Dienstag, 14. Mai 2024

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Wie Kriegserfahrungen nachwirken
"Ich war Großvaters nachgeborener Zeuge"

Der Autor Kurt Oesterle bekam vom Großvater erzählt, er habe als Däumling in dessen Ohr gesessen, als dieser im Ersten Weltkrieg kämpfte - und nichts von den schrecklichen Kriegserlebnissen. "Die Erbschaft der Gewalt beginnt bei mir mit einer nicht böswilligen Unterlassung", sagte Oesterle im Dlf.

Kurt Oesterle im Gespräch mit Karin Fischer | 01.09.2018
    Französische Soldaten stürmen vorwärts in der Schlacht um Verdun im Jahr 1916
    Erster Weltkrieg: Französische Soldaten in der Schlacht um Verdun im Jahr 1916 (picture-alliance / dpa / AFP)
    Karin Fischer: Deutschland gilt immer als Vorreiter, wenn es um die Aufarbeitung des schlimmsten Verbrechens im 20. Jahrhundert geht, des Holocaust. Er gilt als negativer Gründungsmythos der Bundesrepublik, und das "Nie wieder!" bestimmt sowohl die Verfasstheit dieses Staates als auch das politische Handeln bis heute.
    Aber was ist mit der Schuld, den Erlebnissen, den Traumatisierungen, die die Deutschen während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch schon im Ersten Weltkrieg erfahren - und fast nie bewältigt haben? Dem ist der Autor, Journalist und Essayist Kurt Oesterle anhand seiner eigenen Familiengeschichte nachgegangen, die er mit Untersuchungen vom kollektiven Erinnern in Europa ergänzt, und mit ihm habe ich in unserer Reihe "Erinnern und Vergessen" gesprochen. Unser Thema: "Die Erbschaft der Gewalt. Über nahe und ferne Folgen des Krieges", so lautet auch der Titel seines Buches. Kurt Oesterle, was ist das für Sie die "Erbschaft der Gewalt"?
    Kurt Oesterle: Die Erbschaft der Gewalt setzt sich aus einem persönlich-subjektiven und einem objektiv-gesellschaftlichen Teil zusammen. Das Persönliche und das Subjektive habe ich versucht, an Entwicklungen in meiner Familie von 1918 bis 1945, also bis in meine Jugend, wenn Sie so wollen, um 1960 verfolgt. Das andere, das Objektive wäre, wie eine Gesellschaft mit dem Gewalterbe umgeht und es zum Beispiel im öffentlichen Raum durch Denkmäler, Museen und so weiter repräsentiert.
    Fischer: Um Erinnerung weitergeben zu können, muss man reden, und das haben mehrere Kriegsgenerationen in Deutschland eher nicht getan. In Ihrer Familie war das anders. Aber wir sprechen ja nicht umsonst auch von Familienerzählungen. Es handelt sich dabei ja um Narrative, deren Wahrheitsgehalt subjektiv ist, um es vorsichtig zu formulieren. Was haben Sie herausgefunden über die Generation Ihres Vaters und Großvaters?
    Oesterle: Die Erbschaft der Gewalt beginnt bei mir mit dem Großvater und einer nicht böswilligen Unterlassung, aber eben doch einer Unterlassung, nämlich aus seiner sehr wahrscheinlich schrecklichen Kriegserfahrung an der Somme in einer der größten Schlachten dieses Krieges, daraus ein Märchen gemacht zu haben. Er hatte seinen Söhnen und dann seinem Enkel, mir erzählt, dass wir nämlich als Däumling in seinem Ohr mit ihm an der Front gewesen seien.
    Ich habe diese Geschichte auserzählt in meinem Buch und dazu festgestellt, dass es sich um eine traumatypische Verzerrung von schmerzhafter Wirklichkeit, von Gewalteindrücken, extremen Gewalterfahrungen handelt.
    Märchen von der Familie im Ohr
    Fischer: Hat er das denn geglaubt, diese Geschichte?
    Oesterle: Das hat er nicht geglaubt. Er hat sie für wahr nehmen können im Zusammensein mit dem vier- bis sechsjährigen Enkel, so wie Großeltern und Enkel in einer dritten Dimension, wenn Sie so wollen, miteinander unterwegs sind – wie im Märchen. Es hat ihn wahrscheinlich beruhigt und ich war sein nachgeborener Zeuge. Das war vermutlich das Entscheidende.
    Er hat dabei aber natürlich die brutale Wirklichkeit des erlebten Kriegs verzerrt, und ich meine, durch diese Verzerrung (Psychoanalytiker sprechen von Dissoziation) seinen eigenen Söhnen die Wahrnehmung dieses wirklichen Krieges erschwert oder unmöglich gemacht.
    Porträt des Tübinger Schriftstellers Kurt Oesterle
    Der Tübinger Schriftsteller Kurt Oesterle (Klöpfer & Meyer Verlag / Manfred Grohe)
    Um es verkürzt zu sagen: Diese Jungen sind dann auf eine ganz andere Propaganda hereingefallen, nämlich auf die Deutung des Ersten Weltkrieges durch die Nationalsozialisten, die im Dienst der Vorbereitung eines anderen Krieges stand. Kein Wunder, dass die Söhne meines Großvaters in ganz jungen Jahren glühende Verehrer Hitlers wurden.
    Fischer: Die Schlachten des Ersten Weltkrieges waren eine so massenhafte und direkte Erfahrung von Gewalt, dass man sich heute fragt, wie das überhaupt erinnert werden kann. Sie waren im Rahmen Ihres Buches und zuletzt auch wieder viel auf den französischen Schlachtfeldern an der Somme oder in Verdun unterwegs. Was haben Sie dort erfahren, auch über den Unterschied zwischen dem persönlichen und dem kollektiven Erinnern?
    Oesterle: Das persönliche Erinnern spielt in einer Museumslandschaft wie der rings um Verdun kaum eine Rolle. Natürlich gibt es Belege von einzelnen Kriegsteilnehmern, die immer wieder eingeblendet werden – durch Textzitate, auch in Filmen und so weiter. Aber entscheidend ist etwas anderes: Es ist das Kollektiv. Es sind die beiden Seiten, die miteinander Krieg führen und doch vereint sind in einem gemeinsamen Leiden.
    Dieses gemeinsame Leiden hat nach 1918 noch keine große Rolle gespielt. Da war das Leiden der eigenen, der französischen Truppen ganz klar im Vordergrund. Inzwischen aber wird diese Gewalt, dieser Krieg, der in Verdun geführt wurde, so immens und wuchtig dargestellt, dass man sich eigentlich fragt, wo die Unterschiede zwischen Freund und Feind noch sind, ohne jetzt politisch vereinfachend wirken zu wollen, aber so wird dort an Originalschauplätzen wie dem Bajonettgraben, wo wahrscheinlich immer noch Soldaten verschüttet sind, deren Bajonette oben aus der Erde ragen, bis hin zu Museen, die mit modernsten Mitteln arbeiten, wie dem Memorial von Fleury, diese Gewalt aufgearbeitet, spürbar immer im Hintergrund der Versuch, sie nicht zu verfehlen, zu verkleinern, zu verharmlosen.
    Unaussprechliches Leid im Ersten Weltkrieg
    Man kann eigentlich kaum nachvollziehen, was Soldaten in diesen Schlachten erlitten haben, weshalb ein bedeutender Mann dieser Musealisierung, der selbst Soldat in Verdun gewesen war, sagte: "Ich kann von der Kriegsgewalt dort dem deutschen Soldaten, der ebenfalls in diesem Kampf war, mehr und Genaueres mitteilen als meiner eigenen Familie.
    Fischer: Aber das gemeinsame Leiden, das Sie angesprochen haben, ist ein wichtiges Stichwort, denn auch Soldaten anderer Länder sind traumatisiert aus diesem Krieg heimgekommen. Ein sehr beeindruckendes Kapitel in Ihrem Buch, Kurt Oesterle, handelt von britischen "war poets", die ihre Erinnerungen in Gedichte geformt haben. Eine solche Textsorte als Erinnerungs- und Bewältigungsinstrument verdichtet diese Erfahrung ja noch mal. Es ging dabei wohl auch um Mitleidserfahrung, um Empathie, weil im Tod alle gleich waren, um tatsächlich gemeinsames Leiden. Funktionieren solche Kriegsgedichte für Sie auch als Erinnerungsspeicher?
    Oesterle: Ja, ganz enorm. Für mich sind diese Gedichte, wenn sie nicht zu sehr in einem privaten Literaturidiom wie dadaistischer Poesie etwa schwelgen, ganz enorme Dokumente der Kriegserfahrung. Und die Briten haben immer sehr stark in fast allen Gedichten darauf geachtet, mitteilbar zu bleiben, von dieser extremen Gewalterfahrung Mitteilung an andere Menschen zu machen, verständlich zu bleiben. Ich glaube, dass es die gültigsten und intimsten Dokumente für das Erleiden von Kriegsgewalt in der Poesie gibt – noch mehr als in den Prosa-Auseinandersetzungen, Romanen, Kriegserinnerungen -, weil dieser intime Zuschnitt da ist bei Leuten wie Siegfried Sasson oder Wilfred Owen. Sehr viele von diesen jungen Dichtern sind 1918, gerade im Jahr 1918 noch gefallen.
    Die heilende Kraft der Poesie
    Aber die Briten hatten recht früh eine Traumatherapie angeboten für kriegstraumatisierte Soldaten in Greek Lockhart in Schottland, und der leitende Arzt dort, Dr. Rivers, hat Leuten wie Siegfried Sasson gesagt, ihr seid doch der Sprache mächtig und des Verses, bedient euch dieser Macht, um euren Kriegsschmerz aufzuarbeiten. Er hat ihnen theoretisch umrissen, was Trauma sei, und bei einem wie Sasson sehen Sie schon 1918 auf 1919 in Gedichten, wie er sich mit ganz neuen Sichtweisen abarbeitet an diesem stummen Schmerz, der in ihm sitzt und den er nicht zu fassen kriegt, also auch Schlafstörungen, extreme Aggressivitätsanfälle, Dinge, die scheinbar unerklärlich sind, wenn man in England sitzt und nicht an der Front in Frankreich steht, aber dennoch extrem belastend und zum Teil kaum zu bewältigen.
    Fischer: Dann könnte ich an dieser Stelle einmal auch das Stichwort Vergessen anbringen, was in unserer Reihe ja auch eine große Rolle spielt. Denn in der Traumaforschung heute spielt eigentlich das Vergessen auch eine Rolle. Was halten Sie davon? Ist Vergessen manchmal ebenso heilsam wie Erinnern?
    Oesterle: Ganz bestimmt ist es das. Ich glaube mit dem jungen Nietzsche, dass wir Vergangenheit dort brauchen und auch haben sollen, in scharf reflektierter Form, wo sie Bedeutung für die Gegenwart hat, also in einem kritischen Zusammenhang. Ich würde jedem Betroffenen wünschen, dass er diese Qual irgendwann tatsächlich vergessen kann, um wieder fähig zu sein zu leben. Aber eine Gesellschaft, eine größere Gruppe, die eigentlich darauf verpflichtet ist zu erinnern, sollte nicht vergessen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.