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Keiichirō Hiranos neuer Roman
Wer bin ich, und wenn Japaner, warum dieser?

Sein altes Leben ablegen und dafür ein frisches bekommen. Mit neuem Namen und neuer Vergangenheit. Das probieren gleich mehrere Figuren in Keiichirō Hiranos Roman „Das Leben eines Anderen“ aus. Eine kluge, vielleicht etwas zu lange Reflexion darüber, wer man ist und wer man sein könnte.

Von Katharina Borchardt |
Keiichiro Hirano: "Das Leben eines Anderen"
Ich ist ein Wanderer zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen. Keiichirō Hiranos nachdenklicher Roman "Das Leben eines Anderen" beleuchtet vor dem Hintergrund der japanischen Gesellschaft auch die positiven Aspekte eines radikalen Identitätswechsels. (Buchcover: Suhrkap Verlag / Hintergrund: Stockimage)
Wie wäre es, das eigene Leben abzustreifen? Namen und Herkunft, Beziehungen, Job und Alltag – weg damit! Noch einmal ganz frisch starten. Unter neuem Namen. Also „Das Leben eines Anderen“ führen. Das lockt. In chaotischen Situationen – in Kriegen oder nach Naturkatastrophen nutzt manch einer die Gelegenheit, aus seinem alten Leben einfach zu verschwinden.
In Keiichirō Hiranos neuem Roman aber braucht es keine Naturkatastrophe. Es reicht ein Mix aus bedrückender Herkunft, Schnauze-voll-Gefühl und einem Identitätshändler im richtigen Moment. Also einem Mann, der Leute zusammenbringt, die ihre Namen tauschen wollen. So wird in Hiranos Roman aus einem Hara Makoto zuerst ein Sonizaki Yoshihiko und nach einem weiteren Namenstausch ein Taniguchi Daisuke. Denn Makotos Vater war ein Mörder, und so galt der Junge überall nur als „der Sohn des Mörders“.

Identitätstausch gegen Stallgeruch

Ein ewiger Stallgeruch, dem er durch Identitätstausch entkommen konnte. Unter dem Namen Taniguchi Daisuke zieht er schließlich in ein südjapanisches Provinzstädtchen und will ganz neu anfangen. Er bekommt einen Job bei den Waldarbeitern und lernt Rie kennen, die im Ort ein Schreibwarengeschäft führt.
„Eine Woche später erschien Daisuke wieder im Laden. […] Er griff sich einen Packen Kopierpapier sowie ein paar Büroartikel, und als er bezahlt hatte, blickte er sie an und sagte: ‚Also ...‘
‚Ja?‘, erwiderte Rie und sah ihn mit großen Augen an.
‚Würden Sie mit mir befreundet sein wollen? Natürlich nur, wenn es Ihnen nicht zu viel ist.‘
‚Was? ... Ja, gern.‘ Sie nickte verblüfft. Sie spürte ihr Herz pochen, vielleicht, weil sie überrascht war, oder vor Freude. Wann hatte sie das letzte Mal das Wort ‚befreundet‘ gehört?“
Das kann Keiichirō Hirano: zarte Szenen schreiben. Er beobachtet seine Figuren genau und beschreibt ihre Regungen kleinteilig. Ein besonderes Talent hat er für gemischte Gefühle und emotionale Umschwünge. Sein Einfühlungsvermögen ist beachtlich, zumal dieser Roman – sein erster in deutscher Übersetzung – die Form eines recht nüchternen, übrigens insgesamt auch passagenweise zu lang geratenen Berichts hat. Es ist hier ein Schriftsteller, der die Geschichte erzählt, die ihm wiederum Ries Anwalt anvertraut hat. So die etwas überkomplizierte Konstruktion.

Camouflage allerorten

Man erfährt, dass sich Rie und Daisuke ineinander verlieben, heiraten und zusammen eine Tochter bekommen. Nach knapp vier Jahren aber verunglückt Daisuke beim Holzfällen im Wald. Dadurch kommt heraus, dass er eigentlich ein Anderer war. Wer war er wirklich?
Ries Anwalt nennt ihn erst mal nur X und fängt an zu ermitteln. Auch der Anwalt selbst kennt das Thema „Namenscamouflage“ gut, hat er seinen koreanischen Nachnamen einst sicherheitshalber gegen einen japanischen getauscht. Dahinter steckte der Wunsch, von anderen nicht vorver- oder vorbeurteilt zu werden. In einer der unbehaglichsten und daher stärksten Szenen des Romans gibt er sich in einer Bar sogar selbst als Daisuke aus. Und es klappt. Man glaubt ihm.
Der 1975 geborene Keiichirō Hirano zeigt in immer wieder neuen Varianten: Identität ist ein Mix aus Selbst- und Fremdzuschreibung. Ein aktuelles Thema. Und ja, man kann seine Identität wechseln, sagt der echte Taniguchi Daisuke, den der Anwalt schließlich aufspürt. Er findet ihn wiederum unter anderem Namen und mit neuer Biografie.
„Jemand, der die Erfahrung nicht gemacht hat, kann das nur schwer verstehen. Aber wenn man seine Identität tauscht, ist man nach ungefähr einem Jahr wirklich ein anderer. Wenn jemand Taniguchi zu mir sagt, denke ich: ‚Hä? Meint der mich?‘ Man tauscht ja alles, auch die Vergangenheit. Früher, bevor ich mein Familienregister getauscht habe, habe ich meine Familie gehasst, jetzt sind sie Fremde für mich. […] Ich habe alle Beziehungen gekappt und bin weggegangen, und mit der Zeit vergisst man. Nein, das stimmt nicht, die eigene verhasste Geschichte vergisst du nicht einfach, auch wenn du das gerne wolltest. Du musst sie mit einer anderen überschreiben.“

Kein plotgetriebener Roman

„Das Leben eines Anderen“ hat Züge eines Krimis, ist aber trotz der Ermittlungen des Anwalts kein plotgetriebener Roman. Denn: Keiichirō Hirano ist der Grübler unter den zeitgenössischen japanischen Autoren. In das Thema Identität hat er sich tief eingegraben, und so kreuzt er es mit eingestreuten Exkursen zu Diskriminierung, Boxsport und Holzwirtschaft, zu Erdbeben, Knast-Kunst und Todesstrafe. Das ist manchmal ein bisschen langatmig, macht den Roman aber auch vielschichtig und klug.
Keiichirō Hirano: „Das Leben eines Anderen“
Aus dem Japanischen von Nora Bierich
Suhrkamp Verlag, 25 Euro