Freitag, 17. Mai 2024

Denkfabrik Demokratie
Wie der Fußball die Zivilgesellschaft bereichert

Immer mehr Projekte und Fangruppen nutzen den Fußball als Plattform für gesellschaftspolitische Themen. Profispieler gründen Stiftungen, Ultras entwerfen Banner. Kann die EM 2024 in Deutschland dieses Netzwerk auf ein neues Niveau heben?

Von Ronny Blaschke | 22.10.2023
Der EM-Pokal bei der Auslosung der Qualifikation in Frankfurt - derzeit wird debattiert, wie das Turnier ab 2028 aussehen soll.
Der EM-Pokal bei der Auslosung der Qualifikation in Frankfurt - derzeit wird debattiert, wie das Turnier ab 2028 aussehen soll. (IMAGO / Schüler / IMAGO / Marc Schueler)
Der Verein "Gesellschaftsspiele" in Berlin hat rund 100 Mitglieder. Es ist eine relativ kleine Organisation in der großen Fußballlandschaft. Allerdings mit vielfältigen Themen: Rassismus in den Kurven, die Erinnerung an die Opfer des Holocausts, Menschenrechte in den Golfstaaten.
"Gesellschaftsspiele" blickt mit Diskussionen, Filmabenden oder Workshops weit über das Sportliche hinaus, erzählt Rico Noack, einer der prägenden Köpfe des Vereins: "Wir nutzen das Medium Fußball, weil es viele Fußballfans bei uns gibt, aber eben auch Leute, die mit Fußball gar nicht viel am Hut haben, die aber wissen, dass aufgrund der Tatsache, dass Fußball ebenso sehr beliebt ist und Fußball die Massen erreicht, Fußball einfach ein gutes Tool ist, ein Werkzeug, um damit Bildungsarbeit zu machen. Wir gehen an Schulen, wir gehen an Unis."

Zivilgesellschaftliches Netzwerk im Fußball wächst

Spätestens seit der WM 2006 in Deutschland wächst das zivilgesellschaftliche Netzwerk im Fußball. Profispieler gründen Stiftungen. Regisseure und Fans treffen sich beim Fußballfilmfestival "11mm". Klubs beteiligen sich an der Bildungsinitiative "Lernort Stadion". Und Fangruppen sammeln Spenden für die Ukraine oder entwerfen Stadion-Choreografien mit politischen Botschaften.
Rico Noack beobachtet diese Entwicklung seit langem: "Es gibt definitiv innerhalb der Fanszenen Themen, die man früher nicht mal ansprechen konnte. Da hätten Leute schon mit dem Bierbecher geworfen. Also ich finde, die Fußball-Zivilgesellschaft ist unglaublich vielfältig. Und ich habe auch nicht das Gefühl, dass der Markt – um jetzt mal so blödes wirtschaftliches Vokabular zu nutzen –, dass der Markt übersättigt ist. Ich glaube, alle haben da Platz. Und alle werden auch benötigt."

Abwehrkräfte gegen Rechtsextremismus

Die Basis für diese Entwicklung legen seit mehr als 30 Jahren die Fanprojekte. Dabei nutzen Sozialpädagogen den Fußball als Medium, um außerhalb des Schulumfeldes mit Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Für Prävention gegen Gewalt, Drogen, Rechtsextremismus.
In Deutschland existieren Fanprojekte heute an mehr als 70 Fußball-Standorten, erzählt Michael Gabriel, Leiter der Koordinationsstelle Fanprojekte: "Wenn man dann auf den Fußball schaut, würde man erkennen, dass die Themen, die von Nazis sozusagen und Rechtspopulisten aufgebracht werden, dass die im Fußball nicht in der Form Fuß fassen, wie sie in anderen gesellschaftlichen Bereichen Fuß fassen. Und das liegt an den Abwehrkräften in der Fankultur. Es gibt so viele junge Leute in den Kurven, die sich gegen Rassismus engagieren, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren."
Die Fanprojekte sehen sich als Angebot für die Gesellschaft, nicht ausschließlich für den Fußball. Deshalb wird ihre Arbeit nicht nur von der Deutschen Fußball-Liga (DFL) und dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) finanziert, sondern anteilig auch von der jeweiligen Kommune und dem Bundesland.
In diesem Umfeld ist die Finanzierung der Fanprojekte oft befristet, sagt Michael Gabriel: "Wir kriegen ohne Ende Lob. Das macht sich aber nicht bemerkbar in einer stabilen Finanzierung. Weil ich glaube tatsächlich, diejenigen, die in Entscheidungspositionen sind, dann eher entscheiden, wo fällt ein Scheinwerfer hin und wo kann man sich mit positiveren Geschichten ablichten."

Neue Zielgruppen für NGOs

In den Organisationen, für die der Fußball im Fokus steht, scheinen die Budgets nicht zu wachsen. Dafür beteiligen sich Organisationen an den Debatten, die mit Fußball sonst nichts zu tun haben. Rund um die WM 2022 in Katar entwickelten Menschenrechtsorganisationen Kampagnen zur Lage in den Golfstaaten.
"Die Arbeit zum Thema Sport und insbesondere Fußball, die hat es uns schon ermöglicht, an neue Zielgruppen heranzutreten", sagt Katja Müller-Fahlbusch, die sich bei Amnesty International mit den Ländern im Nahen und Mittleren Osten befasst, auch mit Katar: "So eine Kooperation wie mit dem Deutschen Fußballmuseum beispielsweise: Die erreichen junge Männer, die noch in der Schule sind und die erstmal bei Menschenrechtsthemen wahrscheinlich häufig sagen würden: 'Ach, was geht mich das eigentlich an oder was interessiert mich das'? Und über den Zugang zum Fußball erreicht man ganz viel und kann man ganz viel transportieren."

Auch auf Amateurebene wird mehr getan

Nicht nur rund um die Weltmeisterschaften wächst die Zivilgesellschaft, sondern auch auf Amateurebene. Landesverbände und Breitensportvereine können auf das Wissen von Beratungsstellen zugreifen.
Eine davon ist das Projekt "Zusammen1", das sich für die Aufklärung gegen Antisemitismus stark macht. Bei den Workshops werden Sport und politische Bildung direkt verknüpft, erläutert die Ethnologin Rachel Etse: "Es ist so, dass wir dann wirklich auf dem Fußballplatz sind, also auch mit Sportsachen. Und dann machen sie Dribbling-Übungen, Pässe, aber eben gekoppelt mit Fragen, sich mal ein bisschen politisch zu äußern, auch zu positionieren. Oder eben auch Workshops in den Räumen, wo wir dann auch ein bisschen mehr in die Tiefe gehen inhaltlich."

Mittel für Projekte im Rahmen der EM ausgeschrieben

Bei vielen Trägern der politischen Bildung macht sich mitunter Resignation breit. Angesichts der Krisen weltweit – und angesichts der Wahlerfolge der AfD. Doch sie wollen weitermachen, obwohl sich Erfolge in der Prävention schwierig vermarkten lassen.
Im kommenden Jahr findet die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland statt. DFB, Stiftungen und Ministerien haben Mittel für Projekte ausgeschrieben. Sie könnten das zivilgesellschaftliche Netzwerk auf eine neue Ebene heben.