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Westerwelle: Die Agenda 2010 wurde in Hamburg zu Grabe getragen

FDP-Chef Guido Westerwelle sieht nach dem Parteitag der Sozialdemokraten eine mögliche sozial-liberale Koalition auf Bundesebene in weite Ferne gerückt. Die Sozialdemokraten hätten in Hamburg die inhaltlichen Voraussetzungen für ein Bündnis mit der Linkspartei und den Grünen geschaffen. Die SPD rutsche nach links und die Union rutsche hinterher, meinte Westerwelle.

Moderation: Sandra Schulz |
    Schulz: Gestern ist er zu Ende gegangen, der SPD-Parteitag in Hamburg. Am Nachmittag verabschiedeten die Genossen das neue Grundsatzprogramm, das dritte in der Geschichte der Bundesrepublik. Wir wollen die Hamburger Ereignisse noch einmal zusammentragen, heute Morgen mit dem Blick der Opposition. Am Telefon begrüße ich den Bundesvorsitzenden der FDP Guido Westerwelle. Guten Morgen!

    Westerwelle: Schönen guten Morgen Frau Schulz!

    Schulz: Herr Westerwelle, Sie haben einen Linksruck der SPD ausgemacht in Hamburg. Was ist daran links, Älteren länger als bisher Arbeitslosengeld I zu zahlen?

    Westerwelle: Im Kern geht es ja nicht um diese Frage. Im Kern geht es darum, ob die Reformpolitik fortgesetzt wird, oder ob sie beendet wird und es ist erkennbar, dass die Sozialdemokraten in Hamburg an diesem Beschluss, aber auch an der Beschlussfassung des Grundsatzprogramms demonstrieren, dass sie die Reformpolitik beenden wollen. Die Agenda 2010 ist Geschichte. Sie wurde in Hamburg zu Grabe getragen und übrigens einer der Grabträger war der Erfinder dieser Agenda 2010, der Altkanzler Schröder.

    Schulz: Sie sagen, die Reformen seien zu Grabe getragen worden. Die Sozialdemokraten sprechen ja von einer Weiterentwicklung der Agenda 2010.

    Westerwelle: Ja das ist die babylonische Sprachverwirrung. In Wahrheit geht es darum, dass die Sozialdemokraten der Auffassung sind, dass kaum geht es der deutschen Konjunktur etwas besser die Vorsicht wieder weggelassen werden darf und wir nicht vorsorgen müssen. Statt dass wir in guten Zeiten, also in Zeiten guter Konjunktur, vorsorgen und die Strukturreformen jetzt erst recht durchsetzen, damit wir uns wappnen für schlechtere Zeiten, wird das Geld ausgegeben, so als hätten wir nie fünf Millionen Arbeitslose gehabt. Das Ergebnis des Abbrechens der Reformpolitik wird sein, dass wir in der nächsten Phase des Abschwungs nicht fünf, sondern vielleicht sogar sechs Millionen Arbeitslose haben, und das ist das Gegenteil von sozial.

    Schulz: Es ging den Sozialdemokraten ja auch darum, ihr soziales Profil zu schärfen. Das ist, Herr Westerwelle, für die Liberalen kein Thema?

    Westerwelle: Ich bin sogar sehr dafür, dass alle Parteien darum eifern, eine soziale und vernünftige Politik zu machen. Nur mit Verlaub gesagt sozial ist ja nicht die Höhe der staatlichen Umverteilung, sondern sozial ist, wenn den wirklich Bedürftigen geholfen wird, wenn denen geholfen wird, die sich selbst nicht helfen können. Da ist demokratischer Sozialismus nun weiß Gott keine Antwort. "Demokratischer Sozialismus" ist erstens ein Begriff aus der Mottenkiste, zweitens ein Widerspruch in sich selbst. "Demokratischer Sozialismus" ist eine Art vegetarischer Schlachthof.

    Schulz: Sie spielen auf den Begriff "demokratischer Sozialismus" an, obwohl die Sozialdemokraten ja gestern klargestellt haben, dass sie sich abgrenzen wollen vom etwa real existierenden Sozialismus der DDR. Parteichef Kurt Beck unterstellt allen, die anderes vermuten, Böswilligkeit, oder dass sie keine Ahnung von Geschichte hätten. Trifft Sie der Vorwurf?

    Westerwelle: Nein!

    Schulz: Blicken wir auf den Parteitagsbeschluss. Es gibt ja nun zwei Parteitagsbeschlüsse von Mitgliedern der Großen Koalition, die da lauten, die Zahlung des Arbeitslosengeldes I zu verlängern. Die Union plädiert für Kostenneutralität; die Sozialdemokraten wollen unter Umständen auch Geld in die Hand nehmen. Welches Modell wird sich durchsetzen in der Großen Koalition?

    Westerwelle: Ich fürchte es wird eine Mischform geben. Die SPD rutscht nach links, die Union rutscht jetzt hinterher, weil von diesem linken Virus eben nicht nur die Sozialdemokraten befallen sind, sondern auch die Unionsparteien. Wir können das derzeit schon erkennen an der Debatte über das sogenannte Entsendegesetz, also die Frage, ob man den Postmonopolisten schützt durch einen Mindestlohn, also die private Konkurrenz, wo immerhin auch 50.000 Beschäftigte sind, faktisch ausschließt. Früher wurde das Entsendegesetz mal gemacht, um auch deutsche Firmen vor ausländischer Billig- und Dumping-Konkurrenz zu schützen. Heute wird das Entsendegesetz angewendet, um einen Staatsmonopolisten zu schützen vor inländischer privater deutscher Konkurrenz.

    Das alles hat Züge angenommen, die mit sozialer Marktwirtschaft nichts mehr zu tun haben. Der Gegensatz, der in Hamburg ja gepflegt worden ist, wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit, der ist eben kein Gegensatz, sondern das gehört zusammen. Ich fürchte deswegen, dass die Beschlüsse von Hamburg nicht nur Parteitagsrhetorik sind, sondern dass sie in konkrete Regierungspolitik münden werden. Deswegen waren das sehr geschichtsträchtige Tage in Hamburg, denn es wird nicht nur die SPD sich von der Reformpolitik verabschieden. Allen rhetorischen Bekundungen zum Trotz wird auch die Unionspartei immer mehr in diese Richtung gehen. Die SPD hat das laut getan in Hamburg und die CDU/CSU macht es heimlich still und leise.

    Schulz: Sie sprechen von einem linken Virus. Parteichef Kurt Beck hat der Union dagegen vorgeworfen, sie vertrete marktradikale Thesen, und da ging es auch gerade um die Auseinandersetzung, die Sie gerade angesprochen haben, um den Mindestlohn. Warum ist eigentlich die FDP in diesen Debatten nicht mehr zu hören?

    Westerwelle: Erstens muss man schon sehr weit links stehen, wenn man beispielsweise die Union mit Herrn Rüttgers als marktradikal bezeichnen möchte. Zweitens hält die FDP Kurs. Wir werden uns diesem Linksrutsch nicht anschließen. Wir bleiben fest in der Mitte. Wir halten Kurs, weil wir der Überzeugung sind, dass die Reformen für Deutschland notwendig sind. Ohne diese Reformen wird in der nächsten Abschwungphase es Deutschland doppelt schlecht gehen. Das mag nicht spektakulär sein. Das mag auch nicht die großen Schlagzeilen nach sich ziehen, wenn man Kurs hält, anstatt wenn man wie in Hamburg die SPD Kurs wechselt. Aber es ist trotzdem richtig. Wir müssen das Richtige tun.

    Schulz: Es gab ja Situationen, in denen die Liberalen Situationen, in denen die großen Koalitionäre oder überhaupt die Koalitionäre zerstritten waren, dazu genutzt haben, mit einer eigenen Profilierung einen eigenen Vorschlag einzubringen, der dann auch zur Realität wurde. Paradebeispiel war da das Zuwanderungsgesetz. Haben Sie einen Kompromissvorschlag zum Arbeitsmarkt in der Schublade und wenn ja warum hört man davon nichts?

    Westerwelle: Ich sehe keinen Kompromissvorschlag. Ich rege an und schlage vor, dass wir bei der Agenda 2010 bleiben, dass wir im Gegenteil sogar noch die Reformpolitik grundsätzlicher angehen, dass wir auch das Tempo noch steigern, denn die Welt lässt uns keine Zeit. Sie wartet nicht auf deutsche Langsamkeit. Deswegen wäre es dringend notwendig, auch das Thema neue Technologien und Technologiefreundlichkeit wieder anzugehen, also damit auch neue Akzente beim Thema Bildung und Forschung zu setzen. Es wäre dringend notwendig, auch die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes endlich anzupacken. All das unterbleibt. All das werden wir schon in einiger Zeit mit Wohlstandsverlust bezahlen müssen. Denn bisher war es ja jedes Mal so: Die Phasen des Aufschwungs, sie wurden immer kürzer. Die Phasen des Abschwungs werden immer länger. Dementsprechend muss man jetzt vorsorgen.

    Ich glaube auch, dass das, was die SPD in Hamburg beschlossen hat, nicht nur sachlich motiviert ist, sondern ich glaube das ist auch eine inhaltliche Vorbereitung eines rot-rot-grünen Bündnisses. Die SPD in Hamburg, sie wusste genau, was sie tat, als sie das beschloss. Sie wusste, dass damit auch inhaltlich die Voraussetzung gebaut werden soll, dass es eben eines Tages doch zu einem Bündnis zwischen SPD, Linkspartei und Grünen kommen kann. Das ist aus unserer Sicht dann auch die Frontstellung bei der nächsten Wahl, ob man rot-rot-grün verhindern will, oder ob man eine Mehrheit dafür zulassen möchte.

    Schulz: Das heißt, Herr Westerwelle, um ein rot-gelbes Bündnis wäre es nicht gut bestellt, wenn ich Sie richtig verstehe?

    Westerwelle: Das ist nach Hamburg mit Sicherheit in große Ferne gerückt.

    Schulz: In große Ferne und auch auf lange Sicht ausgeschlossen?

    Westerwelle: Man schließt nie irgendetwas in der Politik aus und im Leben schon gar nicht. Aber es geht einfach um die Frage bringt das, was in Hamburg beschlossen worden ist, die Reformpartei FDP und die Partei des demokratischen Sozialismus SPD näher zueinander oder weiter auseinander. Das ist mit Sicherheit weiter auseinandergebracht worden, was uns an einigen Ecken bisher auch verbunden hat. Das bedauern wir natürlich, weil wir Herrn Kollegen Beck ja eigentlich kennen als einen Mann, der mit uns sozialliberal viele Jahre Rheinland-Pfalz regiert hat. Offensichtlich steht Herr Beck unter einem so großen Druck, auch von den Linken in seiner Partei, dass er diesen Kurswechsel befördert hat. Gewinner in Hamburg ist übrigens nicht Herr Beck, Verlierer ist übrigens auch nicht Herr Müntefering, sondern Gewinner in Hamburg, das sind Herr Wowereit, das ist Frau Nahles, das ist Herr Gabriel, die nächste Generation, die keinerlei Bedenken haben wird, auch rot-rot-grün zu machen.

    Schulz: Über die Ergebnisse des SPD-Parteitages am Wochenende in Hamburg habe ich gesprochen mit dem FDP-Parteichef Guido Westerwelle. Herr Westerwelle, vielen Dank Ihnen!

    Westerwelle: Ich danke Ihnen!