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"Wichtig ist, dass das Volk überhaupt selbst entscheidet"

Der Politikwissenschaftler von der Freien Universität Berlin begrüßt die Volksabstimmung in Baden-Württemberg. Damit gelange "dieses Volksrecht, das es ja nun seit Jahrzehnten gibt, aber das bislang toter Buchstabe war, zur praktischen Wirklichkeit". Das Regelwerk selbst sei allerdings problematisch. Otmar Jung fordert auch auf Bundesebene mehr direkte Demokratie.

Otmar Jung mit Gespräch mit Mario Dobovisek | 26.11.2011
    Mario Dobovisek: Ich begrüße den Politikwissenschaftler Otmar Jung, an der Freien Universität in Berlin lehrt und erforscht er direkte Demokratie. Guten Morgen, Herr Jung!

    Otmar Jung: Morgen!

    Dobovisek: Wird sie denn das, wird die Demokratie morgen gewinnen?

    Jung: Ja. Das ist sicher der positive Aspekt dieser Volksabstimmung morgen, dass tatsächlich zum ersten Male bei einem Gesetzentwurf in Baden-Württemberg abgestimmt wird und damit dieses Volksrecht, das es ja nun seit Jahrzehnten gibt, aber das bislang toter Buchstabe war, zur praktischen Wirklichkeit gelangt. Und so, wie das bislang gelaufen ist mit dem Abstimmungskampf, und ich hoffe, auch morgen einer fairen, konfliktfreien Durchführung der Abstimmungshandlung, wird das bestimmt eine gute Premiere und ein Fortschritt sein.

    Dobovisek: Ist es dann insgesamt ein Hoffnungsschimmer für die direkte Demokratie, sozusagen ein Frühling derer?

    Jung: Na, insgesamt … Da kommt eben ein anderer Aspekt da rein. Ich glaube, man kann nicht darum herumreden, dass es zwei schwierige Aspekte dieser Abstimmung gibt: Einmal, es wird ja nicht das Volk von vornherein einbezogen in einen Entscheidungsprozess, wie es etwa die Schweiz im Fall des Gotthardtunnels gemacht hat, sondern, nachdem das vorgesehene Planungsverfahren durchgesetzt ist, nachdem die Prozesse geführt worden sind, wird hinten draufgeschaltet noch mal eine Abstimmung. Das ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten schwierig, die Bahn hat ja Baurecht. Und das Zweite ist eben, das Regelwerk, das in Baden-Württemberg eigentlich nicht auf einen Erfolg hin entworfen wurde. Also, dieses 33-prozentige Zustimmungsquorum ist eigentlich unerreichbar. Nicht von ungefähr wurde das Verfahren ja bislang nicht angewendet. Man muss es eigentlich unter symbolische Politik rechnen. Schauen Sie mal nach Bayern oder auch in die Schweiz, an der sich Bayern orientiert hat: Wenn die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen entscheidet – das war etwa im Nichtraucherfall in Bayern so –, dann haben Sie sinnvolle Ergebnisse.

    Dobovisek: Aber hier geht es ja tatsächlich um die Mehrheit der Wahlberechtigten insgesamt. Also, ein Drittel der Wahlberechtigten müsste zunächst einmal an die Wahlurne schreiten und dann auch noch sich jetzt auf eine Position festlegen. Wie könnte das in Zukunft verändert werden, um ja tatsächlich nicht nur Symbolpolitik zu machen?

    Jung: Das Mindeste wäre, dass diese übergroße Quorumshürde von 33 Prozent ermäßigt wird zum Beispiel auf die 25 Prozent, die wir hier in Berlin haben. Oder eben, noch besser, ich wiederhole: Bayern, aber übrigens auch Hessen und Sachsen, sind drei Bundesländer, die einfach die Mehrheit der abgegebenen Stimmen entscheiden lassen. Das ist eigentlich die urdemokratische Lösung.

    Dobovisek: Schauen wir uns mal die Fragestellung selber an, ich zitiere das mal: "Stimmen Sie der Gesetzesvorlage ‚Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21 zu?" So wird sie also lauten. Lassen Sie sich nicht verwirren, meine Damen und Herren: Wer Ja sagt zum neuen Tunnelbahnhof, muss Nein ankreuzen, wer Nein sagt, muss Ja ankreuzen. Ist so was wirklich bürgerfreundlich?

    Jung: Das ist nicht bürgerfreundlich. Das ist entworfen von Juristen beziehungsweise von Politikern. Wer sich eingearbeitet hat in die Materie, versteht das natürlich, aber man könnte eine sehr viel freundlichere Gestaltung der Frage sich denken, dass dann eben wirklich, wer das Projekt verhindern will, mit Nein stimmt, und wer möchte, dass S 21 gebaut wird, mit Ja stimmt. Das hätte man mit gutem Willen durchaus machen können.

    Dobovisek: In Italien kann so eine Frage bei Referenten auch gut mal über eine DIN-A4-Seite hinweggehen, in ganz kleiner Schrift. Ist das wirklich das, was Politiker machen sollten, wenn sie das Volk an die Wahlurne bringen wollen?

    Jung: Nein, das ist das andere Extrem. Aber ich kann ein schönes Beispiel aus Berlin bringen, da hatten wir ja vor zwei Jahren einen Volksentscheid über die Einführung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfaches, auch eine durchaus schwierige Materie. Es gab einen Entwurf mit einem Paragrafen des Schuldgesetzes mit vielen Absätzen und der Landeswahlleiter hat es wunderbar geschafft, die einschlägige Frage gut verständlich zusammenzufassen.

    Dobovisek: Das ist also ein gutes Referendum aus Ihrer Sicht?

    Jung: Jedenfalls, was die Beteiligung der Leute angeht, dass sie eine Frage vorgelegt bekommen, die sie nicht wie Berufspolitiker oder wie Fachjuristen behandelt.

    Dobovisek: Nun sagen viele Politiker ja auch immer, das kann ganz schön gefährlich sein, das Volk zu befragen, weil es manchmal um so eine komplizierte Materie geht, dass das Volk gar keine Chance hat, sich da eingehend einzuarbeiten. Gibt es aus Ihrer Sicht auch ein Referendum, das der Politik nach der Volksbefragung einen gänzlich falschen Weg aufgezeigt hat oder zumindest einen gefährlichen Weg?

    Jung: Also, ich halte dieses Argument mit der Gefahr des Volkes für hoch problematisch. Denn mit der gleichen Argumentation könnten Sie Leute nicht mehr wählen lassen. Auch da besteht ja die Gefahr, dass das Volk falsch entscheidet, wobei es sogar einen großen historischen Beispielsfall gibt, Deutschland 1933. Das war ja keine Volksabstimmung, durch die Hitler an die Macht kam, das war eine Reichstagswahl. Also, das ist ein Argument, das sozusagen an die Wurzel der Demokratie geht, Vorsicht! Aber was die Komplexität angeht, die Schwierigkeit der Materie, sehen Sie: Auch im Parlament wird ja in der Schlussabstimmung mit Ja oder Nein entschieden. Das heißt, auch schwierige Materien müssen kleingearbeitet werden, wie der Fachausdruck lautet, bis eben dann am Schluss eine klare Alternative dasteht. Und diese Arbeit, diese Kleinarbeitung ist eine Aufgabe der Vermittlung. Man darf jetzt nicht so tun, als ob alle Bürger Experten sein müssten, das sind sie natürlich nicht. Aber es sind ja auch nicht alle Abgeordneten Experten, sondern der normale Abgeordnete vertraut ja dann auf die Fachleute in seiner Fraktion, genau so kann auch der Bürger vertrauen auf die … ja, das müssen nicht Politiker sein, das kann auch meinetwegen die Kirche oder der ADAC oder der Bund für Umweltschutz sein, die ihm dann die Materie erläutern, so dass viele eher …

    Dobovisek: … das sind dann aber alles Lobbyisten, über die wir sprechen, die natürlich ganz eigene Interessen haben, die wiederum auch die Politik versuchen zu beeinflussen, die damit aber auch auf der anderen Seite umgehen können. Was kann dann also das Volk auf der Straße besser entscheiden als deren Volksvertreter im Parlament?

    Jung: Ich habe noch gar nicht gesagt, dass das Volk automatisch besser entscheidet, sondern, wichtig ist, dass das Volk überhaupt selbst entscheidet und das nicht über es hinweg entschieden wird. Die Weisheit des Volkes und die Weisheit des Parlaments, da sollte man durchaus realistische Vorstellungen haben. Aber dass hier in der Tat ein Stück Selbstbestimmung, ein Stück Souveränität sich realisiert, das ist wichtig. Es ist besser, wenn eine Entscheidung vom Volk als nur von den Vertretern getroffen wird. Inhaltlich kann man oft verschiedener Meinung sein, aber auch bei Parlamentsgesetzen natürlich.

    Dobovisek: Kurz zum Schluss: Brauchen wir deshalb auch mehr direkte Demokratie im Bund?

    Jung: Selbstverständlich. Es ist letztendlich nicht zu verstehen, warum wir auf Kommunalebene, auf Landesebene und jetzt sogar auf europäischer Ebene die direkte Demokratie haben – als Ergänzung der repräsentativen natürlich – und ausgerechnet auf der Bundesebene soll das nicht angehen! Das ist eine reine Machtfrage, das ist jedenfalls politikwissenschaftlich nicht zu erklären.

    Dobovisek: Vielen Dank, Otmar Jung, Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin! Ihnen noch einen schönen Tag!

    Jung: Danke, Ihnen auch!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.