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Was man in diesem Frühjahr lesen sollte

Auch in diesem Jahr gibt es in Leipzig wieder viel Lesenswertes, darunter einige bemerkenswerte deutschsprachige Texte, sagt Denis Scheck. Im Interview spricht der Literaturredakteur über spannende Neuerscheinungen und verrät seine Favoriten für den Buchpreis.

Moderation: Bettina Klein | 15.03.2012
    Bettina Klein: Die Leipziger Buchmesse startet heute mit neuen Rekorden, so werben jedenfalls die Veranstalter: mehr Lesungen, mehr Einzelstände und eine größere Fläche als im vergangenen Jahr. Trotz der wachsenden Digitalisierung des Buchmarktes ist eine analoge Veranstaltung wie die Buchmesse in Leipzig noch immer wichtig, so geben sie sich sicher.

    Frage an Denis Scheck aus unserer Literatur-Redaktion: Was ist denn für Sie das Spannendste in diesem Jahr bei der Buchmesse in Leipzig?

    Denis Scheck: Es ist ja, um aus meinem Herzen keine Mördergrube zu machen, so, dass ich wahrscheinlich das ganze Jahr über am wenigsten lese in Frankfurt und in Leipzig während der Buchmesse. Deshalb komme ich natürlich hierher mit den Büchern schon im Gepäck. Ich habe die Neuerscheinungen gelesen, und da kann ich es mir in diesem Jahr ganz besonders einfach, ganz besonders leicht machen. Ich habe sehr gute Bücher gelesen, ich habe sehr viele Bücher gelesen, am meisten beeindruckt hat mich auf dem internationalen Standard ein Roman mit einer kuriosen formalen Disziplin – der heißt "Roman in Fragen", stammt von dem Südstaaten-Autor Padget Powell und ist ein Roman, der ausschließlich in Fragesätzen verfasst wurde. Über 180 Seiten ausschließlich in Frageform. Das fängt an mit "Sind Ihre Gefühle echt?", endet aber in Fragen wie "Wann hört die Vanillesoße auf und wo fängt der Vanillepudding an? Wäre es besser, wenn alles besser wäre, und schlechter, wenn alles schlechter wäre, oder besser, wenn alles schlechter wäre, und schlechter, wenn alles besser wäre?" Also, wer hätte dafür Verständnis, für diese Form des Romans, wenn nicht eine Interviewerin.

    Klein: Eben, und das erinnert mich ein wenig an die Tagebücher von Max Frisch, die ja auch sehr interessante Fragen gestellt haben.

    Scheck: Dort steht die berühmte Frage, "Haben Sie Humor, wenn Sie allein sind?" Anhand des Romans von Padget Powell, "Roman in Frageform", kann man das in einem privaten Lackmustest an sich selber feststellen. Dass das so gut funktioniert, liegt an der genialen Übersetzung von Harry Rowohlt.

    Im Deutschen hat mich jetzt bislang in diesem Frühjahr ein Roman begeistert, der denn auch sofort ins Zentrum einer Literaturdebatte geriet, Christian Krachts Roman über den Kokovorismus, also einen Ernährungsapostel Namens August Engelhardt – der heißt "Imperium" und es ist ein Roman, der in Wahrheit vom amerikanischen Kulturimperium und den zerstobenen Imperiumsplänen der Deutschen handelt.

    Klein: ... und der schon heftig kritisiert wurde im Kulturteil des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" vor einigen Wochen. Der Autor hat dem Autor dieses Buches, Christian Kracht, Nähe zu rechtem Gedankengut attestiert. Wie sehen Sie das?

    Scheck: Das war wieder mal so eine Moralkeule, wie sie wohl nur im deutschen Feuilleton-Diskurs ausgepackt wird. Das ist natürlich der Ausgrenzungsdiskurs schlechthin, der Vorwurf der Nähe zu den Neonazis. Da kommt dann nur noch Kindesmissbrauch, was sie auspacken können, wie sie einen Intellektuellen, wie sie einen Schriftsteller, einen Autor ganz mundtot machen können. Georg Diez, der Kritiker des "Spiegels", hat das am Beispiel von Christian Kracht versucht. Das war ein Redaktionsversagen, ein Text, der wirklich übel war. Es kam dann zu dem kuriosen Phänomen, dass eine Woche später der Verleger, Helge Malchow, in dessen Verlag Kiepenheuer & Witsch Christian Krachts Roman "Imperium" erschienen ist, eine Gegenkritik schreiben durfte, in der er das Buch natürlich über den Schellenkönig lobte, zurecht lobte meiner Ansicht nach. Eine Woche später ergriff dann noch mal Georg Diez das Wort und gab so ein bisschen zaghaft nach und sagte, so war es gar nicht gemeint, ich wollte sagen, der Kracht ist rechts, aber nicht eine Nähe zu den Neonazis unterstellen.

    Das war aber doch sehr dünner Wein, der da aufgetischt wurde, und es ist insofern bemerkenswert, weil wir ja im Rückblick auf Kontroversen rund um Botho Strauß, der mit seinem eigenen Essay "Anschwellender Bocksgesang" den Anstoß gab, oder um Martin Walsers Friedenspreis-Rede damals, natürlich langsam das Muster dieser Ausgrenzungen erkennen und uns als Intellektuelle, als Journalisten selber da am Portepee gefasst fühlen. Wir müssen auf solche Ausgrenzungsversuche achten und dürfen nicht das werden, was Max Goldt der Große mal so schön "Kommentar-Wichsmaschinen" nannte.

    Klein: Was ist denn für Sie die Motivation dieser Ausgrenzungsversuche, wie Sie es nennen?

    Scheck: Na ja, das ist natürlich der Machtwille. Es ist ja auch eine schöne Pointe, dass Georg Diez, dieser Kritiker, selber Autor ist und selber im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Man darf wohl die Spekulation wagen, dass die folgenden Bücher von Georg Diez nicht mehr in diesem Verlag erscheinen. Es würde mich jedenfalls sehr wundern.

    Klein: Wenn Sie so eine Zwischenbilanz ziehen würden, wo steht die deutsche Literatur in diesem Frühjahr? Kann man das unter ein Fazit stellen?

    Scheck: Also ich habe eine Menge sehr bemerkenswerter deutschsprachiger Texte gelesen, zum Beispiel die fiktive Autobiografie "Hoppe" von Felicitas Hoppe, in der sich wohl die wortgewaltigste, die sprachmächtigste deutsche Autorin ihrer Generation lustig macht über den Hang zum Authentizismus in der Literatur, also zu einer Art von Charlotte Roche Mädchenprosa, wo es darum geht, sich irgendwelche Gegenstände in irgendwelche Körperöffnungen einzuführen und dann daran zu riechen und dann zu glauben, jetzt ist es authentischer und jetzt wird es toller, weil ich von mir selbst und meinem Körper erzähle. Da hat sich Felicitas Hoppe eine komplette Biografie zurecht erfunden, in der sie als Geliebte von Wayne Gretzky, dem kanadischen Eishockey-Star, firmiert, Kompositionslehre macht.

    Also ich glaube, es ist eine ziemlich reichhaltige Literatur, die wir in diesem Frühjahr da besichtigen können. Da müssen wir unbedingt zwei Romane noch nennen, die heute Nachmittag wohl die größten Aussichten haben, den Leipziger Buchpreis, den Preis der Leipziger Buchmesse zu erhalten: Anna Katharina Hahn mit "Am schwarzen Berg" – das ist ein Stuttgart 21-Roman und ein Roman, der eine Zweitfamilie für Eduard Mörike im 19. Jahrhundert imaginiert, der seine Peregrina wiederfindet -, und erwähnenswert ist sicherlich auch noch der Thomas von Steinaecker mit dem barocken Titel "Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen".

    Klein: Welchen Rang würden Sie der Leipziger Buchmesse 2012 zumessen, vielleicht im Vergleich zur Buchmesse in Frankfurt?

    Scheck: Na ja, Kurt Vonnegut sprach mal im Zusammenhang mit der Wirkmächtigkeit der Literatur und der Literaturkritik von einer aus sieben Metern abgeworfenen Bananencremetorte. Ähnlich würde ich die Leipziger und die Frankfurter Buchmesse als Bedeutung für die Kunst einführen. Es ist eine wunderbare Familienfeier und es ist ja ein sehr enges, sehr menschelndes Business, in dem wir da sind. Insofern hat das so etwa den Rang: Leipzig ist Ostern und Frankfurt ist Weihnachten.

    Klein: Und gestern Abend wurde die Leipziger Buchmesse eröffnet. Unser Kollege Denis Scheck schreibt darüber, berichtet darüber für uns, für den Deutschlandfunk. Herzlichen Dank für den Besuch im Studio.

    Scheck: Gern geschehen.

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