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Fang Fang: "Wütendes Feuer"
Wenn alles in Flammen steht

Die junge Chinesin Yingzhi hofft auf ein selbstbestimmtes Leben. Als sie schwanger wird, muss sie heiraten. Doch zum Verhängnis werden ihr nicht nur die traditionellen Familienwerte, sondern auch Chinas materialistische Modernisierung und der Weg in den Kapitalismus.

Von Julia Schröder | 23.05.2022
Die Schriftstellerin Fang Fang und das Buchcover von "Wütendes Feuer"
In China hat die bekannte, streitbare Schriftstellerin Fang Fang seit ihrem Corona-Tagebuch "Wuhan Diary" de facto Publikationsverbot. In "Wütendes Feuer" nimmt sie die Widersprüche in der chinesischen Gesellschaft in den Blick. (Buchcover Hoffmann & Campe / Autorenportrait © Wu Baojian)
Anfang der Neunzigerjahre in der mittelchinesischen Provinz Hubei: Die junge Yingzhi hat ihren eigenen Kopf. Nach Abschluss der Schule sieht die Tochter eines kleinen Händlers wenig Sinn darin, ihr Dorf zum Studieren zu verlassen. Stattdessen ergreift sie die Chance, mit einer Amateurband bei Hochzeiten und Familienfeiern aufzutreten. Da gewinnt sie die Herzen nicht nur mit ihrer Stimme, sondern auch mit ihrem gewinnenden Äußeren und sie verdient auch nicht schlecht. Aber als Guiqing aus dem Nachbardorf sie nach einem Auftritt anbaggert, macht sich ihr inneres Feuer bemerkbar.
„Ohne zu wissen, wieso und woher, erfasste sie das Gefühl, ihr ganzer Körper würde von brodelnder Hitze ergriffen. Als wäre sein Atem eine Flamme, die sie in Brand setzte. Plötzlich hatte sie es nicht mehr eilig, nach Hause zurückzukehren.“

Böse Überraschung nach der Hochzeit

Die zwei vergnügen sich miteinander, bald darauf bemerkt Yingzhi, dass sie schwanger ist. Statt ein freies Leben mit selbstverdientem Wohlstand zu führen, heiratet sie Guiqing und zieht zu ihm beziehungsweise zu seinen Eltern. Die erwarten von der Schwiegertochter, dass sie im heruntergekommenen Haus und auf der Obstplantage arbeitet, alles ohne Lohn. Ihr Mann entpuppt sich als trinkfreudiger Faulpelz. Als Yingzhi nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes wieder anfängt, mit der Band aufzutreten, ist es Guiqing nur recht. Sie bringt das Geld nach Hause, das er beim Glücksspiel in der Kneipe verliert. Wenn sie sich widerspenstig zeigt, verprügelt er sie. Trotz allem hält sie an ihrem Traum vom eigenen Haus fest und setzt ihren Körper ein, um schneller zu Geld zu kommen. Er verspielt alles, sie wird beim Ehebruch ertappt und die Dinge eskalieren. Das innere Feuer, nicht nur in Yingzhi, bahnt sich einen katastrophalen Weg und vernichtet am Ende Menschenleben.
Die chinesische Autorin Fang Fang zeigt in ihrem Roman „Wütendes Feuer“ wie unter einem Brennglas die Folgen, die das Programm der ökonomischen Lockerungen in den Neunzigern für das dörfliche Leben in der Volksrepublik China hatte. Die junge Yingzhi kommt sich zunächst selbstbestimmt und gleichberechtigt vor, sie orientiert sich an Altersgenossen, die in den Städten ihr materielles Glück suchen oder, wie der Nachbar, ihr Business im Dorf aufziehen.
„San Huos Fähigkeit bestand darin, unabhängig vom Auf und Ab und den Wechselfällen der Zeiten Geld zu machen. Die beiden älteren Brüder Yingzhis hatten den Ehrgeiz gehabt, es ihm gleichzutun. Der eine ging nach Kanton, der andere in den Nordosten, beide rackerten bis zum Umfallen, aber sie kamen mit leeren Händen zurück, so wie sie fortgegangen waren.“

Patriarchale Traditionen, materialistische Moderne

Die Sexualmoral ist locker, die Jungen nehmen sich ihre Freiheiten. Aber sobald es ernst wird mit der Familiengründung, rasten die traditionellen Vorstellungen ein. Die Last tragen junge Frauen wie Yingzhi. Arbeiten, die Schwiegereltern bedienen und das Geld heimbringen soll sie, doch der Mann bestimmt, was damit geschieht. Und sie hat kaum Möglichkeiten, sich gegen die schreiende Ungerechtigkeit zur Wehr zu setzen. Ehemann und Schwiegereltern nutzen die alten Familienwerte und Geschlechterrollenbilder zu ihrem Vorteil. Yjngzhis eigene Familie ist einzig besorgt, ihretwegen das Gesicht zu verlieren.
Fang Fangs „Wütendes Feuer“ ist als Rahmenhandlung konstruiert und lässt mit der ersten Seite keinen Zweifel am schlimmen Ende. Die Autorin erzählt sehr nah an ihren Figuren, nimmt deren Perspektiven ein und bedient sich ihrer Sprache.
„Als er sich abends vollgefressen und betrunken halb aufgerichtet auf der Bettdecke lümmelte, sagte er mit seinem durchtriebenen Grinsen im Gesicht, während er sich die Essensreste aus den Zähnen pulte: ,So einen tollen Sohn hättest du nie zustande gebracht, wenn ich’s nicht draufgehabt und mit einem Schuss voll ins Schwarze getroffen hätte, oder etwa nicht?‘ Yingzhi antwortete kurz angebunden: ,Du Schwein.‘“

Eine Gesellschaft im Umbruch

So entsteht das Bild einer kleinen Welt, zerrissen zwischen ausgehöhlten Traditionen und einer ebenso hohlen, rücksichtslos materialistischen Modernisierung: beides letztlich Folgen des moralischen Kahlschlags der Kulturrevolution und zugleich der Boden, auf dem der schnelle Anschluss des kommunistischen China an den globalen Kapitalismus möglich war. Die politischen und sozialen Hintergründe des bereits 2002 im Original erschienenen Romans „Wütendes Feuer“ erläutert der Übersetzer Michael Kahn-Ackermann in seinem informativen Nachwort. Das Dorf steht für eine ganze Gesellschaft im Umbruch – in einem Umbruch, der die Wurzeln menschlichen Zusammenlebens kappt. Eine augenöffnende Lektüre.
Fang Fang: „Wütendes Feuer“
Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
208 Seiten, 22 Euro