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"Weltschatten" von Nir Baram
Auf der Schattenseite der Globalisierung

Der israelische Autor Nir Baram ist weit über die Grenzen Israels für seine engagierte politische Haltung bekannt - und das spürt man auch in seinem zweiten Roman "Weltschatten". Sein Thema sind die Strippenzieher der Globalisierung - und eine Gruppe von Anarchisten, die sich ihnen entgegenstellt

Von Antje Deistler | 01.09.2016
    Der israelische Journalist und Autor Nir Baram auf einem Bild aus dem Jahr 2012.
    Der israelische Journalist und Autor Nir Baram auf einem Bild aus dem Jahr 2012. (Imago / Leemage)
    Dicke Bücher werden ja gern "Ziegelsteine" genannt. Ein solcher "Ziegelstein von einem Buch" ist auch "Weltschatten" von Nir Baram. Nur schwergewichtiger. Denn bei diesem Roman handelt es sich um verdichtete Masse - im besten Sinne. In präziser, dichter Prosa widmet sich Nir Baram dem ausufernden Thema "Globalisierung". Und dass daraus nicht die abgegriffen-sprichwörtliche schwere Kost, sondern ein auf höchst intelligente Weise unterhaltsamer Roman geworden ist, hat mit den glänzenden Fähigkeiten des 40-jährigen Schriftstellers zu tun. Stellen Sie sich also eher einen Goldbarren vor als einen Backstein.
    Aber von Anfang: Da erzählt Nir Baram die Geschichte des jungen, etwas ziellosen Gavriel Manzur. Er entstammt der unteren Mittelschicht Tel Avivs. Mithilfe der Beziehungen seines Vaters bekommt Gavriel einen Job in einer Beratungsfirma. Er wird viel Geld verdienen, indem er Kontakte für einen amerikanischen Hedgefonds knüpft und pflegt, eine wohltätige Stiftung leitet und Geschäfte einstielt. Aber so ganz genau wird er nie verstehen, was er da eigentlich tut.
    "Sein Vater hatte immer Geld benötigt, um seine Ideen zu finanzieren, während von ihm erwartet wurde, Geld unters Volk zu bringen. Aber wie? Angenommen, es gelang ihm, förderungswürdige Ziele zu finden, wie sollte er in Kontakt mit den Betreffenden treten? Er war doch nur ein blutjunger Bursche, gerade dabei, seinen BA zu machen, und da sollte er eines schönen Tages aufkreuzen und mit Dollars wedeln, die für hehre Projekte bestimmt waren? Zudem war die Kontaktaufnahme von Natur aus nicht seine Stärke. Setzte man ihn im Restaurant neben wildfremde Menschen - wie es in New York der Fall gewesen war -, dann mobilisierte er alle seine Kräfte, bis es ihm gelang, so etwas wie persönlichen Charme auszustrahlen, und er vor allem mit seiner Begabung, zuhören zu können, Eindruck machte. Aber auch in New York hatte die Panik ihn nicht losgelassen, seine Fassade könnte vor aller Augen in sich zusammenfallen."
    Zerstört das System!
    Nächstes Kapitel, völlig andere Perspektive und Erzählhaltung: Eine radikale Gruppe gesellschaftlicher Außenseiter in den Nullerjahren in Liverpool. Sie formieren sich, um gegen das kapitalistische System zu protestieren. Auch mit Gewalt. Ihre Wut richtet sich vor allem gegen das in ihren Augen heuchlerische linksliberale Milieu, sie fackeln Museen und Galerien ab und bereiten einen weltweiten Streik vor.
    "In den Zeitungen schrieben sie auch ein bisschen was über die Brutalität der Polizisten, aber erst am Abend wurde die geschnittene Aufnahme auf YouTube hochgeladen und danach auch auf der Facebook-Seite der Streikbewegung. London Calling von The Clash im Hintergrund (Julian hatte auf einem Klassiker bestanden) und dazu Schläge, blutüberströmte Gesichter, durch die Luft fliegende Bücher, ein Polizist, der einen Wälzer mit Meisterwerken unbekannter Dramatiker genau in die Fresse bekommt (drei von uns zeichneten sich verantwortlich für den Volltreffer), eine Hand, so hinter dem Körper verdreht, dass man richtig sieht, wie sie bricht, und sogar das schauerliche Splittern der Knochen hört (auch wenn einige meinten, das Geräusch habe Justine beim Schnitt eingefügt), und Julian, der schwer keuchend daliegt, das ganze Gesicht eine blutige Masse, und Elisabeth mit einer hässlichen Wunde an der Stirn, das Blut läuft ihr in Strömen über das Gesicht, und sie kann es nicht wegwischen, weil sie schon Handschellen umhat, und am Ende ein mit Plastiken überladener Tresen, dessen Fuß mit blutigen Handabdrücken bedeckt ist. Auf YouTube hatten wir innerhalb von zwei Tagen 180.000 Aufrufe, und auf der Facebook-Seite ließen sich 75.000 Menschen registrieren."
    Das Innenleben der Wahlkampfmacher
    Krasser Gegensatz dazu: die intrigante Innenwelt der amerikanischen Politikberatungsfirma MSV. Sie managen Wahlkämpfe in aller Welt - angeblich nur für Kandidaten, die den Werten von Demokratie und Fortschritt verpflichtet sind. E-Mails und Gesprächsprotokolle, die sich um Kampagnen in Bolivien, Österreich oder im Kongo drehen, ergeben ein weniger positives Bild.
    "Von: Alister Edmond, La Paz
    An: William Pasternak junior, Washington D. C.
    Keine Sorge, in vier Tagen treffen wir uns in Washington, und keine Macht der Welt wird uns daran hindern. Die Geschichte in Ohio ist zwar ziemlich lästig, aber ich denke, die Aufregung wird sich in zwei Tagen wieder gelegt haben. Unsere Politik hat doch etwas recht Amüsantes: Immerhin sind sich die Amerikaner, zumindest die, die nicht komplett verblödet sind, der Tatsache bewusst, dass in einer Demokratie wie der unseren jede Menge Geld gegen eine noch größere Menge Geld antritt. Und der Oberste Gerichtshof hat dies als absolut in Ordnung abgesegnet. Aber die Leute wollen nun mal nicht, dass man ihnen den Dreck in Form einer Briefkastenfirma aus Wien, eines edlen Spenders aus dem Kongo oder chinesischem Geld unter die Nase hält, denn dann fühlen sich die Trottel mit einem Mal hinters Licht geführt."
    Bei MSV geht es ebenso boshaft und intrigant zu wie in der Fernsehserie "House of Cards". Bis einer der Politikberater den geballten Zynismus nicht mehr aushält und sich den radikalen Anarchisten von Liverpool andient.
    "Weltschatten" dreht sich um die Schattenseiten der Globalisierung, genauer: Um diejenigen, die im Schatten die Strippen ziehen. Und um die, die sich wehren, auch wenn sie nicht so genau wissen, mit welchem Ziel eigentlich.
    Nir Barams aktuelles Buch ist Entwicklungsroman, Gesellschaftsroman, Politthriller und Groteske zugleich. Balzac stand Pate vor allem bei der Aufsteigergeschichte des Gavriel Manzur. Alles läuft auf eine Katastrophe hinaus, den Zusammenbruch der Weltwirtschaft im Jahr 2008. Dabei will Baram weniger erklären als Fragen aufwerfen. Vieles bleibt absichtlich vage, dunkel und so undurchsichtig wie die vernetzte, globalisierte Welt selbst. Keiner blickt mehr durch, das große Ganze versteht niemand in diesem Buch, und dem Leser geht es konsequenterweise oft genauso. Dass man trotzdem, oder gerade deshalb, gefesselt bis zum niederschmetternden Ende weiterliest, ist der großen Kunst von Nir Baram zu verdanken.
    Nir Baram: "Weltschatten"
    Hanser Verlag. 512 Seiten. 26 Euro