EVG, der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, die diesen Streik auf den Weg gebracht hat. An ihn deshalb die Frage, ob es denn wirklich notwendig war, so massiv vorzugehen, den gesamten Fernverkehr zum Stillstand zu bringen?
Klaus-Dieter Hommel: Ja. Die Verantwortung dafür, dass wir heute zu Warnstreiks greifen mussten, trägt der Bahnvorstand. Das ist für ihn nicht überraschend gekommen. Wir haben bereits vor dieser Verhandlungsrunde angekündigt, dass wir erwarten, zu einem Ergebnis zu kommen. Wir waren kurz davor. Der Bahnvorstand wollte sich allerdings wiederum vertagen, nachdem er uns erst ein Angebot und dann ein nächstes, was dem ersten nicht mehr entsprach, vorgelegt hat. Deshalb sind diese Warnstreiks heute notwendig gewesen. Wir haben Verständnis dafür, dass die Kunden verärgert sind. Nur sie müssen sich in die Lage der Kolleginnen und Kollegen versetzen, die die schwierige Situation der Bahn durch ihre gute Arbeit immer wieder retten und den Kunden ein möglichst gutes Produkt gewährleisten. Und das muss natürlich auch honoriert und gewürdigt und bezahlt werden.
"Wir lassen uns nicht an der Nase herumführen"
Zagatta: Die Bahn nennt Ihren Streik völlig unangemessen. Die wollte ja morgen weiterverhandeln. Diesen einen Tag konnten Sie nicht abwarten?
Hommel: Ja, gut! Diese Streikrhetorik, die muss man ganz einfach zur Kenntnis nehmen. Der Arbeitgeber hält Streiks für unangemessen, der Arbeitgeber hält Forderungen der Gewerkschaften für unangemessen. Es geht nicht darum, dass wir hätten nicht noch zwei Tage abwarten können, sondern wir haben vorher deutlich gemacht, wie wir zu einem Ergebnis kommen wollten, und wir lassen uns natürlich auch am Verhandlungstisch nicht an der Nase herumführen. Das haben sich die Kolleginnen und Kollegen nicht verdient und wir hätten fertig sein können. Wir sind natürlich bereit, wenn die Bahn ernsthaften Willen erklärt, an den Verhandlungstisch zurückzukehren.
Zagatta: Sie sagen selbst, sie sind sich schon ziemlich nahe gekommen. Und dann muss man das so brutal auf dem Rücken der Kunden austragen? War das nötig?
Hommel: Es geht nicht darum, etwas auf dem Rücken der Kunden auszutragen. Das ist nun mal in einem solchen Geschäft wie der Bahn nicht zu vermeiden. Ich darf an der Stelle daran erinnern, dass wir seit der Bahnreform, seit 1993, das erste Mal zu einer solchen Maßnahme gegriffen haben. Natürlich wollten wir deutlich machen – und das haben wir geschafft und unsere Kolleginnen und Kollegen waren heute sehr solidarisch und erfolgreich -, dem Bahnvorstand klarzumachen, dass jetzt sozusagen ultima ratio ist. Wir wollen jetzt zum Ende kommen und ich hoffe, der Bahnvorstand hat das Signal verstanden und wir kommen nicht weiter in die Weihnachtszeit und müssen nicht noch einmal zu diesem Mittel greifen.
"Wir haben heute auch sehr viel Solidarität gesehen"
Zagatta: Herr Hommel, jetzt haben viele Kunden in der Vergangenheit immer wieder Verständnis gehabt für Anliegen der Bahn beziehungsweise wenn solche Streiks angesetzt wurden. Angesichts der vielen Verspätungen, der vielen Zugausfälle, der vielen Pannen, scheint das jetzt umzuschlagen. Sehen Sie das ein? Ist das notwendig, in so einer Situation, wo die Bahn solche Schwierigkeiten hat? Kann man da noch streiken?
Hommel: Zwei Dinge. Erstens ist meine Wahrnehmung und unsere Wahrnehmung nicht, dass die Mehrzahl der Kunden kein Verständnis hat. Dass sie verärgert sind, wenn sie früh nicht zur Arbeit kommen oder ihre Züge nicht fahren, ist verständlich. Aber wir haben heute auch sehr viel Solidarität gesehen. Und dass dieses Produkt Bahn überhaupt noch funktioniert und noch einigermaßen für den Kunden akzeptabel ist, das ist nicht diesem Bahnvorstand zu verdanken, sondern der guten Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und das verdient Wertschätzung. Wir haben heute auch erlebt, dass Menschen gesagt haben, jawohl, wir können euch verstehen, ihr arbeitet an der Leistungsgrenze, ihr müsst das ausbaden, was der Arbeitgeber in Qualität und Pünktlichkeit nicht schafft. Ich glaube, mit diesem Signal heute haben wir das hoffentlich geschafft und es wird nicht noch mal notwendig sein, das zu wiederholen.
Zagatta: Jetzt sagt ja selbst die GdL, die andere Bahngewerkschaft, dass man in so einer Situation auch einmal Rücksicht nehmen müsste. Das sehen Sie nicht ein?
Hommel: Ich möchte das, was die GdL sagt, hier nicht kommentieren. Es steht der GdL frei und dem Arbeitgeber frei, jederzeit mit der GdL einen Tarifvertrag abzuschließen. Wir wissen, dass die GdL sich vor zwei Entgeltrunden gebunden hat, bevor sie einen Warnstreik oder einen Arbeitskampf durchführt in eine Schlichtung zu gehen. Diese Vereinbarung gibt es mit uns nicht. Letztendlich muss die GdL entscheiden, wann und in welcher Höhe und in welcher Art und Weise sie mit dem Arbeitgeber einen Tarifvertrag abschließt.
"Die Bahn wollte verzögern"
Zagatta: Wie weit liegen Sie denn noch auseinander? Die Bahn sagt jetzt, Sie fordern 7,5 Prozent mehr Lohn; man habe sieben Prozent geboten. Ist das tatsächlich so wenig, was Sie jetzt noch unterscheidet?
Hommel: Tarife sind mehr als Prozente und die Aussagen der Bahn stimmen nicht mit der Wirklichkeit überein. Es geht hier um ein Gesamtpaket, was sich aus mehreren Komponenten zusammensetzt. Da spielt die prozentuale Erhöhung natürlich selbstverständlich eine Rolle. Wir wollen ein Wahlmodell einführen, was wir ja erfolgreich bereits in der letzten Runde zur Entlastung der Menschen eingesetzt haben oder abgeschlossen haben, und das in einer bestimmten Laufzeit. Das alles muss man übereinander bringen und wenn das dann passt, dann gibt es einen Abschluss. Wir hatten geglaubt, dass wir diesen Abschluss erreichen können. Die Bahn wollte das offensichtlich nicht. Sie wollte verzögern, aus welchen Gründen auch immer, und die Konsequenzen hat sie heute gespürt. Die Mitarbeiter sind bereit, das nicht hinzunehmen, und ich hoffe, dass wir jetzt wieder am Verhandlungstisch zurück zu einem Ergebnis kommen.
Zagatta: Herr Hommel, wenn ein Privatunternehmen rote Zahlen schreibt, dann wird Weihnachtsgeld gekürzt, eventuell Löhne. Ihre Gehälter werden sogar vom Steuerzahler noch subventioniert. Da kann man doch sauer werden, wenn Sie jetzt noch streiken.
Hommel: Ich muss widersprechen. Hier werden keine Gehälter von Steuerzahlern subventioniert, sondern die Bahn schreibt Gewinne, rund zwei Milliarden Euro im Jahr, und davon wollen die Kolleginnen und Kollegen etwas abhaben.
Zagatta: Und erhält trotzdem sehr viel Geld vom Steuerzahler.
Hommel: Dass hier der Steuerzahler die Gehälter bezahlt, das ist schlicht und ergreifend falsch.
"Arbeitskampf ist ein legitimes Mittel"
Zagatta: Aber die Bahn als Unternehmen erhält doch sehr viel Geld auch vom Steuerzahler, das sie in Infrastrukturen stecken muss, und da wird zwangsläufig Geld abgezweigt werden, wenn die Gehälter entsprechend steigen.
Hommel: Aber die Gehälter werden nicht von dem Geld, was der Bund zur Verfügung stellt für die Infrastruktur, bezahlt. Sondern das Geld, was die Kolleginnen und Kollegen in der Lohntüte oder heutzutage auf dem Konto haben, müssen sie sich hart erarbeiten und das jeden Tag mit sehr großen Belastungen und mit immer weniger Personal und immer mehr Leistung, die abgefordert wird. Da ist es nur gerecht, wie in anderen Unternehmen auch, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihren Anteil fordern. Im Übrigen – das haben Sie ja sicherlich auch berichtet – geht es hier nicht um eine kurze Laufzeit, sondern wir bewegen uns hier in einem Zeitraum von 24 Monaten. Der Arbeitgeber wollte in seinem letzten Angebot diese Laufzeit noch einmal verlängern, sodass wir hier, ohne überhaupt ein schlechtes Gewissen zu haben, die Forderungen, die wir gestellt haben, auch mit den Mitteln des Arbeitskampfes, wenn es notwendig ist, umsetzen können.
Zagatta: Und Sie missbrauchen da kein Monopol?
Hommel: Ich kann den Begriff Missbrauch im Hinblick auf Arbeitskampf in keinster Weise in Übereinstimmung bringen. Der Arbeitskampf ist ein legitimes Mittel und es wird damit nicht besser, wenn man versucht, in irgendeiner Art und Weise Kolleginnen und Kollegen, die in einem Unternehmen wie der Bahn AG arbeiten, auf diese Art und Weise von ihren Rechten in irgendeiner Art und Weise abzubringen.
"Ich kann weitere Streiks nicht ausschließen"
Zagatta: Herr Hommel, wie geht es weiter? Sie haben angedeutet, wenn die Verhandlungen scheitern, oder wenn es schwierig wird, unter Umständen neue Streiks. Schließen Sie weitere Streiks vor Weihnachten aus, oder kann es die geben?
Hommel: Wenn ich die ausschließen würde, würde ich in die Köpfe der Arbeitgeberseite gucken können. Wir gehen davon aus, dass die Arbeitgeberseite, die uns aufgefordert hat und erklärt hat, mit uns weiter verhandeln zu wollen, das heutige Signal verstanden hat und dann in der nächsten Verhandlungsrunde wir zu einem Ergebnis kommen. Dann wären weitere Maßnahmen nicht notwendig. Und ich sage das hier noch mal: Es geht nicht um den Streik an sich oder um einen Streik an sich, sondern es geht – und das hat die EVG heute sehr deutlich gemacht – um eine ultima ratio, wenn es gar nicht mehr weitergeht. Offensichtlich war das notwendig.
Zagatta: Aber Sie schließen weitere Streiks vor Weihnachten, möglicherweise auch an Weihnachten nicht aus? Habe ich Sie da recht verstanden?
Hommel: Ich kann die nicht ausschließen, weil ich den Verhandlungsablauf nicht einschätzen kann. Wir wollen sie nicht. Wir wollen ein Ergebnis.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.