Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Weltrekorde mit Nike Dragonfly
Mit Wunderschuh und Placebo-Effekt

Weltrekorde, neue Regeln, begeisterte Läufer - die Laufschuhe von Nike sind ein großes Thema in der Leichtathletik. Auf der Bahn und beim Marathon auf der Straße können solche Schuhe einen Vorteil bringen. Nicht nur am Fuß, sondern auch im Kopf.

Von Sabine Lerche | 25.10.2020
Joshua Cheptegei winkt im Stadion dem Publikum zu.
Nach 15 Jahren den Weltrekord über 10.000 Meter gebrochen - Joshua Cheptegei (Jose Jordan / AFP)
Valencia Anfang Oktober: Letesenbet Gidey aus Äthiopien und Joshua Cheptegei aus Uganda sind auf Rekordjagd. Sie scheinen geradezu beflügelt: Runde um Runde, Kilometer für Kilometer. Und im Ziel: Zwei neue Weltrekorde! Für Gidey über 5.000 Meter und für Cheptegei über 10 Kilometer. An ihren Füßen die Dragonfly Spikes von Nike. Sie gehören neben der Vaporfly-Reihe für Straßenläufe zur neuesten Nike Laufschuh-Generation.
Letensebet Gidey läuft vor ihren Konkurrentinnen
Letensebet Gidey bei der Diamond League 2019 in Brussel (imago images / Beautiful Sports / Axel Kohring)
Und auch der deutsche Langstreckenläufer Arne Gabius bestätigt, dass die Schuhe einen Effekt haben: "Das Laufgefühl, also als ich das erste Mal drin, war wirklich toll. Also man ist dann gute vier Zentimeter größer. Er ist sehr steif, aber hat einen unheimlichen Vortrieb, also man möchte einfach mit diesem Schuh einfach schnell laufen."
Doch die Schuhe von Nike vermitteln wohl nicht nur ein schnelles Laufgefühl, sie scheinen auch tatsächlich schneller zu machen. Seit der ersten Schuhversion 2016 brechen die Nike-Athlet*innen vor allem in den Straßenläufen die Rekorde. Denn die Schuhe speichern während des Laufens Energie, erklärt Gert-Peter Brüggemann, emeritierter Professor für Biomechanik an der Deutschen Sporthochschule:
"Dadurch, dass der Schuh die Energie aufnimmt, reduzieren wir die Energie der Gelenke insbesondere des Sprunggelenks und des Kniegelenks und entlasten damit diese Gelenke. Da diese modernen Sohlen wieder Energie zurückführen, ist es in der zweiten Phase möglich, in der Sohle oder im Schuh gespeicherte Energie wieder zurückzugeben und das wirkt dann wie so eine Feder, natürlich mit etwas Energieverlust."
Viele Beine, alle mit dem gleichen, pinken Schuhmodell von Nike am Fuß
Läufer mit dem Vaporfly-Schuh (2019) (MAXPPP)
Diese Federwirkung ist bei den neuen Nike-Modellen besonders ausgeprägt. Laut der New York Times sollen mit den Vaporflys bis zu 4 Prozent der Laufökonomie eingespart werden. Zumindest auf dem Laufband. Dafür sorgen eine dünne Carbonplatte, ein spezieller Schaumstoff und vor allem hochelastisches Material im Bereich des Mittelfußes. Das wirkt sich laut Brüggemann vor allem auf die biomechanische Arbeitsweise aus:
"Im Sprunggelenk und im Kniegelenk wird weniger Arbeit verrichtet. Die Leistung, die mechanische Leistung, ist geringer. Was dann aber wiederum bedeutet, dass die Muskeln etwas langsamer arbeiten. Und ein Muskel, der langsamer arbeitet, braucht weniger Energie bei gleicher Kraft, die er generiert. Was bedeutet mit einer solchen Technologie müssen die Muskeln weniger Energie aufbringen, bedeutet aber auch, wir ermüden etwas weniger."
Dank der Technologie wird den Schuhen von Nike nachgesagt, aktuell die schnellsten auf dem Markt zu sein. Doch auch Sportschuhhersteller wie Newton, Asics und Adidas bieten Schuhe an, die die Laufzeit um ein bis drei Prozent verringern sollen. Auch wenn die AthletInnen immer noch selbst laufen müssen – das Material kann also entscheidend sein.
Ärger um übermalten Schuh
Herpasa Negasa greift deswegen im Januar 2019 zu Farbe und Pinsel und übermalt beim Dubai Marathon kurzerhand seinen Nike-Schuh. Eigentlich ist Adidas sein Sponsor, aber er wollte seiner Konkurrenz bezüglich Material in nichts nachstehen. Mit den getarnten Schuhen ist Negasa zur persönlichen Bestzeit und auf Platz zwei gelaufen, und zu einer Menge Ärger mit Adidas.
So ein Problem haben die deutschen Leichtathlet*innen nicht. Sie dürfen selbst entscheiden, welchen Laufschuh sie tragen wollen und können individuelle Verträge abschließen. Für mehr Chancengleichheit sorgt auch eine neue Reglementierung der World Athletics. Seit Ende April muss jeder Schuh vier Monate lang für alle frei auf dem Markt zu kaufen sein. Erst dann darf das Modell auch im Wettkampf verwendet werden. Auch der deutsche Bundestrainer im Laufbereich Thomas Dreißigacker sieht keinen Grund für eine Wettbewerbsverzerrung:
"Na, die World Athletics hat versucht mit ihren Kriterien das zu verhindern. Also die haben halt Kriterien auferlegt: Wenn die Schuhe diese Rahmenbedingen einhalten, dann gibt es in diesem Sinne keine Chancenungleichheit. Zumal die Schuhe ja jeder tragen darf. Deswegen ist diese Chancenungleichheit so eigentlich nicht vorhanden."
"Möglicherweise an der Grenze"
Viele Kriterien sind das allerdings nicht. Die Laufschuhsohle darf nicht dicker als 40 mm sein und nicht mehr als eine elastische Platte enthalten. Genau das hat zum Beispiel der erste Nike Alphafly nicht erfüllt. Die Sohle war zu dick und zudem waren gleich zwei Carbonplatten übereinander eingebaut. Nike musste das Schuhmodell entsprechend anpassen. Langstreckenläufer Arne Gabius stimmt den Regularien zu, sieht aber auch eine Gefahr:
"Man darf aber bei allen Regeln halt nicht den Innovationsdruck oder die Innovationskraft in der Laufschuhentwicklung bremsen. Auch dass viele Läufer durch den Schuh profitieren, die vorher Plantarfaszienprobleme hatten, weil sie insbesondere diese Sehne, die unter dem Fuß verläuft, ja auch schützt, da der Schuh ja so stabil ist."
Frankfurt Marathon: Zieleinlauf mit Arne Gabius (GER)
Frankfurt Marathon: Zieleinlauf mit Arne Gabius (GER) (imago sportfotodienst / Norbert Wilhelmi)
Doch ab einer gewissen Dicke sorgt eine Sohle für mehr Instabilität. Das müssten die Muskeln dann wiederum ausgleichen. Dadurch geht der Effekt der Energiegewinnung verloren, so Gert-Peter Brüggemann:
"Möglicherweise sind wir schon an der Grenze. Und für viele Läufer, für den nicht besonders gut trainierten, glaube ich, dass wir die Grenze vielleicht schon überschritten haben."
Die technische Entwicklung der Schuhe ist also vielleicht an einem Ende angekommen. Das Marketing der Sportfirmen allerdings nicht – und auch das könnte beim Laufen für einen psychologischen Effekt sorgen, sagt Arne Gabius:
"Ich glaub, dass bei vielen auch der Placebo-Effekt natürlich eine Rolle spielt. Also gerade das Gefühl des Bergablaufens, dass der Schuh einen schneller macht, sorgt schon dafür, dass man insgesamt, sich doch mehr motiviert schneller zu laufen."