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Wilhelm Heitmeyer
"Autoritäre Versuchungen"

"Deutsche Zustände" - so hieß die zehnbändige Dauerbeobachtung der Gesellschaft durch eine Gruppe Wissenschaftler unter dem Soziologen Wilhelm Heitmeyer. Darin wurden Ausprägungen von Abwertung, Diskriminierung und Ausgrenzung abgebildet. Heitmeyer legt nun nach und zeichnet ein düsteres Bild.

von Peter Carstens | 22.10.2018
    Der Gewalt- und Konfliktforscher Prof. Wilhelm Heitmeyer spricht auf einem Symposium in Kassel im Dezemer 2016
    Prof. Wilhelm Heitmeyer gründete 1996 das Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. (imago/Hartenfelser)
    Eines gleich vorab: Der Anblick eines Soziologenbuchs aus dem Suhrkamp Verlag kann bei weniger theoretischen Seelen Angst und Schrecken auslösen: Lauern da auf hunderten Seiten komplizierte Textschlangen jenseits des Alltag? - Bei Wilhelm Heitmeyer und seinem neuen Buch "Autoritäre Versuchungen" muss man das aber nicht befürchten, im Gegenteil: Der Bielefelder Konfliktforscher erklärt das Aufkommen autoritärer Bewegungen generell und der radikalnationalen AfD speziell zwar auf breitem wissenschaftlichem Fundament. Er schreibt aber zugleich in alltagstauglicher und schöpferischer Sprache. Also: Keine Angst vor diesem Buch!
    Zum Aufstieg der Gauland-Partei kam es aus der Perspektive des Soziologen nach einer langen Serie von Veränderungen, die viele als Kontrollverlust erleben. Dazu zählen die Globalisierung und Hartz IV ebenso wie der islamistische Terror und die Flüchtlingswanderung. Das Ausdünnen sozialer Netze und ein Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung für Zurückleibende, das habe seit den neunziger Jahren Millionen in wutgetränkte Apathie getrieben. Europaweit.
    "Autoritäre Versuchungen sind vor diesem Hintergrund vor allem als Reaktionen auf individuellen oder gesellschaftlichen Kontrollverlust zu interpretieren. Sie erzeugen eine Nachfrage nach politischen Angeboten, die darauf abzielen, die Kontrolle wiederherzustellen - und zwar durch Ausübung von Macht und Herrschaft sowie über Ausgrenzung und Diskriminierung."
    Motor dieser Entwicklung war aus Sicht des versierten Langzeitbeobachters deutscher Zustände vor allem der, wie er ihn nennt "autoritäre Kapitalismus". Der sei ab den neunziger Jahren in unserer Gesellschaft zur brutalen Landnahme übergegangen, ähnlich wie in anderen europäischen Ländern und den USA. Heitmeyer hat dies bereits 2001 in einem Text beschrieben und damals einen starken Rechtspopulismus als Folge vorhergesagt.
    Wutgetränkte Apathie erwuchs zu Neonationalismus
    Immer mehr Menschen erlebten seitdem, dass sie weniger Kontrolle über ihr individuelles Leben haben, immer öfter wurde Anpassung verlangt und zugleich das Gefühl verstärkt, die Demokratie lasse einen im Stich. Heitmeyer nennt die vergangenen dreißig Jahre "entsicherte Jahrzehnte" und konstatiert, dass die politischen und gesellschaftlichen Eliten diese Entwicklung stets bagatellisiert hätten. Die Radikalisierung rechtspopulistischer Einstellungen sei dann seit der Finanzkrise 2008 sichtbar geworden, lange vor den Pegida-Demonstrationen.
    Identitäre Bewegung, Demo am 4.3.2017 in Berlin.
    Das Ausdünnen sozialer Netze und ein Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung für Zurückleibende, das habe seit den neunziger Jahren Millionen in wutgetränkte Apathie getrieben - so Wilhelm Heitmeyer. (imago / IPON)
    Aus Statuspanik und wütender Apathie heraus entstand ein Neonationalismus, den Heitmeyer so beschreibt:
    "Wenn den Menschen auf ökonomischer, politischer und sozialer Ebene die Anerkennung versagt bleibt, sagen sie sich womöglich: Wenigstens das Deutsch-sein kann mir niemand nehmen. Die nationale Identität wird zum Anker, der in stürmischen Zeiten Stabilität verleihen soll."
    Es fehlte aber lange an einer Partei, die diese Ankerfunktion wahrnehmen konnte, die rechtsextreme NPD mit ihrer Hitler-tümelei war es jedenfalls nicht. Auch wenn es Bezüge zwischen der alten NPD und der neuen AfD gebe, wie Heitmeyer konstatiert. Auch die AfD Partei präge ein
    "rabiater und emotionalisierter Mobilisierungsstil, der vor allem mit menschenfeindlichen Grenzüberschreitungen operiert. […] Gleichzeitig existieren zum Teil Überschneidungen mit rechtsextremen Themensetzungen und Positionierungen, etwa bei der Beurteilung der Flüchtlingsbewegung, der Bewertung der Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, der Beurteilung des nationalsozialistischen Systems."
    Die AfD ist autoritär nationalradikal
    Rechtsextrem will Heitmeyer die AfD aber nicht nennen, dazu fehlten wesentliche faschistische Elemente wie die Ausrichtung auf einen Führer, die paramilitärischen Elemente und ein offener Kult der Gewalt. Den Oberbegriff "Populisten", den sich AfD-Politiker selbst anheften wie einen Orden der Volksnähe, findet Heitmeyer aber auch falsch. Er nennt die AfD eine Partei des "autoritären Nationalradikalismus" und deutet sie als Vorboten der Gewalt.
    Obwohl er sein Manuskript schon vor Monaten beendet hat, passt das, was er dazu schreibt, perfekt zu den Ereignissen von Chemnitz, wo AfD und Nazi-Schläger erstmals gemeinsam marschierten:
    "Damit wird der Weg frei für autoritäre und nationalradikale Bewegungen mit weiteren Aufheizungen - sie erreichen auch gewalttätige Akteure, die die angestrebten autoritären Ordnungsvorstellungen auf ihre Art lokal oder regional vorantreiben. Mittel sind physische Gewaltandrohungen zur Machtdemonstration oder physische Gewalt - ohne dass diese Gewalt den sprachlichen Urhebebern und Legitimationsbeschaffern direkt zuzurechnen wäre."
    Kritisch beurteilt Heitmeyer in seiner anschaulichen Untersuchung Versuche der Unionsparteien, durch sprachliche Nachahmung die Kontrolle über die wegfallenden Ränder zurück zu erlangen. Das seien riskante Anpassungsversuche, die zu Normverschiebungen führten. Wenn selbst ein bayerischer Ministerpräsident Schutzsuchende als "Asyltouristen" denunziert, und ein anderer neuerdings in Sachsen "deutsche Werte" propagiert, führe das lediglich zu einer Verrohung und Verschiebung der Normalität des Sagbaren. Eine Soziologentheorie, die sich in Bayern soeben quasi wahlamtlich bewahrheitet hat.
    Die Eskalation ist nicht einfach aufzuhalten
    Wilhelm Heitmeyer, der 1996 das Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung gegründet hat, hält aber auch nichts von moralisierender Fundamentalkritik und der Einordnung der AfD ins Neonazi-Lager. Denn:
    "Je höher das moralische Gefälle, das da konstruiert wird, desto geringer sind die Kommunikationschancen. Und wenn Kommunikation ausbleibt beziehungsweise vorrangig innerhalb der eigenen Bezugsgruppe stattfindet, etwa in den abgedichteten Echokammern der sozialen Netzwerke oder anderen abgedunkelten Öffentlichkeiten, begünstigt das die Radikalisierung zusätzlich."
    Aber was kann, was soll getan werden? Da ist der Soziologe am Ende auch eher ratlos. Es gebe, schreibt er, einen "Mythos vom Verschwinden des Autoritären". Wenn es einmal da ist, sei es nicht mit dem Abtreten einer Bundeskanzlerin oder schärferen Grenzkontrollen getan. Düster schreibt er von einem "Eskalationskontinuum". Weder der globale Kapitalismus und die kulturellen Konflikte noch die demographischen Veränderungen seien aufzuhalten.
    "All diese Faktoren sind auf Dauer geschaltet und lassen sich mit dem konventionellen Werkzeugkasten demokratischer Politik - im Wesentlichen Gesetze, Geld und Appelle - nicht kurzfristig verändern."
    Theoretisch mag das zutreffen, aber praktisch müssen wir doch auf die Möglichkeiten und die Wirksamkeit demokratischer Politik vertrauen. Außerdem sollte Wilhelm Heitmeyers Buch "Autoritäre Versuchungen" ja auch nicht als Worte des Propheten gelten, sondern als ein durchdachter und kluger Beitrag zum Verständnis der bewegten Gegenwart.
    Wilhelm Heitmeyer: "Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung I",
    Suhrkamp, 394 Seiten, 18 Euro.