Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Weltbilder in der Wissenschaft
Museum reflektiert eigene koloniale Geschichte

Seit einiger Zeit werden das Wirken und die Exponate von Völkerkundemuseen hinterfragt. Dies gilt auch für den Vorläufer der Hamburger Uni, das Kolonialinstitut, 1908 gegründet, um die Welt zu erkunden und auszubeuten. Aktuelle Forschungen werfen einen neuen Blick auf die eigene koloniale Vergangenheit.

Von Ursula Storost | 23.01.2020
Weiß gekleidete Kolonialbeamte im damaligen Deutsch-Ostafrika sitzen um einen Tisch herum. Das Foto enstand im Jahr 1893.
Deutsche Kolonialbeamte im damaligen Deutsch-Ostafrika. (Saalam 1893, Sammlung F. Stuhlmann_copyright MARKK)
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts nutzten deutsche Wissenschaftler die damals neue Methode der Grammophontechnik, um Sprachen anderer Kulturen aufzuzeichnen. Zunächst ließen sie dafür die exotisch anmutenden Menschen der damals beliebten Völkerschauen in ihren Landessprachen erzählen. Im Ersten Weltkrieg machten die Forscher dann Sprachaufnahmen in Gefangenen- und zivilen Internierungslagern in Deutschland. Dort wurden auch afrikanische Menschen festgehalten, die aus den Kolonien der Kriegsfeinde stammten.
Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Anette Hoffmann hat diese Forschungen zu der Ausstellung "Der Krieg und die Grammatik" verarbeitet. Präsentiert wird sie im ehemaligen Hamburger Völkerkundemuseum, heute Museum Kulturen und Künste der Welt.
"Wir hören hier eine Toninstallation mit historischen Tonaufnahmen von Kaiser Wilhelm, von Heinrich Lüders, von Wilhelm Doegen und von einigen Kriegsgefangenen."
Die hörbar machen, die bisher nicht gehört wurden.
Der Orientalist Hermann Lüders und der Sprachwissenschaftler Wilhelm Doegen waren während der deutschen Kolonialzeit einflussreiche Wissenschaftler. Beide forschten zu Beginn des 20. Jahrhunderts an verschiedenen deutschen Hochschulen über Kulturen und Sprachen anderer Kontinente. Annette Hoffmann lässt neben diesen Männern aber auch diejenigen, die erforscht wurden zu Wort kommen.
"Und es ist einfach der Versuch, so eine bestimmte sonore Geschichtenerzählung zu unterbrechen. Einfach einen Rahmen zu schaffen, in dem diejenigen, die bisher immer nichts zu sagen hatten oder die man bisher immer nicht gehört hat, hörbar zu machen in der Ausstellung."
Die historischen Tonaufnahmen verschiedener außereuropäischer Sprachen und Dialekte hat Annette Hoffmann in Archiven entdeckt. Z.B. im Hamburger Staatsarchiv und dem Deutschen Historischen Museum in Berlin.
"Obwohl es linguistische Beispiele waren, die als Sprachbeispiele für bestimmte Sprachen aufgenommen wurden, sprechen die natürlich auch inhaltlich. Aber als inhaltlich Sprechend sind die nie betrachtet worden. Das heißt, sie wurden nicht übersetzt und sie wurden auch nicht als historische Quellen behandelt."
Die damals entstandenen Tonaufnahmen wurden gesammelt und verschwanden unausgewertet in Archiven. Erst jetzt werden sie teilweise von Wissenschaftlerinnen wie Annette Hoffmann gesichtet. Seit sieben Jahren arbeitet sie mit Material aus dem Berliner Lautarchiv. Dort lagern tausende von Tonaufnahmen in etwa 200 Sprachen, die vor und während des Ersten Weltkriegs gesammelt wurden. Auch mit der Absicht, Kolonialbeamte für die bestmögliche Ausbeutung kolonisierter Menschen und die Verbreitung deutscher Kultur auszubilden. Denn die wenigsten Deutschen, die in die Kolonien gingen, hatten Kenntnisse der jeweiligen Landessprache. Meist waren sie auf einheimische Übersetzer angewiesen, die Deutsch gelernt hatten.
"Also da gibt es zum Beispiel von einem Herrn Karl Meinhof, einem der Gründer der Afrikanistik hier in Hamburg, einen schönen Text über die Christianisierung der Sprachen Afrikas. Also da geht es zum Beispiel um Evangelisierung, um Missionierung. Wie missioniert man Leute? Man muss erst mal lernen, wie die sprechen, ansonsten erreicht man ihre Seelen ja nicht. Das war so eine Grundidee."
Historische Erfahrungsberichte Betroffener
Annette Hoffmann hat unter anderem historisches Tonmaterial aus dem Berliner Internierungslager Ruhleben ausgewertet. Dort wurden zwischen 1914 und 1917 Zivilisten der Entente-Mächte gefangen gehalten, darunter auch viele afrikanische Menschen aus den Kolonien der Kriegsfeinde. Die Aufnahmesituation, sagt Annette Hoffmann, müsse man sich etwa so vorstellen, dass die Internierten vor einem Mikrophon aufgefordert wurden, irgendetwas zu erzählen.
"Und dann haben sie vielleicht einen schlechten Kaffee vor sich stehen und sagen, der Kaffee ist schlecht. Oder sie sind im Gefangenenlager; dann reden sie vielleicht über das Gefangenenlager. Oder sie waren im Krieg, dann reden sie vielleicht über den Krieg. Und diese Kriegsgefangenenaufnahmen mit Kolonialsoldaten bzw. eben auch mit zivil internierten Männern, da hat man eben diese Thematiken ganz viel."
Die Kulturwissenschaftlerin fand inzwischen Erfahrungsberichte von Betroffenen, historische Dokumente, die bislang niemanden interessierten. Zum Beispiel die Erzählung eines Gefangenen aus dem heutigen Bukina Faso, damals französische Kolonie.
"Der sagt, ich bin marschiert und marschiert. Und ich hab meine Brüder verloren. Ich weiß, dass die auch für den Krieg rekrutiert worden sind, aber ich hab sie nicht mehr wieder gefunden. Und der sagt, ich habe seit zwei Jahren meine Familie nicht mehr gesehen. Oder einer der Sprecher, der sagt, der Krieg ist furchtbar."
Ein anderer Kriegsgefangener aus dem heutigen Senegal erzählt über die Rekrutierungsmethoden der Franzosen.
"Der sagt, die haben uns aufgehoben, wie ein Bettler Kippen auf der Straße aufhebt. Mehr oder weniger damit meinend, die haben jeden mitgenommen. Und er sagt dann halt auch: und am Ende waren nur noch Frauen und Kinder da."
Unerschlossene Quellen des Kolonialismus
Dass diese Inhalte der Tonaufnahmen bislang kaum wissenschaftliche Beachtung finden, wirft ein Licht auf das Wissenschaftsverständnis der Europäer, sagt die Ethnologin Dr. Mareike Späth, Mitarbeiterin am Museum für Kulturen und Künste der Welt. In der Forschung gibt es eine koloniale Tradition, sagt sie. In Hamburg ist das besonders augenfällig, denn die Hamburger Universität ging aus dem 1908 gegründeten Kolonialinstitut hervor.
"Es ging darum, die Leute an diesem Institut darin auszubilden, in die kolonisierten Gebiete zu reisen und dort letztendlich die Fachkräfte zu sein, die das koloniale System brauchte, um dort vor Ort sich zu verankern, um dort Macht auszuüben, um die kolonialen Gebiete an Deutschland anzubinden, um sie auszubeuten auf eine gewisse Art und Weise, um sie zu erforschen, um sie letztendlich zu erschließen."
Etwa um die gleiche Zeit, 1912, entstand auch das ehemalige Hamburger Völkerkundemuseum als eigenständige Sammlung an seinem heutigen Standort.
"Man muss sich vorstellen, dass die ganze Wissenschaft, in die ja die Gründung dieses Museums eingebettet war, ganz eng verbunden war mit der Entwicklung von kolonialistischem Gedankengut, von kolonialistischen Ideen, von Weltbildern, die mit kolonialen Strukturen verbunden waren und darin auch noch rassistische Strukturen. Also das ist so ein Dreieck, dass man zusammen denken muss."
Es war die koloniale Idee, so Mareike Späth, dass Menschen sich auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen befinden. Wobei die Entwicklungsstufe der Europäer die höchste und erstrebenswerteste Form darstellte.
"Und dass es die Aufgabe ist zum Beispiel, den in den kolonisierten Gebieten in Afrika lebenden Menschen in ihrer Entwicklung zu helfen und sie weiterzubringen. Das heißt, es gibt hier so ein ganz enges Zusammenspiel zwischen verschiedenen Wissenschaften und überhaupt der Möglichkeit, dass Kolonisierung und eben auch so rassistisches Gedankengut Fuß fassen konnte."
Die Vorstellung leerer Gebiete
Dass die Europäer sich als die Herrscher der Welt fühlten, zeigt sich auch in der bis heute verbreiteten Vorstellung, dass die Länder und Kontinente dieser Welt nur darauf warteten von weißen Männern entdeckt zu werden, sagt Mareike Späth.
"Diese Idee, dass die irgendwie leer waren, dass man nur nehmen musste, was da irgendwie rumliegt, was keinem gehört und wo auch keiner ist. So wurde das gerne kommuniziert. Tatsächlich ist das nicht richtig. Sondern das waren Gebiete, in denen Menschen lebten, in denen Menschen auch Wissen über ihre Umgebung hatten. Und das sind ja auch Menschen gewesen, die oftmals massiv Widerstand geleistet haben, der ja auch brutal und militärisch niedergeschlagen wurde."
Bis heute, so der Historiker Benjamin Gollasch von der Universität Hamburg, werden so genannte Entdecker und zahlreiche Kolonialforscher mit Straßennamen und Denkmälern geehrt. Viele kritisieren inzwischen, dass diese Männer oft völlig unkritisch als Wegbereiter moderner Wissenschaft gefeiert werden.
"Was häufig dann verschwiegen wird, ist, mit welchem Gedankengut diese Männer, und das waren ja häufig Männer, dorthin gereist sind nach Afrika. Was für rassentheoretische Annahmen sie hatten, welche Überlegenheitsgefühle, welches Sendungsbewusstsein diese Männer auszeichnete."
Ein hoher Raum mit weißen Wänden, ein Tisch vor Fenstern mit Rundbögen, das Arbeitszimmer des Kolonialbeamten Franz Stuhlmann in Deutsch-Ostafrika im Jahr 1900.
Das Arbeitszimmer des Kolonialbeamten Franz Stuhlmann in Dar es Salaam, Deutsch-Ostafrika im Jahr 1900. (Sammlung Franz Stuhlmann, Inv.-Nr. 2017.16:208 © MARKK)
Benjamin Gollasch hat sich mit dem Hamburger Zoologen Franz Ludwig Stuhlmann beschäftigt. Der Kolonialbeamte im damaligen Deutsch-Ostafrika sammelte unter anderem so genannte human remains. Menschliche Überreste wie Schrumpfköpfe, Schädel oder Knochenflöten, die noch bis in die 2000er Jahre in vielen deutschen Museen ausgestellt waren.
"Und gerade was jetzt human remains, also menschliche Überreste angeht, da war z.B. Franz Stuhlmann völlig skrupellos. Der hat da Gräber gefunden am Victoriasee von Einheimischen und er schreibt das auch in seinem Reisebericht völlig ungeniert, also wir haben hier Gräber gefunden und wir konnten nicht umher, die auszuräumen und die Skelette nach Berlin zu Rudolf Virchow zu schicken."
Unser Wohlstand basiert auf dem Kolonialismus
Der Mediziner Rudolf Virchow, einer der führenden Wissenschaftler in Deutschland, sammelte, vermaß und klassifizierte menschliche Knochen. So wollte er die Entstehungsgeschichte des Menschen erforschen und anhand seiner Ergebnisse den Unterschied zwischen verschiedenen Rassen, den so genannten Primitiven und Kulturmenschen nachweisen.
"Ich geh als Historiker davon aus, dass die Kolonialzeit ein Unrechtsregime war, das auf Rassentheorie basierte, auf einem Überlegenheitsgefühl der Europäer, die mit einem Missionierungsgedanken ausgezogen sind, um die Welt zu erforschen, zu vermessen und dann eben auch zu kolonisieren. Und ich geh davon aus, dass unser europäischer Wohlstand, den wir heutzutage haben, auf dem Kolonialismus, 500 Jahre Kolonialgeschichte basiert."
Bis heute, so Benjamin Gollasch, kann man die Kontinuität bestimmter wissenschaftlicher Forschungen nachzeichnen. Beispielsweise wurde der leitende Kolonialbeamte Franz Stuhlmann nach seiner Rückkehr aus Afrika 1908 Leiter der Zentralstelle am damaligen Hamburger Kolonialinstitut.
"Und hat dort genauso weitergemacht, wie er in seiner vorherigen kolonialen Karriere gesammelt hat. Also er hat ja viele zoologische, botanische Dinge gesammelt. Und diese Zentralstelle hatte die Aufgabe, Information zu sammeln. Er hat Zeitungsausschnitte gesammelt zu kolonialen Themen, koloniale Wissenschaft, allesmögliche hat er gesammelt an Informationen und diese Zentralstelle sollte das Ganze bündeln."
Koloniale Kontinuität von Deutsch-Ostafrika nach Hamburg
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde diese Zentralstelle in Hamburgisches Weltwirtschaftsarchiv umbenannt. Ein wirtschaftswissenschaftliches Forschungsinstitut, das bis Ende 2006 zu den sechs großen Wirtschaftsinstituten in der Bundesrepublik Deutschland gehörte und das dann mit der Deutschen Zentralbibliothek zusammengeführt wurde.
"Und da ist einfach die koloniale Kontinuität von Deutsch-Ostafrika über die Person Stuhlmann nach Hamburg zum Kolonialinstitut über ein Weltwirtschaftsarchiv. Bis in die Gegenwart kann man diesen Weg nachzeichnen."
Auch der Mediziner und Nobelpreisträger Robert Koch hat sich an kolonialer Forschung beteiligt. Und zwar in der damaligen Forschungsstation Amani im heutigen Tansania, erzählt Phillip Osten, Professor für Medizingeschichte am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf.
"Es geht vor allen Dingen darum, möglichst wirtschaftlich günstige Verhältnisse herzustellen. Wie transportiere ich Waren, welche zoologischen Gegebenheiten haben wir da, wie können wir Krankheiten bekämpfen, wie können wir möglichst gut diese Kolonie nach den neuesten, modernsten wissenschaftlichen Maßstäben organisieren."
Durch die koloniale Infrastruktur, Verkehrswege und Plantagen, verbreitet sich in der damaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika die Schlafkrankheit rasant. Das bedeutete eine große Gefahr für einheimische Arbeiter und Kolonialbeamte. Robert Koch trat an, um diese durch Tsetsefliegen übertragene Krankheit auszurotten.
"Seine Vorstellung war, man könnte diese Krankheit ausrotten, indem man alle Menschen und auch das Vieh aus einem Gebiet, wo die Fliegen sind, entfernt und umsiedelt. Das heißt, eine riesengroße Umsiedlungskampagne war das, was ihm vorschwebte."
Internierung und Erblindung statt Heilung
Koch nahm Einheimischen zwangsweise Blut ab, analysierte es und wollte mit einer speziellen Arsenverbindung die Krankheit bekämpfen.
"Was dann konkret aber geschah, war, dass zu tausenden Personen die Menschen in Konzentrationslager, so war sein Ausdruck dafür, verbracht wurden und in diesen Lagern behandelt wurden."
Alles, was Koch mit seinen rüden Methoden, der Internierung und dem Medikament erreichte, so Phillip Osten, war eine dramatische Verschlechterung der Lebensbedingungen der Einheimischen.
"Die Verbindung, die Robert Koch empfiehlt, das Atoxyl, heilt die Krankheit nicht, wie man heute weiß. Das war nur seine These, dass dadurch geheilt würde. Das Atoxyl hat schwere Nebenwirkungen, die Menschen erblinden und sie werden nicht dauerhaft geheilt."
Die Nazis feierten koloniale Taten
Robert Kochs Assistent, der Mikrobiologe Friedrich Karl Kleine forschte weiter an der Ausrottung der Schlafkrankheit. Sein Medikament kam später unter dem Namen Germanin auf den Markt. Eine Geschichte, so Phillip Osten, die von den Nazis als Beispiel überlegener deutscher Wissenschaft inszeniert wurde.
"Es gibt einen NS Propagandafilm von 1943, der auch diesen Namen Germanin trägt. Und der Film hat den Untertitel: Germanin, die Geschichte einer kolonialen Tat."
Da schließt sich der Kreis der Kontinuitäten, sagt der Gießener Historiker Sebastian Garbe. Dass sich die Deutschen mit der Aufarbeitung ihrer kolonialen Vergangenheit so schwertun, hängt seiner Meinung nach auch mit der Nazidiktatur zusammen. Die Aufarbeitung der Nationalsozialistischen Verbrechen stand in Deutschland nach 1945 im Vordergrund.
"Man ist davon ausgegangen, wenn man Deutschland entnazifiziert, dekolonisiert man Deutschland auch gleichzeitig. Das ist aber ein grober Fehler gewesen, weil die koloniale Geschichte noch mal noch einer eigenen Aufarbeitung bedarf."
Ein Beziehungsgeflecht des Kolonialen
Zumal, so Sebastian Garbe, es in Deutschland eben einen engen Zusammenhang zwischen dem Kolonialismus und dem Nationalsozialismus gebe. Auch und gerade in der Wissenschaft.
"Also es ist wichtig diese zeitliche Trennung auch aufzubrechen zwischen dem Vorkolonialen, dem Kolonialen und dem Nachkolonialen. Es ist eher als ein Beziehungsgeflecht zu verstehen."