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"Wer auf die Marquesas fährt, macht eine Lebensreise"

Die Marquesas sind eine Inselgruppe im Südpazifik. Das Frachtschiff "Aranui" versorgt die 14 Inseln nicht nur mit Waren, sondern nimmt auch Touristen an Bord. Eine gewöhnliche Kreuzfahrtreise ist das jedoch nicht.

Von Jule Reiner |
    In der ersten Morgenröte kommt die Insel in Sicht - Ua Pou - sie sieht aus, als hätte sie sich gerade erst aus dem Ozean gehoben. Kein Riff mit türkisfarbener Lagune umgibt sie. Sie ist von schwarzem Strand gesäumt mit grollender Brandung. Kokospalmen dicht an dicht, darüber Baumfarne und Bananenbäume an hohen Kratertürmen, die gemeißelt sind wie die Zinnen gotischer Kathedralen. Mit ihren Spitzen raspeln sie an den Wolkenbüscheln, die aus dem Urwald aufdampfen.

    Erster Eintrag ins Notizbuch:
    Von Papeete auf Tahiti aus sind wir zwei Tage und Nächte auf See. Mit gewaltigen Thermo-King Kühlcontainern auf dem Vorderdeck und fühlbaren 3000 Tonnen Ladung im Schiffsbauch. Auf dem Bug wie eine Galionsfigur ein Betonmischer. Über die Achterdecks und rund um das Schwimmbecken verteilt - wir - eine zahlungskräftige Fracht von 100 Weltenbummlern zwischen 40 und 80 Jahren. 772 Seemeilen oder 1430 Kilometer legt die Aranui 3 bis zum fernsten der polynesischen Archipele, den Marquesas Inseln, zurück, stampft wie ein Eisenross mit ihrem Tiefgang durch die schwarze Tinte des Südpazifiks.

    Bei Krebsschwänzen mit Hummersoße plaudere ich mit einer Lebensretterin von der Kanadischen Küstenwache, bei Ochsenbäckchen mit grünen Bohnen erzählt der erste Offizier, er habe in sechs Jahren Dienst in diesen Gewässern nur drei Schiffe auf dem Radar gesichtet und drei Wale. Philippe, ein bukolischer Typ aus Bordeaux, lässt irgendwann den Namen Mururoa fallen. Er war als Soldat in Tahiti stationiert. Sie hätten keine Ahnung gehabt, was Frankreich da vorhatte, "Oh, la la...", wedelt er mit der Hand und greift noch einmal nach der Platte mit Schwertfisch in Vanillesoße.

    Auch eine der unbewohnten Marquesas Inseln sei für die Atomversuche vorgesehen gewesen, wirft der Schiffsarzt ein, Docteur Lukasz aus Paris. Die Einheimischen aber hätten das vehement verhindert. Sie seien aus schwererem Holz geschnitzt als die Tahitianer.

    Am Abend hatten sich Wolkengebilde über der See getürmt wie schnaubende Meeresgeschöpfe. Und unter Regenkaskaden über die Wellenberge rollend war es, als geriete das Schiff hinter den Horizont. Nachts nur das Stampfen, die Gischt im Bullauge, als schliefe ich in einer großen Waschtrommel. Jetzt diese unwirkliche Morgenröte und die Kraterzacken von Ua Pou.

    Ein Transportfloß und zwei Barken schweben an Stahlseilen zu Wasser, und die Thermokings krachen an Trossen auf die Mole. Ua Pou ist die einzige Insel mit einer Mole. Es gibt Postkarten an Bord, auf denen die erste Aranui vor einem Palmenstrand ankert und die Einheimischen in spärlicher Südseebekleidung die Waren mit Körben abholen. Das ist der Mythos aus Entdeckertagen. Aber jetzt sind es Allradjeeps, die aus dem Dickicht des Urwalds an den Ufersaum rollen.

    Ein Kirchlein mit krebsrotem Dach unter Palmen, luftige Holzhäuser, Gärten mit unaufgeregten Hunden, grasende Pferde, wie in Zeitlupe, unter Explosionen aus Bougainvilleen und schwer behängten Brotfruchtbäumen. In ein Minigeschäft werden bereits Büchsenmilch, Babynahrung, Päckchensuppen, Gasflaschen, jede Menge Dosengemüse und Waschpulver von den Jeeps geladen. Im Garten nebenan fallen Papayas und Limetten ins Tropengras, rascheln Kerzennussbäume über einem Bach namens Manfred Cascade mit badenden Kindern. Womit sich Manfred um dieses kleine Paradies verdient gemacht hat, ist mit der Marquesanischen Zeit weggeschwemmt worden. Für uns gibt es auf einem alten Versammlungsplatz eine Tanzzeremonie.

    Zweiter Eintrag ins Notizbuch:
    "Te Fenua Enata" wurden die Marquesas von den austronesischen Volksstämmen genannt, die sie von Westen her um 600 n. Chr. besiedelten: "Die Erde der Männer". 1800 Jahre blieben sie im größten der Ozeane von der Welt unbehelligt. Als die ersten Entdecker in diese ferne Welt vordrangen, müssen dort rund 100 000 Menschen gelebt haben. Heute sind es 8600.
    Welches die Wurzeln dieser "Erde der Männer" sein mögen, können wir nur vermuten: Mahalo, der Maat, und Tino, der Maschinist, sind am ganzen Körper tätowiert und von Kopf bis Fuß wandelnde Bilder aus abstrakten Zeichen, Fratzen, schwebenden Rochen, stilisierten Schildkröten und magischen kleinen Tieren. Besonders Mahalo erinnert mich an die Romangestalt des polynesischen Harpuniers Queequeg in Hermann Melvilles Moby Dick.

    Am Nachmittag bringen uns die Walboote der Aranui in eine tief eingeschnittene Bucht mit einem herrlichen Palmental namens Hakahetau. Am Weg ins Tal liegt eine katholische Kirche mit schönen Holzskulpturen. Als unser Tross von noch immer unsicher durch die Terra Incognita tapsenden Weltenbummlern weiter gezogen ist, bleibt Mana, der junge Schiffsentertainer, in der Kirche zurück.

    Während der Seetage hat er Karaoke Abende und Tanzkurse veranstaltet. Jetzt hält er seine persönliche Ankunftszeremonie ab. Mana stammt aus Tahiti, und ich frage ihn nach den Unterschieden zwischen dort und hier.

    Es gibt große, sehr große Unterschiede zwischen Tahiti und den Marquesas, sagt Mana, während uns ein mannshohes, wie eine Art Alienfigur geschnitztes Tiki angrinst, eine Skulptur der marquesanischen Urahnen. In Tahiti hätten die Leute und auch er selbst vergessen, woher sie kommen und wer sie sind. Verlorene Sprache, verlorene Kultur, das Leben in der Stadt sei schuld. Die Marquesaner aber haben Ihre Kultur bewahrt, so abgeschieden vom Rest Französisch Polynesiens, sagt Mana, seien sie die Bewahrer des alten Wissens und gäben es über Generationen weiter. Sie leben von Gastgeschenken, Tauschhandel - von der Natur. Sie seien so nett, so freundlich und warmherzig, strahlt der schöne junge Mann, dass ich verstehe, weshalb es ihn immer wieder auf die Fahrt mit der Aranui zieht.

    Dritter Eintrag ins Notizbuch:
    Fast alle literarischen Beschreibungen der Ankunft in diesem fernsten Ozeanien ähneln sich. Robert Louis Stevenson, der Vater der "Schatzinsel", beschrieb Ua Pou als "Apotheose der Südsee". Hermann Melville hielt sich knapp drei Wochen auf Nuku Hiva auf und machte daraus einen südsee-fantastischen Abenteuerroman: "Typee", erschienen 1846, sein erfolgreichstes Buch. Und Paul Gauguin natürlich - lieferte der westlichen Welt verklärte Bildnisse von der Unschuld jenseits der Zivilisation. Er war auf die Insel Hiva Oa geflohen, als ihn in Tahiti der koloniale Dünkel erdrückte. Eines seiner letzten Bilder im Todesjahr 1903 gleicht einer geträumten Szene: Kerzennussbäume und Brotfrucht in roter Erde, mit einem Pferd und einem freilaufenden Ferkel - wie an der Manfred Cascade.

    Auf Melvilles Nuku Hiva landen wir für einen kurzen Tag an. Hier findet die Begrüßungszeremonie unter einem uralten Banyon Baum statt, der seine Luftwurzeln wie Lassos über dem Urwald auswirft.

    Auf der Kultstätte Me´ae Kamuihei wurden in archaischer Zeit rituelle Menschenopfer abgehalten. Die martialischen Gebärden des "Schweinetanzes" sollten Furcht einflössen und gewiss auch die Opfer in eine Art Trance versetzen, ehe sie mit einem Stein erschlagen und mit einem Haken im Genick in die Bäume gehängt wurden. Dort nahmen sie nach einiger Zeit die "Gestalt langer Schweine" an. Für die Ureinwohner kam das einer Verwandlung des Menschen in tierische Nahrung gleich. Wir nennen es Kannibalismus, und Nuku Hiva bleibt mir als sehr dunkle Insel in Erinnerung.

    Anders ist Hiva Oa, Gauguins Wahlheimat. Hier wird nicht zur Begrüßung getanzt. Eine kleine Flotte von Landrovern bringt uns durch flirrendes Tropendickicht zu einer megalithischen Ausgrabungsstätte mit dem Puamau-Tiki, dem übergroßen Standbild des letzten Häuptlings des Niki-Stammes.

    "Was sieht man auf diesem Platz. Man sieht zum Beispiel hier eine ganz ganz große Tiki. Der heißt Kaka Iki, das heißt Rot oder Rot vor Zorn, und sie wissen, rot ist eine heilige Farbe, die durften nur die Priester und Häuptlinge benutzen."

    Die großen Köpfe und mächtigen Leiber der Tikis galten als Symbole für eine spirituelle Macht, die Mana hieß und aus dem Jenseits auf die Lebenden übertragen werden konnte. Von Missionaren wurden diese Standbilder später ihrer Geschlechtsmerkmale beraubt, und kastrierte Häuptlinge blieben im Urwald zurück, nachdem die Weißen über die Marquesas hergefallen waren. Erst spät in den 90er Jahren wurden einige Kultplätze von den Überwucherungen des Urwalds befreit.

    Es ist schön, noch eine Weile zu bleiben, wenn die Schiffsgruppe sich schon zum Mittagsrestaurant aufgemacht hat. Dann fühlt man die schwüle Dichte der Luft des Waldes, riecht moosige Erde, Smaragdeidechsen huschen über Mauern. Und die Figuren werden zu sprechenden Zeugen der zerflossenen Marquesanischen Zeit. Sie sind umstanden von Drachenbäumen und hohen Keulenlilien. Fotografiert man diese archaischen Kerle so, in gleicher Höhe mit den lindgrün und gelb schimmernden Büscheln im Hintergrund, dann tragen sie wieder Blätter- und Federkronen auf dem Kopf.

    Am Nachmittag verliert sich die Schiffsgruppe in einer weit durch ein Kratertal gezogenen Siedlung namens Hanaiapa. 250 bis 500 Einwohner. Ich ziehe mit Docteur Lukasz los, vorbei an schwarzer Brandung, ein Mann badet sein Pferd, das sich in die Wellen stemmt bis es schweben lernt, Kinder purzeln auf Minibrettern durch den Uferschaum, zierliche Holzhäuser liegen in üppigen Gärten - Duftwolken von Ylang Ylang und Tiaréblüten. Schweigsam, wie Eindringlinge, schleichen wir unter hängenden Bananenblättern durch ein Dörfchen.

    Drei Kinder, das eine kann noch kaum laufen, kommen mit zwei sanftmütigen Hunden herbei. Der eine legt sein Ohr auf mein Aufnahmegerät und die Kleinen geben mir das zärtlichste Interview, das ich jemals irgendwo auf der Welt aufgezeichnet habe:

    Vierter Eintrag ins Notizbuch:
    Sicher wird es Erklärungen dafür geben, weshalb auf der einen Seite der Welt Zorn und auf der anderen Sanftmut entstanden ist. Auch ich könnte mich daran versuchen, sagen, dass die Gier die schlimmste menschliche Eigenschaft ist. Aber ich schaue nur und staune.

    Wir sind auf der anderen Inselseite gelandet, in Atuona, wo Gauguin begraben liegt. Und es gibt ein Gauguin Kulturzentrum. In nachgebauten, traditionellen Pandanushäusern sind Repliken seiner berühmtesten Werke so museal ausgestellt, als seien sie Originale. Lange hatte man den Künstlerschreck vergessen, der sich auch auf Hiva Oa an kein Gesetz hielt, Alkoholexzesse feierte und junge Frauen verführte. Nun zanken ihm zu Ehren im Garten die vorwitzigen Hirtenstare, eine kecke Vogelart mit wildem Schopf und Füßen so quittengelb wie Gummistiefel. Das Museum verdankt die Insel ihrem ehemaligen Bürgermeister Guy Rauzy.

    Die Marquesaner sind eine starke Rasse und respektvoll gegenüber ihrer traditionellen Lebensart, erzählt Monsieur Rauzy. 36 Jahre lang war er Bürgermeister dieser Insel, und sein Familienclan besitzt den gesamten Küstenstreifen von Atuona. Längst möchten die Marquesas direkt zu Frankreich gehören und damit zum fernsten EU-Mitglied Europas werden, erklärt er. Aber darauf müsse man sie vorbereiten, Schulen bauen, Strukturen schaffen, die den jungen Menschen Fertigkeiten vermitteln, wie etwa Skulpturen herzustellen und zu malen, und überhaupt arbeiten zu lernen. Auch meint er, diese Insel dürfte ruhig mehr Touristen empfangen. Etwa 3000 kommen jährlich auf dem winzigen Flughafen an. Dazu die Gäste von der Aranui. Ein wenig Gauguin-Tourismus, ein paar schöne Hotelresorts - darüber denkt Monsieur Rauzy nicht nur nach: Der Ausbau des Flughafens ist beschlossene Sache.

    Fünfter Eintrag ins Notizbuch:
    Bei der Rückkehr auf die Aranui wundert es mich nicht, dass die Galionsfigur, der Betonmischer, verschwunden ist. Und gerade schweben noch zwei Planierraupen an Stahlseilen übers lichtblaue Wasser. Auf den Transportponton mittschiffs wandern Paletten mit Limonade und Cola, kiloweise Knabberzeug, Campbell´s Baked Beans und Mushroomsoup, Fertigbackkuchen, 1,5 Literflaschen Maggi und Ananas in Dosen. An Bord kommt Maschinist Mahalo mit ein paar Stauden Bananen, einem halben Dutzend frischen Ananas und einigen in Palmblättern verschnürten Päckchen für die Nachbarinsel Fatu Hiva. Für den Tauschhandel eben.

    Am Nachmittag umrundet die Aranui das Inselchen Fatu Hiva, eine der kleinsten des Archipels, mit rund 500 Einwohnern. Und was sich jetzt auftut, ist reine Schönheit. Gestade aus samtgeschmeidigem Blättergewirr, durch das Wasserfälle ihre Schneisen formen und in ausgewaschene Grotten stürzen. Thunfische ziehen silberne Bahnen durchs Wasser und fliegende Fische springen auf. Bis die wahrhaftige Apotheose der Südsee auftaucht, die "Baie de Vierges". Kolossale Felsen, die wirken wie jene Tikis, stehen als Wächter über der Bucht. Manchen wachsen Farnschöpfe aus dem Kopf, der Strand schimmert in Goldtönen und Regenbogenfarben. Die Krone der Schöpfung ist grün.

    Es ist Sonntag, als wir auf Tahuata landeten. Ka-o-ha, singt der Kirchchor - Willkommen. Frauen bieten Bananenkuchen feil, die Männer schnitzen Tikis aus ozeanischem Roseholz, kleine Meeresgebilde und Walzähne. Docteur Lukacs, längst mit einem Blumenbouquet auf dem Strohhut unterwegs, äußert den Wunsch, für immer zu bleiben und den Einheimischen zu helfen, ihre Zivilisationskrankheiten zu kurieren. Philippe, der seine Armeezeit übrigens im Postdienst, weit entfernt von Mururoa, hinter sich gebracht hat, trägt jetzt schmuckvolle Hemden, ist zum Bonvivant der Südsee geworden, und fast die gesamte Hundertschaft der Aranui hat sich in bunte, lässige Paradiesvögel verwandelt.

    Zu Mittag gibt es ein Picknick in einer Bucht namens Iva iva iti. Vor dem ankernden Schiff die Kinder mit Surfbrettern, auf dem üblichen Versammlungsplatz ein herrliches Gelage mit viel Fleisch aus dem Erdofen und Kesseltöpfen. Schrabbelnde Ukulelen zu Trommeln, die dieses Mal noch dampfiger klingen, sirrender Urwald, Krabbelgetier und Eidechsen auf den Mauern der einstigen Kultstätte, die uns als Bänke dienen.
    Als wären wir ein zweites Mal hinter den Horizont gelangt, werden wir mit den Tänzern und lachenden Matronen zum Teil einer Phantasie wie sie Rousseau in seinen Dschungelbildern geträumt hat. Es fehlen nur Löwe, Jaguar oder Tiger. Stattdessen essen wir mit Händen von Papptellern, und die Hundeschar jagt mit dem Rest der dem Kochtopf entronnenen Hühner um uns herum.

    Letzter Eintrag ins Notizbuch:
    Tahuata wurde 1565 von den Truppen des spanischen Seefahrers `Alvaro Mendana de Neyra entdeckt und fürchterlich geschleift.. Der Widerstand der "Männer der Erde" war hier besonders stark, ebenso wie auf Hiva Oa und Nuku Hiva. Und sie wurden mit Mannstärken und Musketen unterworfen. Te Fenua Enata hörte auf, zu existieren. Mendana benannte die Inselgruppe nach Marques de Mendoza, dem damaligen Vizekönig von Peru: Islas de Marquesas. Diese kleinste der Inseln, Tahuata, bekam ihren ursprünglichen Namen erst 1995 zurück.

    Und fast hätte ein weiterer rücksichtsloser Übergriff dem Archipel den Rest gegeben. Denn hätte Frankreich seine Atomversuche bis hierher ausgedehnt, hätte unser Sonntag in der letzten Enklave des Menschseins auf Erden nie stattgefunden.