Montag, 13. Mai 2024

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Weltweite Flüchtlingsströme
"Syrien ist das Hauptdrama"

Wahrscheinlich die Hälfte der 22 Millionen Syrer sei derzeit auf der Flucht. Damit könne die Entwicklung dieses Landes in seiner Dramatik gar nicht mehr übertroffen werden, sagte Grünhelme-Gründer Rupert Neudeck im Deutschlandfunk. "Syrien ist aber auch das Ergebnis einer völligen Ausweglosigkeit und Aussichtslosigkeit westlicher Politik."

Rupert Neudeck im Gespräch mit Christoph Heinemann | 26.06.2015
    Rupert Neudeck, Gründer des Notärztekomitees Cap Anamur und Vorsitzender der Grünhelme.
    Neudeck: "Es gibt nicht nur den IS mit Kobane, es gibt auch weiter wahnsinnige Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung in Homs, in Aleppo, in Hama." (Imago / Müller-Stauffenberg)
    Christoph Heinemann: Die EU-Staats- und Regierungschefs haben sich nach kontroverser Debatte auf die Umverteilung von 40.000 Flüchtlingen in Europa auf freiwilliger Basis geeinigt. Die Migranten sollten aus den stark belasteten Ländern Italien und Griechenland in den kommenden beiden Jahren auf andere EU-Staaten verteilt werden. Darüber hinaus sollten weitere 20.000 Flüchtlinge von außerhalb der EU Aufnahme finden, Menschen, die etwa aus den Flüchtlingslagern rund um Syrien kommen. Das ist die eine Meldung.
    Die zweite stammt aus Syrien. Der IS, die Terrorbande, drängt wieder in die nordsyrische Stadt Kobane vor. Und Meldung Nummer drei: In Freital in Sachsen wird gegen die Unterbringung von Flüchtlingen lautstark protestiert.
    Flucht und Flüchtlinge kennen wenige besser als Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme. Guten Morgen.
    Rupert Neudeck: Guten Morgen!
    Heinemann: Herr Neudeck, wir erreichen Sie auf der Mittelmeer-Insel Malta. Wie werden Flüchtlinge, die es bis dorthin geschafft haben, auf Malta aufgenommen?
    Neudeck: Eigentlich recht gut, weil hier hat man das Prinzip, dass sie nach einer kurzen Zeit auch in den Arbeitsprozess hineinkommen dürfen. Ich sehe hier auf den Straßen eine ganze Menge zum Beispiel Eritreer, mit denen ich auch sprechen kann, weil sie Englisch können. Es ist ein Problem natürlich mit den Zahlen. Auch die Malta-Regierung hat Probleme der Unterbringung, der sofortigen Unterbringung, und das führt auch zu der Frage, wie können wir diese große Masse an Menschen, die aus Afrika, nicht nur aus Syrien und aus den Kriegsgebieten, wie können wir die in Europa so schnell und gut unterbringen, dass sie menschenwürdig leben können.
    Heinemann: Dazu haben jetzt die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union beim Gipfel in Brüssel eine Lösung beschlossen, nämlich eine freiwillige Verteilung von Flüchtlingen. Sollten Migranten per Quoten einzelnen Ländern zugeteilt werden?
    Neudeck: Das wird wahrscheinlich alles nicht gelingen. Was ich hier erlebe auf Malta ist auch das totale Durcheinander, die Ordnungslosigkeit der europäischen Flüchtlingspolitik, von der man ja als solcher gar nicht sprechen kann. Italien leistet schon eine ganze Menge, nimmt auch Flüchtlinge auf von Schiffen, die ganz andere Flaggen tragen. Das was Innenminister immer wieder als die größte Sorge bezeichnen, dass es keine Ordnung mehr gibt innerhalb des europäischen Flüchtlingssystems, das hat mittlerweile so hohe Wellen geschlagen, dass man von einer ordentlichen Verteilung von Flüchtlingen überhaupt nicht mehr sprechen kann. Wir wissen ja auch, Griechenland und Italien sind ganz verschiedene Staaten. In Griechenland werden die Flüchtlinge überhaupt nicht gut behandelt und haben überhaupt keine Rechte. In Italien ist das schon was ganz anderes. Da gibt es auch eine ganze Menge von Nichtregierungsorganisationen, von kirchlichen Organisationen, die sich um diese Menschen kümmern. Auf Malta ist das ähnlich. Ich habe hier gerade gestern noch eine wunderbare kirchliche Veranstaltung mit allen Religionen - sogar der Imam von Valletta war dabei - erlebt, wo auch die Flüchtlinge dabei waren, wo die Bevölkerung gesagt hat, wir müssen diese Menschen besser aufnehmen, wir müssen sie willkommen heißen. Sie haben so viel durchgemacht, sind so traumatisiert, dass wir ihnen helfen müssen. Ich sehe im Moment, dass die Bevölkerungen eher eine Rolle spielen sollten in Bezug auf die Aufnahme von Flüchtlingen, das alte europäische Ideal hochhalten, wie wir das auch in Deutschland ja, im Westen Deutschlands zumindest schon erlebt haben, auch in der letzten Woche wieder in Köln.
    "Der libanesische Staat kümmert sich nicht um die Flüchtlinge"
    Heinemann: Sie haben kürzlich Flüchtlingslager im Libanon besucht. Wie leben die Menschen dort?
    Neudeck: Dort ist das Problem, dass der Libanon nicht mal die UN-Flüchtlingskonvention unterzeichnet hat, die im Grunde die Basis aller Flüchtlingsbehandlung in der Welt darstellt. Deshalb haben die Flüchtlinge, die in einer Riesenzahl kommen, die man sich in Deutschland kaum vorstellen kann, bei einer Bevölkerung von 5,4 Millionen Libanesen leben dort 1,5 Millionen Flüchtlinge. Das sind Menschen, die zumeist aus Syrien rübergekommen sind über eine Grenze, die kaum existiert, weil der Libanon mit Syrien ja so eng verbandelt war, dass es kaum eine Grenze gibt. Der libanesische Staat kümmert sich nicht um sie, schmeißt sie aber auch nicht wieder zurück oder raus aus dem Land. Das heißt, die Flüchtlinge müssen überall, wo sie ihre Zelte aufschlagen, für den Boden, auf dem sie das tun, zahlen. Und man kann denen nur noch helfen, indem man als Organisation dort Schulen baut. Das habe ich erlebt, das ist möglich außerhalb dieser kleinen Lager, die wild existieren. Der UNHCR hat auch keine Möglichkeit, die Menschen dort unter den Flüchtlingsstatus aufzunehmen. Dort kann man Schulen bauen. Ich habe die Errichtung einer Schule für 400 syrische Kinder erlebt. Wir wollen das fortsetzen mit einer weiteren Schule. Aber es gibt insgesamt - das muss man sich mal vorstellen - 300.000 syrische Kinder, die dort keinen Unterricht haben, und das meistens schon seit zwei Jahren.
    Heinemann: Apropos Syrien. Aus Syrien wird nämlich gemeldet, Kämpfer der Terrororganisation IS hätten in der Stadt Kobane an der Grenze zur Türkei wieder Fuß fassen können. Rechnen Sie jetzt damit, dass sich zusätzliche Menschen auf den Weg machen, um diesen Verbrechern zu entkommen?
    Syrien - "das Ergebnis einer völligen Ausweglosigkeit und Aussichtslosigkeit westlicher Politik"
    Neudeck: Ja. Syrien ist das Hauptdrama, das gar nicht mehr übertroffen werden könnte, das seit 40 Jahren die Welt außer Atem hält. In Syrien ist wahrscheinlich schon die Hälfte der 22 Millionen Syrer auf dem Wege ins Ausland, in die benachbarten Länder oder nach Europa oder auf dem Schiff der Schleuserbanden im Mittelmeer. Syrien kann man nicht mehr übertreiben. Syrien ist aber auch das Ergebnis einer völligen Ausweglosigkeit und Aussichtslosigkeit westlicher Politik, die nicht weiß, was sie zwischen Russland und Assad, also dem Regime in Damaskus machen soll. Darunter leidet eine Bevölkerung, die weiter - das muss man auch wissen; Es gibt nicht nur den IS mit Kobane, es gibt auch weiter wahnsinnige Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung in Homs, in Aleppo, in Hama. Es gibt weiter unglaubliche Leiden. Es gibt die Erfindung einer neuen schrecklichen Terrorwaffe durch das Regime in Damaskus. Das sind die Fassbomben, die aus Hubschraubern mit einer Menge von TNT, die in diese Fässer hineingepackt werden, abgeschmissen werden und dabei entsetzliche Todesopfer haben. Die westliche, die internationale Staatengemeinschaft, besonders die UNO muss jetzt endlich zu einem Sicherheitsratsbeschluss kommen. Es könnte auch sein, dass Russland jetzt dabei ist, weil es Angst hat vor dem Übergreifen der bewaffneten Banden, der Verbrecherbanden von IS auch auf den Kaukasus. Das wäre jetzt wirklich eine sehr dringende Initiative vielleicht auch der Europäischen Union, im Sicherheitsrat einen Beschluss herbeizuführen, der dazu führt, dass es endlich eine Übergangsregierung, eine ordentliche Regierung in Damaskus gibt, die für die Bevölkerung eintritt.
    Heinemann: Herr Neudeck, Sie haben eben über die Aufnahmebereitschaft der Menschen in La Valletta auf Malta gesprochen. In der sächsischen Stadt Freital demonstrieren Menschen gegenwärtig gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Nun kann man mit Rassisten ein Gespräch wahrscheinlich nicht führen, das ist höchst wahrscheinlich sinnlos. Aber wie kann man den anderen, mit denjenigen, die sich etwa um ihre Sicherheit sorgen, wie kann man denen diese Sorgen nehmen?
    Neudeck: Kann man eigentlich sehr gut, wenn man das vernünftig tut. Ich habe das öfter erlebt. Ich habe das in Schneeberg erlebt an der Grenze zur Tschechei. Dort war auch so eine Demonstration. Das hat zu tun damit, dass der Bevölkerung im Osten Deutschlands 40 Jahre fehlen, 40 Jahre, in denen wir im Westen Deutschlands, in Westdeutschland Erfahrungen sammeln konnten, auch gelernt haben, wie man mit vielen Ausländern, vielen ausländischen Mitbürgern umgeht. Wir haben kennen gelernt die Türken, wir haben die Kurden kennen gelernt, wir haben die Vietnamesen kennen gelernt. Das ist alles mittlerweile eine ziemliche Normalität im Westen geworden. Der Osten braucht etwas Zeit. Ich würde davor warnen, diese Übergriffe, an denen auch Schreihälse und Protestfanatiker beteiligt sind, zu überbewerten. Wenn man mit den Menschen dort spricht, ist die Mehrheit dieser Bevölkerung auch bereit, sich an dieser Bewegung, die in Deutschland jetzt stattfindet, nämlich der Aufnahme von Menschen, die in äußerster Not sind, zu beteiligen. Ich glaube nicht, dass diese Pegida und andere Radikalen, die uns ja schon eine ganze Menge Ärger gebracht haben, bis hin zu den NSU-Prozessen, dass uns die mehr beschäftigen sollten, als über die Bestrafung der Kriminellen. Wir sollten sehen, dass wir eine vernünftige, gute, menschenfreundliche Politik in Deutschland machen. Daran werden sich auch die Mitbürger im Osten bestimmt beteiligen. Aber man muss ein bisschen mehr Geduld dabei haben.
    Heinemann: Herr Neudeck, Sie waren selbst einmal Flüchtling, 1945 auf dem Weg von Danzig in den Westen. Welche Erinnerung haben Sie an den Abschied von der Heimat und den Weg in eine ungewisse Zukunft?
    Neudeck: Das war eine der dramatischsten Situationen meiner Kindheit, und ich weiß, dass unglaubliche Millionen deutscher Mütter und Frauen, weil die Männer waren alle noch im Feld und waren irgendwo, vielleicht in Kriegsgefangenenlagern, haben das durchgehalten, haben diese unglaubliche Fluchtsituation durchgehalten, haben auch erlebt, dass sie dann zu Millionen - wir waren etwa elf Millionen, die nach Westen gekommen sind - aufgenommen worden sind in einer Wirtschaft, die total am Boden lag. Das sollte heute auch uns ein Beispiel sein, dass wir uns nicht immer schnell hinter die Zahlen und hinter die Slogans, "das Boot ist voll" und so weiter, verschanzen, sondern wir sollten wissen: Wenn Menschen in Not sind, die eigenen Menschen, die eigenen Mitbürger, oder fremde Mitbürger, dann muss man diese Not versuchen, menschenwürdig, menschenrechtlich anzuerkennen, und wir sollten eine helfende Hand diesen Menschen geben. Das war damals so 1946, '47, '48, und das muss heute auch so sein, auch wenn wir heute eine ungleich geringere Belastung durch all diese Flüchtlingsprobleme in Deutschland haben.
    Heinemann: Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Neudeck: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.