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Was der Brexit bedeutet
Die Zahl der Fragezeichen wächst

Bis Ende März will die britische Regierung die Austrittsgespräche mit Brüssel beginnen. Das wäre ein Novum in der Geschichte der EU und noch weiß keiner, was am Ende der Verhandlungen stehen könnte. Aber es kursieren schon einige Ideen, wie die zukünftigen Beziehungen aussehen könnten. Begeistert ist niemand - mit einer Ausnahme.

Von Annette Riedel | 04.01.2017
    Britische Fahnen und im Hintergrund Big Ben
    Der Brexit - kompliziert und nach wie vor umstritten. (AFP / Daniel Leal-Olivas)
    "Brexit means Brexit"
    Brexit heißt Brexit – so viel wissen wir von der britischen Premierministerin May. Aber was das nun eigentlich genau heißt, weiß so gut wie keiner. Auch May selbst nicht.
    "Theresa May sagt nicht, dass sie eine andere Lösung anbieten will. Sie wiederholt nur, 'Brexit means Brexit' – das bedeutet, irgendwann müssen wir anfangen."
    Aber wo anfangen und wo soll es hingehen? Das fragt sich nicht nur die französische liberale Europa-Parlamentarierin, Sylvie Goulard. Eigentlich fragen sich das alle in Brüssel. Auch Goulards Kollegin im EU-Parlament, die Abgeordnete der britischen Tories, Julie Girling. Sie hatte entschieden für den Verbleib der Briten in der EU geworben.
    "Ich habe auch keine Antwort – weil es keine gibt. Einige Akademiker und Leute, die in Brüssel arbeiten, haben es vielleicht begriffen, aber sonst weiß niemand, wie das gehen soll."
    Wie kann die "Scheidung" praktisch umgesetzt werden?
    Erst langsam wird die ganze Tragweite dessen erkannt, was der Brexit - allein der Austritt also - für Großbritannien und die Europäischen Union bedeutet. Von den Verhandlungen über die künftige Beziehung ganz zu schweigen.
    Die britische Premierministerin Theresa May.
    Die britische Premierministerin Theresa May. (AFP / STEPHANE DE SAKUTIN)
    "They have no clue how it has to go in the future." Unterstellt der Liberale Guy Verhoftstadt, der die Ansichten des EU-Parlaments in die Verhandlungen mit Großbritannien einbringen wird, den Briten. Es ist ja auch so: Die Briten haben keine Vorstellung; die EU hat aber auch noch keine klare Vorstellung davon, wie "Scheidung" und "Güter-Trennung" praktisch umgesetzt werden können, angesichts des umfangreichen "Hausrats", den man gemeinsam angeschafft hat. Man begebe sich in "unbekannte Gewässer" mit dem Brexit, sagt auch Michel Barnier, der für die EU-Kommission die Verhandlungen über Trennung und künftige Beziehung leiten wird.
    "Das wird juristisch komplex, politisch sensibel und wird wichtige Konsequenzen haben – für unsere Ökonomien, aber vor allem für unsere Menschen."
    Ambitionierter Zeitplan
    Nach Barniers Vorstellungen sollte zumindest der Austrittsprozess rechtzeitig vor der Europawahl im Frühjahr 2019 abgeschlossen sein. Zwar müsste die künftige Beziehung bis dahin noch nicht abschließend verhandelt sein. Und doch scheint der Zeitplan auch dem CDU-Binnenmarkt-Experten im EU-Parlament, Andreas Schwab, angesichts der Komplexität der "Entflechtungs-Arbeit" ein ambitionierter zu sein. Selbst wenn Großbritannien, wie angekündigt, im März das Signal für den offiziellen Beginn der Verhandlungen gibt.
    "Das ist ein komplizierter politischer Prozess, der sicherlich mehr als zwei Jahre brauchen wird."
    Die einzigen, die genau zu wissen vorgeben, wohin die Reise gehen soll, wenn die Briten aus der EU ausgetreten sein werden, scheinen die Politiker der UKIP zu sein – jener Partei also, die sich den Brexit wie keine andere auf die Fahnen geschrieben hatte. Deren Europaabgeordneter Ray Finch findet das alles sehr einfach.
    "Was wir, wie jede andere Nation, wollen, ist ein Freihandelsabkommen. Wenn die EU, wie es scheint, auf einen Handelskrieg besteht, dann wird nicht nur Großbritannien darunter leiden, sondern mehr noch die EU, vor allem auch Deutschland. Das wollen wir nicht. Wir wollen Freunde sein und gleichberechtigte Handelspartner."
    Politische Mehrheiten sind schwierig zu bekommen
    Souveränität ist das Schlüssel-Wort aller britischen Brexit-Befürworter. Aber so leicht, wie sie glauben machen wollen, wäre ein Freihandelsabkommen als Basis künftiger Beziehungen eben auch nicht. Selbst wenn man es politisch wollte. Erstens, würde ein Freihandelsabkommen im Vergleich zum Istzustand erhebliche Abstriche für britische Unternehmen mit sich bringen. Die Niederlassungsfreiheit in der EU stünde beispielsweise zur Disposition. Und umgekehrt die von europäischen Unternehmen in Großbritannien. Zweitens, müssten einem solchen Freihandelsabkommen alle EU-Regierungen zustimmen, ferner das EU-Parlament und alle nationalen Parlamente. Wie schwierig es zurzeit aber ist, politische Mehrheiten für Freihandelsabkommen zu bekommen, hat sich gerade sehr eindrucksvoll beim Abkommen der EU mit Kanada, bei CETA, gezeigt.
    Steven Woolf, britisches EU-Parlamentsmitglied, zuständig für Migration und Finanzen, bei einer Rede anlässlich der jährlichen Ukip-Parteiversammlung in Doncaster/Großbritannien am 26. September 2014.
    Steven Woolfe, britisches Ukip-EU-Parlamentsmitglied (picture alliance / dpa / EPA / LINDSEY PARNABY )
    "Es gibt verschiedene Wege, die uns zum Ziel führen. Und das Ziel sollte sein, dass am Ende des Weges die Europäische Union mit 27 Mitgliedsstaaten geeint dasteht und in enger Partnerschaft mit Großbritannien weiterarbeitet und die britische Regierung ihrer Bevölkerung gegenüber erklären kann, dass sie das Referendum umgesetzt hat."
    Zu verhandeln gibt es aus EU-Sicht noch nichts
    An diesem Ziel, wie es der binnenmarktpolitische Sprecher der EVP-Fraktion im EU-Parlament, Andreas Schwab, benennt, dürfte kaum Zweifel bestehen. Allein, wie es erreicht werden kann – das ist eben die große Frage. Hinter den Kulissen wird in allen europäischen Institutionen seit dem britischen Referendum vor einem halben Jahr vor allem gerechnet: Was kostete die EU der eine oder andere Weg zum Ziel – politisch, aber auch ganz schlicht in Euro und Cent. Zu verhandeln gibt es dagegen, auch hinter den Kulissen, aus EU-Sicht noch nichts. So lange nicht, bis London die europäischen Partner offiziell - gemäß Artikel 50 des Lissabon-Vertrags - unterrichtet hat, dass Großbritannien aus der Union auszutreten wünscht. Daran lässt in der EU niemand einen Zweifel. Auch Michel Barnier, der Brexit-Verhandlungsführer der EU-Kommission, nicht.
    "Negotiations will not start before notification. "
    Und wenn sie denn starten, werden alle drei europäischen Institutionen ein deutliches Wort mitreden wollen. In Brüssel erklärte Bundeskanzlerin Merkel beim EU-Gipfel nach dem Brexit-Referendum im Juni auf fast launige Art das Zusammenspiel von Kommission, EU-Ländern, also dem Europäischen Rat, und EU-Parlament. Dieses Zusammenspiel dürfte nämlich nicht ganz ohne zwischeninstitutionelles Kompetenz-Gerangel abgehen.
    Einen Tag vor dem EU-Gipfeltreffen begrüßt der französische Präsident Hollande Bundeskanzlerin Merkel im Elysee-Palast in Paris
    Einen Tag vor dem EU-Gipfeltreffen begrüßt der französische Präsident Hollande Bundeskanzlerin Merkel im Elysee-Palast in Paris. (ERIC FEFERBERG / AFP)
    "Passen Sie auf, der Artikel 50 ist so wunderbar formuliert: Einer stellt einen Antrag. Auf der Grundlage der Leitlinien verhandelt die Union dann den Austritt – ich kann das jetzt nicht ganz wörtlich zitieren – die Union. Wer ist die Union? Die Union sind ihre drei Institutionen: Der Rat, die Kommission und das Parlament."
    Auf politischer Ebene noch kein schlüssiges Konzept
    Die Brexit-Task-Force von Ratspräsident Tusk leitet der belgische Diplomat Didier Seeuws, der sich bisher nur in Hintergrundgesprächen zum Thema geäußert hat. Klar ist, dass die politischen Leitlinien für die Verhandlungen zum künftigen Verhältnis mit Großbritannien von den EU-Ländern vorgegeben werden. Klar ist auch: Es wird, aus Sicht der EU, nicht auf ein Verhältnis hinauslaufen können, das die Briten von den Pflichten und Kosten der Mitgliedschaft entbindet und ihnen gleichzeitig die Vorteile weiter gewährt. Oder, wie es ein EU-Offizieller salopp ausdrückte: "Sie können nicht die Scheidung wollen und gleichzeitig weiter Sex haben wollen." Ewas weniger salopp sagt es Michel Barnier im Namen der EU-Kommission so:
    "Die Beziehungen werden von anderer juristischer Natur als eine Mitgliedschaft sein und werden eine neue Partnerschaft mit den Briten nach deren Austritt besiegeln."
    Wie gesagt, darüber welch "juristischer Natur" diese neue Partnerschaft sein wird, darüber gibt es momentan auf politischer Ebene noch kein schlüssiges Konzept. Die Brüsseler Denk-Fabrik Bruegel, die sich in erster Linie den wirtschaftlichen Aspekten der Europäischen Union widmet, hat ein Konzept vorgelegt – ohne politische Rücksichten nehmen zu müssen, sozusagen. Direktor von Bruegel ist Guntram Wolff.
    Der Binnenmarkt als ökonomische Realität
    "Die ersten zwei Monate nach dem Referendum waren, glaube ich, Wut auf allen Seiten und Enttäuschung und Fassungslosigkeit. Ich glaube aber, dass man ja nicht in einem Zustand der Wut bis ans Ende der Zeiten bleiben kann. Also, man muss schon irgendwann anfangen, über konstruktive Lösungen nachzudenken. Ich glaube, unser Denkanstoß zielt so mehr darauf ab, ein bisschen über die lange Frist nachzudenken."
    In dem Ständer klemmen der Tagesspiegel, die Berliner Morgenpopst und die Süddeutsche Zeitung. Im Hintergrund unscharf Süssigkeitenregale.
    Zeitungen mit Schlagzeilen zum Brexit hängen am 25.06.2016 in Berlin in einem Kiosk. (dpa / Klaus-Dietmar Gabbert)
    Der Denkanstoß - den fünf renommierte Autoren im Auftrag der Denkfabrik geben, darunter auch der CDU-Politiker Norbert Röttgen - geht in eine Richtung, die einem Tabu-Bruch gleichkommt: Sie denken den Binnenmarkt nicht als das, was er immer auch für die meisten EU-Länder war – vielleicht mit Ausnahme der Briten: ein politisches Projekt. Sie denken ihn rein funktional als ökonomische Realität. Sie kommen zu dem Schluss, dass es funktionieren könnte, dem künftigen Ex-EU-Mitglied Großbritannien den Zugang zum Binnenmarkt weiterhin zu gewähren. Unter der Bedingung, dass zwar weiterhin gemeinsame Regeln und Standards gelten müssten, aber zwischen Großbritannien und der EU nur noch drei von vier Freiheiten: ein Binnenmarkt für Waren, Dienstleistungen, Finanzen. Aber nicht mehr für Arbeitnehmer.
    Ein Satellit namens Großbritannien
    "Ich persönlich denke, dass diese Arbeitnehmerfreizügigkeit eine großartige Sache ist und dass es wirklich auch eine persönliche Freiheit ist, dass Menschen woanders hingehen können und arbeiten können. Aber, wir haben eben diese politische Realität, dass in England in der Bevölkerung das Gefühl anscheinend war, wir wollen nicht so viel und da muss man das auch irgendwo angehen das Thema und eine Lösung finden."
    Bruegel-Chef Guntram Wolf und seine Mit-Autoren haben einen Lösungsansatz, den sie unter der Überschrift "kontinentale Partnerschaft" entwickelt haben. Im Kern wäre die EU. Um sie herum würde gewissermaßen wie ein Satellit Großbritannien kreisen.
    "Die Idee ist wirklich, dass Großbritannien eben die Möglichkeit hätte, eine gewisse Kontrolle bei der Personen-Freizügigkeit zu haben – also da ist es sozusagen mehr Souveränität. Aber, im Umkehr-Schluss, weniger Souveränität letztlich bei der Gesetzgebung hat. Und das Gesetzgebungsverfahren ist ein EU-Gesetzgebungsverfahren. Dieses kann man auch nicht antasten. Und das muss auch respektiert werden."
    Der begehrte Zugang zum Binnenmarkt
    Im "Rat der kontinentalen Partnerschaft" – einer Art EU-Gipfel plus Großbritannien – könnte London weiter mitreden. Aber nicht mitentscheiden. Um den Preis des begehrten Zugangs zum Binnenmarkt würde London also Mitbestimmungsrechte verlieren, aber Souveränität darüber gewinnen, wie viele EU-Ausländer es im Land haben möchte. Und umgekehrt könnten die EU-Länder Quoten für britische Arbeitnehmer einführen, wenn sie es wünschten. Ein Modell, das für die Briten attraktiv sein könnte? Nein, sagt der Europaabgeordnete der UKIP, Ray Finch.
    "Wir betrachten unsere europäischen Cousins als unsere engsten Partner. Aber an dem Bruegel-Papier ist absolut alles falsch. Es liefe darauf hinaus, dass wir eigentlich noch immer in der EU wären. Aber in einer noch stärker untergeordneten Position als zuvor. Das ist absolut nicht das, wofür das britische Volk gestimmt hat."
    Blick auf Londons Finanzdistrikt mit den Bankentürmen von unter anderem HSBC, Citigroup, JPMorgan Chase, Barclays.
    London fürchtet um seinen Finanzmarkt. (AFP)
    Nicht viel anders sieht das die britische Tory-Abgeordnete und EU-Befürworterin, Julie Girling.
    "Für ein Land wie Großbritannien, das aus der EU austritt, ist das problematisch. Nach dem Bruegel-Konzept wird allzu deutlich, was wir nach einem Austritt nicht mehr hätten. Wenn es die EU nicht gäbe, wäre das ein sehr interessantes Konzept. Aber wir haben die EU."
    Beziehungen unterhalb der Mitgliedschaft
    Das Konzept der "Kontinentalen Partnerschaft" könnte - aus Sicht seiner Väter - modellhaft sein für enge Beziehungen der EU zu anderen Ländern unterhalb der Mitgliedschaft. Zu Ländern wie Ukraine, Schweiz, vielleicht Norwegen oder der Türkei. Und das nicht nur beim Thema Binnenmarkt. Auch in den Bereichen Sicherheit, Verteidigung, Außenbeziehungen, Klima-Politik. Die Kröte nur, die zu schlucken wäre: Nach dem Bruegel-Konzept bliebe die EU letztlich tatsächlich die Bestimmerin. Die Meinungen der Briten oder anderer "kontinentaler Partner" in Gesetzgebungsverfahren würden zwar gehört. Und sollten berücksichtigt werden. Ein Stimmrecht oder gar ein Veto-Recht hätten die Partner aber nicht. Zudem müssten sie sich am EU-Haushalt beteiligen.
    "Also, das EU-Budget ist absolut wichtig. Es ist ein Mechanismus, um die Teilnahme am gemeinsamen Markt überhaupt zu erlauben. Einheitliche Subventionspolitik ist unabdingbar, wenn man einen einheitlichen Markt haben möchte. Auch die Struktur-Fonds sind notwendig, weil gewisse Länder vollen Markt-Zutritt geben, obwohl sie vielleicht noch gar nicht in dem Entwicklungsstadium sind."
    Idee einer kontinentale Partnerschaft
    Teilnahme am Binnenmarkt, ohne allerdings die Arbeitnehmerfreizügigkeit weiter akzeptieren zu müssen, um den Preis weiter ins EU-Budget einzuzahlen und die Gesetzgebungskompetenz der EU weiter zu akzeptieren – darauf liefe das Bruegel-Modell für die künftige Beziehung zwischen der EU und den Briten hinaus. Das EU-Parlament muss am Ende des Verhandlungsprozesses dem Ergebnis zustimmen. Es ist kaum vorstellbar, dass sich eine Mehrheit für den Verzicht auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit fände – diese ist sozusagen in der DNA der allermeisten Europa-Abgeordneten verankert. Auch in der des SPD-Parlamentariers Jo Leinen.
    Flagge Norwegen
    Das "Modell Norwegen" stößt auf wenig Begeisterung. (picture alliance / ZB / Patrick Pleul)
    "Die Idee 'kontinentale Partnerschaft' ist nicht durchdacht, weil in der Tat die Idee Europas nicht nur ein großer Wirtschaftsraum ist, sondern auch ein politischer Raum, der den Bürgerinnen und Bürgern zugutekommt und nicht nur den Wirtschaftsakteuren. Von daher waren die vier Freiheiten immer zusammen gedacht. Und wenn man das jetzt auseinanderdividiert, dann bekommt man ein anderes Europa-Bild."
    Eines, mit dem sich auch die französische Liberale Sylvie Goulard nicht anfreunden mag.
    Debatte über Arbeitnehmerfreizügigkeit
    "Es ist die Frage unseres Schicksals in Europa. Wenn wir Konzessionen machen im Bereich der Freizügigkeit der Menschen, dürfen wir uns keine Illusionen machen. Das wäre das erste Mal seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Und das hätte Konsequenzen für die Zukunft der EU und der Eurozone."
    Zum Beispiel die – vielleicht die am meisten gefürchtete - dass andere Länder ebenfalls solche Konzessionen wünschen, weil sie ebenfalls die Arbeitnehmerfreizügigkeit im Binnenmarkt einschränken wollen.
    "In diesem Bruegel-Vorschlag sind viele interessante Anmerkungen. Wir brauchen auch Lösungen. Nur ich finde, damit können sich auch Wissenschaftler befassen, aber die Politik sollte jetzt erst mal abwarten, was die Briten eigentlich machen. Und dann braucht es eine Antwort. Die kann aber nicht heißen, dass wir auf eine dieser Grundfreiheiten verzichten."
    Das ist für den CDU-Europaabgeordnete Herbert Reul nicht verhandelbar. Aus seiner Sicht wäre das "Modell Norwegen" das erstrebenswerte für die künftige Beziehung der EU mit seinem Ex-Mitglied Großbritannien. Darin ist er sich mit seinem SPD-Kollegen Jo Leinen einig.
    Vielleicht auch das "Modell Norwegen"
    "Weil Norwegen sich zum Binnenmarkt bekennt, auch die Regeln des Binnenmarkts einhält. Und Norwegen zahlt in die EU-Kasse für die Vorteile, die die norwegische Gesellschaft und Wirtschaft vom europäischen Binnenmarkt hat. Das muss auch Ausgangspunkt unserer Verhandlungen mit Großbritannien sein."
    Der künftige britische Außenminister Boris Johnson.
    Der britische Außenminister Boris Johnson hat auch noch keine klaren Vorstellungen. (picture alliance / EPA / ANDY RAIN )
    Das hieße, Großbritannien müsste nicht nur das gesamte EU-Gesetzeswerk, soweit es sich auf den gemeinsamen Markt bezieht, beibehalten, sondern auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Es müsste zudem neue binnenmarktrelevante Gesetze übernehmen. Ohne Mitsprache-, geschweige denn Mitbestimmungsrechte zu haben. Und es müsste eben auch beim "Modell Norwegen" in den EU-Haushalt einzahlen.
    "Norwegen zahlt schon heute pro Kopf der Bevölkerung mehr ein als die Briten bisher – das heißt, es würde ein teurer Spaß für unsere britischen Nachbarn werden", weiß der CDU-Binnenmarkt-Experte im EU-Parlament, Andreas Schwab. Und weiß auch, dass das "Modell Norwegen" für London wohl kaum in Frage kommen dürfte.
    Brexit - egal um welchen ökonomischen Preis
    Zu Ende gedacht, scheint letztlich keines der existierenden oder angedachten Modelle als Blaupause für eine künftige, sehr enge Beziehung zwischen der EU und ihrem ehemaligen Mitglied Großbritannien dienen zu können. Das fürchtet auch die britische EU-Parlamentarierin, Julie Girling.
    "Obwohl ich mich sehr für das Verbleiben in der EU engagiert habe, habe ich mich fast schon mit einem harten Brexit versöhnt. Denn alles andere würde aus Sicht der Briten, ihre Fähigkeit Entscheidungen zu beeinflussen kompromittieren."
    "Harter Brexit" bedeutet: Ein klarer Schnitt. Die Scheidung zu verhandeln, ist trotzdem noch kompliziert genug - schließlich ist Großbritannien die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU. Nach dem Brexit wie jedes x-beliebige Drittland auch behandelt zu werden - das ist genau das, was Banken, Unternehmen, Forscher, Studenten, alle, die grenzüberschreitend leben und arbeiten, fürchten. Das ist aber genau das, was "Harter Brexit" bedeutet und was etwa die UKIP will. Egal um welchen ökonomischen Preis, sagt Ray Finch.
    "Es kann und wird so kommen. Vielleicht dauert es länger – aber sofern das Prinzip stimmt, wir also unsere volle Souveränität zurückbekommen, kann es auch länger als zwei Jahre dauern. Das ist egal. Es muss stimmen. Das heißt: volle Souveränität für uns, in Freundschaft mit der EU."
    Gedanken über eine Übergangszeit
    Weil allein die Austrittsverhandlungen mindestens zwei Jahre dauern könnten – von den Verhandlungen über die noch völlig unklare künftige Beziehung ganz zu schweigen – plädieren in Brüssel einige dafür, dass es eine Art Übergangszeit geben sollte. Eine Phase also, in der Großbritannien zwar noch nicht aus der EU ausgetreten, aber auch nicht mehr vollwertiges Mitglied ist. Die liberale Abgeordnete im EU-Parlament, Sylvie Goulard, befürwortet das.
    "Mein Vorschlag ist: Wir machen ein "gentleman’s agreement". Sie verlassen schon informell die Institutionen. Und wir fangen jetzt sofort an, mit einem Partner zu diskutieren, der nicht gleichzeitig mit einem Kommissar, mit Abgeordneten und Richter im System ist und gleichzeitig auf der anderen Seite des Tisches."
    Goulards britische Parlaments-Kollegin, Julie Girling, hält nichts von der Idee, dass sich die Briten schon vor dem offiziell besiegelten Austritt informell aus dem operativen EU-Geschäft zurückziehen. Auch nichts davon, dass sich London in der Übergangsphase zumindest nicht mehr einmischt, wenn es um Entscheidungen für die Zukunft der EU geht.
    Noch sind wir volles EU-Mitglied
    "Es mag irritierend sein, den politischen Willen eines Landes zu akzeptieren, das gerade seinen Austritt beschlossen hat. Noch sind wir aber volles EU-Mitglied. Wenn wir jetzt sagten: Diese und jene Entscheidung passt uns zwar nicht und ist gegen unseren Interessen, aber wir halten uns raus, dann würden wir das Ergebnis der Verhandlungen über die künftigen Beziehungen vorwegnehmen. Wenn sonst nichts klar ist, so doch eines: Wir wissen nicht, wie die Verhandlungen ausgehen. Es ist vollkommen offen."
    Das ist vollkommen offen. Absehbar ist momentan eigentlich nur, was alles nicht zu funktionieren scheint – weder das Bruegel-Modell der Kontinentalen Partnerschaft noch das Modell Schweiz oder das Modell Norwegen. Kaum zügig umsetzbar scheint auch das Modell Freihandelsabkommen. Wenige Wochen vor Beginn der Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien mehrt sich vor allem eines: die Zahl der Fragezeichen.