Freitag, 19. April 2024

Archiv

Wiederaufbauhilfe im Irak
"Zunächst sauberes Trinkwasser"

Im Nordirak habe momentan "der Krieg ganz Priorität, sagte der Generalsekretär der Hilfsorganisation CARE, Karl-Otto Zentel, im DLF. Für die Menschen, die nach der Befreiung von der IS-Herrschaft nun dorthin zurückkehren, seien nun aber Minenräumung und der Aufbau der zerstörten Wasserversorgung wichtig.

Karl-Otto Zentel im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 22.04.2017
    Irakische Zivilisten und Rettungshelfer inspizieren den Schaden in Mosul al-Jadida, der durch Luftangriffe verursacht wurden, am 26.3.2017. Die Luftangriffe richten sich gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS).
    Wo anfangen? Irakische Zivilisten und Rettungshelfer inspizieren Kriegsschäden. Die Hilfsorganisation CARE fängt bei der Wasserversorgung und dem Aufbau von Krankenhäusern an. Dabei braucht sie viel Unterstützung. (AFP PHOTO/ AHMAD AL-RUBAYE)
    Jürgen Zurheide: Bundesaußenminister Sigmar Gabriel ist unterwegs gewesen im Irak. Es war ein politischer Besuch, sowohl in der Hauptstadt, aber auch im Norden des Iraks. Er ist dem Krieg so nahe gekommen wie bisher kaum ein anderer deutscher Politiker, und was er gesagt hat, kann man mit zwei Worten zusammenfassen: "Total schockiert" ist er gewesen von den Bildern, die er in der Nähe von Mossul gesehen hat. Blutige Kämpfe, viel Zerstörung und wenig Hoffnung für die Frage, wie kann es denn da eigentlich weitergehen. Karl-Otto Zentel ist auch im Nordirak gewesen, nicht mit Gabriel, aber an ähnlichen Orten. Er ist CARE-Generalsekretär, gerade heute Nacht wiedergekommen aus diesem Gebiet und jetzt bei uns am Telefon. Schönen guten Morgen, Herr Zentel!
    Karl-Otto Zentel: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Herr Zentel, wenn ich Sie nach Ihren Eindrücken frage, welche Bilder haben Sie heute Morgen noch im Kopf?
    Unterstützung für den Wiederaufbau
    Zentel: Das sind sehr vielschichtige. Wir haben zum einen auch diese – also ich konnte diese Zerstörungen sehen in Bashiqa, das ist ungefähr zehn Kilometer von Mossul entfernt. Eine Stadt, die früher von allen drei Religionen, also von Muslimen, Christen und Jesiden bewohnt war. Sie sehen da Moscheen, Sie sehen da Kirchen, es gab auch jesidische Tempel, die vom IS erobert wurde und die einer der heftigsten Punkte der Kämpfe bei der Befreiung des Gebietes war. Diese Stadt ist weitestgehend zerstört, auch noch weiträumig vermint. Aber Menschen kehren dort zurück und brauchen natürlich Unterstützung, um wieder ihr Leben aufbauen zu können.
    Zurheide: Wenn ich jetzt frage, was brauchen die Menschen – Sie haben gerade gesagt, zerstört. Ich habe gelesen, fast jedes zweite oder dritte Haus ist zerstört, die Minen haben Sie angesprochen. Was ist da überhaupt übrig geblieben?
    Zentel: Seit Hilfsorganisationen wie jetzt zum Beispiel CARE dort in Bashiqa tätig sind, ist die Zahl der Rückkehrer ständig gestiegen, weil die Voraussetzungen langsam aufgebaut werden können. Die Menschen brauchen zunächst einmal sauberes Trinkwasser. Wir haben zwar noch nicht Sommer, aber die Temperaturen sind schon recht hoch, und bald gehen die über 40 Grad. Das ist eine ganz wichtige Sache, und die Wasserversorgung ist zerstört. Es braucht Hilfe beim Wiederaufbau.
    CARE hat dort Hilfsgüter verteilt im Sinne von erster Einrichtung für Häuser, aber auch einige Materialien, die man verwenden kann, um sein Haus wieder langsam aufzubauen. Es braucht Gesundheitseinrichtungen, gerade im Bereich mit der Gesundheit. Wir werden dort ein Müttergesundheitskrankenhaus wieder instand setzen, das vorher da war. Das alles in enger Absprache mit den Autoritäten.
    Und es braucht natürlich sehr viel psychosoziale Arbeit, Friedensarbeit, um auch das Zusammenleben dieser drei verschiedenen religiösen Gruppen – was ich so faszinierend fand. Wissen Sie, ich war da am Osterdienstag, das war ein Tag vor dem jesidischen Neujahrsfest, und habe also gefühlt ein halbes Dutzend bemalte Eier gegessen und mindestens mit 15 Jesiden Eiertitschen gemacht. Das sind schon Dinge, die bewegen.
    Ansprechpartner aus verschiedenen religiösen Gruppen
    Zurheide: Sie haben gerade gesagt, Sie arbeiten auch mit den Autoritäten dort vor Ort zusammen. Ist denn da überhaupt eine Struktur erhalten geblieben? Mit wem kann man da zusammenarbeiten? Wie muss man sich das überhaupt praktisch vorstellen?
    Zentel: Es sind Strukturen, die jetzt neu entstehen. Es ist nicht mehr das, was vorher da war, es sind Leute, die unter IS-Zeiten dort waren, es sind Leute, die vorher dort waren. Es sind Verantwortliche aus den verschiedenen religiösen Gruppen. Es sind eingesetzte Personen als Bürgermeister, die da Ansprechpartner sind, eine Art von Gemeinderäten, die sich etablieren, die extrem wichtig sind, um auch den Zugang zu den Gebieten zu erhalten, um auf alle Seiten zugehen zu können, um ein ausgewogenes Programm umzusetzen.
    "Am meisten unter dem IS haben die Jesiden gelitten"
    Zurheide: Sie haben gesagt, beeindruckend ist der Zusammenhalt gewesen. Hat der nicht gelitten in dieser Zeit unter dem IS? Und man sagt ja auch gelegentlich, dass die Koalition, die im Moment Mossul zu befreien versucht vom IS, dass es dort sehr unterschiedliche Interessen gibt, und das bricht wieder auf, sobald der IS nicht mehr da ist. Haben Sie so was bemerkt oder eher nicht?
    Zentel: Es ist ein Problem für die Menschen, die zurückkehren. Wir müssen das sehr genau im Auge behalten. Am meisten unter dem IS haben die Jesiden gelitten. Sie finden dort keine Familie, die nicht entweder mehrere Angehörige verloren hat, oder Familien, die noch Angehörige vermissen, nicht wissen, wo sie sind. Ich war in einem Flüchtlingslager dann in Sumar, nördlich von Mossul, habe da mit jesidischen Familien gesprochen, die immer noch traumatisiert sind, Mütter die also mehrere ihrer Kinder vermissen, von denen sie nicht wissen, was aus ihnen geworden ist. Das sind Dinge, die lange tragen, das sind Dinge, an denen wir natürlich auch arbeiten müssen, wenn ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Gruppen – und es war ein bunt gemischtes Gebiet eigentlich, eigentlich ein faszinierendes Gebiet, wo es sehr viele religiöse Gruppen und auch ethnische Gruppen eigentlich relativ friedlich zusammenlebten.
    Entfernung von Minen und Sprengfallen
    Zurheide: Sie haben gerade gesagt, man muss bestimmte Dinge als Erstes tun. Die Wasserversorgung haben Sie angesprochen. Sie haben gerade mal in einem Nebensatz auch die Minen erwähnt. Ich glaube, Sigmar Gabriel hat da besonders drauf hingewiesen, dass das natürlich die Grundlage ist. Die Felder ringsum sind vermint. Wer kann da was machen. Das können Sie als Hilfsorganisation ja vermutlich kaum leisten, das ist ja eine militärische Aufgabe, oder?
    Zentel: Nicht nur. Es ist eine militärische Aufgabe, wobei das militärische Minenräumen andere Standards setzt als das zivile Minenräumen. Es gibt dort internationale Organisationen, die im Minenräumen tätig sind. Und Sie müssen jetzt eigentlich jedes Gebäude, das Sie wieder in Betrieb nehmen wollen, zunächst untersuchen lassen, ob da Sprengfallen, ob da Blindgänger, ob da Minen vorhanden sind. Das ist eine Grundvoraussetzung, das ist völlig klar eine der Voraussetzungen für eine sichere Rückkehr der Menschen.
    "Wasseraufbereitungsanlagen alle beschädigt"
    Zurheide: Sie haben die Wasserversorgung angesprochen. Was kann man denn dort tun, gerade vor dem Sommer, wo Wasser eine der Lebensgrundlagen überhaupt ist, wenn das alles zerstört ist?
    Zentel: Der erste Schritt, um die akute Not zu lindern, sowohl in diesen zerstörten Städten, aber jetzt auch gerade aktuell in Ost-Mossul, wo CARE am Sonntag zum Beispiel auch aktiv war mit Verteilung: Es ist, die Wassertanks aufzustellen und mit Lkws, Tanklastern Wasser dort hinzufahren, die aufzufüllen, Verteilungsstellen einzurichten. Der nächste Schritt wird sind, dann kleine Netzwerke, Wasserverteilungssysteme, also Rohranlagen in Betrieb zu nehmen, Brunnen, wo vorhanden und wo möglich zu rehabilitieren und mit Pumpen zu versehen, damit die Versorgung dort gedeckt ist. Das ist ein bisschen abhängig von der Infrastruktur. Zum Beispiel Mossul, eine Stadt mit Millionen von Einwohnern, wird natürlich große infrastrukturelle Anforderungen stellen. So weit ich weiß, sind die Wasseraufbereitungsanlagen im Osten, das waren fünf Anlagen, alle beschädigt.
    "Da ist auch die irakische Regierung natürlich gefragt"
    Zurheide: Wer kann da was machen? Können das Hilfsorganisationen?
    Zentel: Das ist eigentlich eine Sache, ich muss sagen, da ist auch die irakische Regierung natürlich gefragt. Das ist eine Regierungsaufgabe, so große Maßnahmen zu machen. Es gibt dafür auch Gelder aus Deutschland, aber dazu muss sich auch, muss man auch sagen, der Staub der Kämpfe erst ein bisschen gesetzt haben.
    Zurheide: Ist denn die Regierung überhaupt in der Lage, das zu tun? Jetzt komme ich nochmals auf die möglicherweise internen Auseinandersetzungen, die es da gibt. Welche Erfahrungen machen Sie als Hilfsorganisation? Hat man da die Ansprechpartner, die man braucht?
    Zentel: Es gibt Ansprechpartner, aber es fehlen Ressourcen. Wir sind hauptsächlich im Norden aktiv, und dort sehen wir auch, dass die ökonomische Situation, also die Verfügbarkeit von Mitteln sehr stark eingeschränkt ist und dementsprechend viele Dinge, die dringend notwendig sind, nach hinten geschoben werden, weil die Kämpfe im Moment noch, also der Krieg ganz klar Priorität hat.
    CARE mit sechs Mitarbeitern und 30 lokalen Helfern vor Ort
    Zurheide: Mit wie viel Menschen sind Sie denn dort vor Ort? Und ist die Sicherheit gewährleistet? Haben Sie sich sicher oder unsicher gefühlt?
    Zentel: Ich habe mich sicher gefühlt. Wir sind sehr gut vernetzt, klären unsere Reisen vorher ab, arbeiten dort mit irakischen lokalen Organisationen auch zusammen, die aus den Gebieten kommen, von daher auch Zugang zu den Ansprechpartnern haben, sicherstellen, dass wir uns bewegen können. Wir haben dort sechs internationale Mitarbeiter im Einsatz, und ungefähr 30 lokale Mitarbeiter.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.