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Megakrise Klimawandel
Werden extreme Klimaprognosen ignoriert?

Die Klimakrise wird schwere Zeiten bringen, darin ist sich die Wissenschaft einig. Aber könnte es sogar noch schlimmer kommen? Droht eine existenzielle Megakrise? Klimaforscher warnen: Solche extremen Szenarien werden vernachlässigt.

Von Volker Mrasek | 03.08.2022
Stuttgart: Blitze hinter der beleuchteten Stadt
Könnte die Klimakrise die Menschheit auslöschen? (Foto: Simon Adomat/dpa)
An der Universität Cambridge in Großbritannien gibt es seit rund zehn Jahren ein „Zentrum zum Studium existentieller Risiken“. Dazu gehört für Luke Kemp definitiv auch der Klimawandel. Der australische Ökonom und Geograph arbeitet nicht nur in dem Forschungsinstitut. Sein Name steht jetzt auch an erster Stelle des Fachartikels, der dringend empfiehlt, die Wissenschaft möge sich stärker mit katastrophalen Klima-Szenarien für die Zukunft befassen:

“Es geht nicht nur darum, dass die direkten Auswirkungen des Klimawandels übermächtig werden. Es könnten zudem ,Risiko-Kaskaden‘ in Gang gesetzt werden, wie wir sie nennen. Dieses Gebiet ist tendenziell am wenigsten erforscht.“

Was Kemp damit meint: Es könnte zu simultanen Mega-Krisen kommen, ausgelöst durch die Erderwärmung. Ein Beispiel. Wiederholte Missernten führen zu Lebensmittelknappheit, Exportverboten und vielleicht sogar zu Kriegen; Wetterextreme werden so stark, dass die Versicherungswirtschaft kollabiert; gleichzeitig häufen sich Zoonosen, vom Tier auf den Menschen übertragene Krankheiten – womöglich kommt es sogar zu einer neuen Pandemie.

Ein Risiko kommt selten allein

Die Klimaforschung arbeitet durchaus mit Worst-Case-Szenarien. Der Weltklimarat behandelt sie und ihre Folgen regelmäßig in seinen umfassenden Sachstandsberichten. Aber: “Auch wenn wir uns solche Szenarien mit sehr hohen Temperaturzunahmen anschauen: Wir führen da nie komplexe Risikostudien durch! Meist betrachten wir einfach nur, welche Folgen der Meeresspiegel-Anstieg hat oder die Zunahme von Wetterextremen. In der realen Welt treten Risiken aber nicht voneinander isoliert auf.“

Besonderes Gewicht erhält der neue Artikel dadurch, dass unter den Autoren renommierte Experten sind wie etwa der US-Forscher Will Steffen, der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Johan Rockström, und auch dessen Vorgänger Hans Joachim Schellnhuber.

Rockström verweist auf sogenannte Kipppunkte im Klimasystem. Der Amazonas-Regenwald könnte so stark austrocknen, dass er das Treibhausgas CO2 nicht mehr aufnimmt, sondern abgibt; Grönlands Gletscher könnten bald einen Punkt erreichen, an dem ihr Schmelzen nicht mehr aufzuhalten ist.

Globaler Kollaps durch Rückkopplungen?

Das würde die globale Erwärmung zusätzlich anheizen und müsse unbedingt in Klimaszenarien mitbetrachtet werden, so der schwedische Ökologe in einer Stellungnahme: „Wenn es einen roten Faden in der Wissenschaft der letzten 30 Jahre gibt, dann ist es dieser: Je mehr wir darüber lernen, wie unser Planet funktioniert, desto mehr Grund zur Sorge gibt es. Er ist ein hochkomplexer Organismus mit Rückkopplungen und Wechselwirkungen und kann seine Funktionen ganz plötzlich von Dämpfung und Abkühlung auf Verstärkung und Erwärmung umstellen."

Könnte der Klimawandel über solche physikalischen - und auch über ökonomische - Rückkopplungen einen weltweiten Zusammenbruch der Gesellschaft herbeiführen? Eher unwahrscheinlich, aber nicht auszuschließen, schreibt Hans Joachim Schellnhuber. Deshalb sei es „essentiell wichtig“, sich mit Katastrophen-Szenarien zu befassen:

„Eine lebenswichtige Stärke der Wissenschaft ist, dass sie gefährliche Entwicklungen vorhersagen kann. Die Gesellschaft ist dann in der Lage, rechtzeitig Maßnahmen zu ergreifen, die solche Entwicklungen vermeiden. Leider erfahren wir gerade in der Klimakrise, dass Politik und Öffentlichkeit die Wissenschaft in der Regel erst dann ernstnehmen, wenn die Katastrophen nicht mehr abzuwenden sind."

Kein Grund zum Fatalismus

In ersten Stellungnahmen zu dem Artikel äußern Klimaforscher die Sorge, düstere Klimaszenarien könnten nach hinten losgehen. Und die Menschen glauben lassen, eine Katastrophe sei nicht mehr abzuwenden und Klimaschutz daher zwecklos. Luke Kemp widerspricht dem aber:

“Dass die Leute verzagen, wenn man ihnen mit dem Risiko einer Katastrophe kommt, ist nicht durch wissenschaftliche Studien belegt. Was hoffnungsvolle und was düstere Nachrichten bewirken, ist vielfach untersucht worden. Und die Ergebnisse waren nie eindeutig. Es kommt sehr darauf an, wie man mögliche katastrophale Entwicklungen kommuniziert: Man muss den Leuten auch sagen, was sie dagegen tun können, und dass es gleichwohl Grund zur Hoffnung gibt.“

Nicht zu wissen, wozu der Klimawandel im schlimmsten Fall führen könnte – das, so der Forscher aus Cambridge, sei doch ziemlich töricht.