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"Wir diskutieren vor dem Hintergrund einer mindestens 10-, 20-jährigen Geschichte"

Der Leiter der Europa-Projekte der Bertelsmann Stiftung, Joachim Fritz-Vannahme, hat davor gewarnt, in der Debatte um Wege aus der Eurokrise nur die Kosten zu sehen und den größeren Kontext aus dem Blick zu verlieren. Die tatsächlichen Kosten etwa der Griechenlandrettung seien ohnehin ganz schwer zu berechnen, da es keine Budgetzahlungen, nur Garantien seien.

Joachim Fritz-Vannahme im Gespräch mit Dirk Müller | 31.08.2011
    Dirk Müller: Wenn die Mehrheit in der eigenen Fraktion nicht steht, dann appellieren die Chefs gerne an die Geschlossenheit der seinen. Volker Kauder hat dies getan, er leitet die Fraktion aus CDU und CSU. Geschlossenheit hin oder her, aber soll der mündige Abgeordnete die eigene Vernunft, die eigene Überzeugung, das eigene Gewissen beiseitestellen und sich der geforderten Geschlossenheit unterordnen? Wie das Ganze ausgeht bei den Regierungsfraktionen, dürfte spannend werden in den kommenden Wochen bei der Entscheidung, mit Ja oder mit Nein zu stimmen beim milliardenschweren Rettungsschirm. Das Kabinett hat erst einmal zugestimmt.

    Die Kanzlerin hatte zugleich bereits vor Wochen ein Angebot an die Skeptiker ihrer Europolitik gemacht. Das alles soll laut Angela Merkel und Nicolas Sarkozy verbunden werden mit einer europäischen Wirtschaftsregierung, vielleicht sogar perspektivisch mit einer politischen Union. Darüber sprechen wollen wir nun mit Joachim Fritz-Vannahme, Leiter der Europa-Projekte bei der Bertelsmann Stiftung. Guten Tag!

    Joachim Fritz-Vannahme: Einen schönen guten Tag.

    Müller: Herr Vannahme, wozu soll das gut sein, mehr Europa?

    Fritz-Vannahme: Nun, mehr Europa haben wir uns im Grunde genommen schon in die Auftragsbücher reingeschrieben, indem wir zum Beispiel den Euro geschaffen haben, aber auch, indem wir den Vertrag von Lissabon verabschiedet haben, der ja im Augenblick fast immer nur mit den einschlägigen Paragrafen Haftungsausschluss und Nothilfemaßnahmen zitiert wird, der aber zum Beispiel auch vorschreibt, dass diese Union den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten befördern muss. Das ist Pflicht. Also wir erfinden da nichts neu, wir diskutieren hier nicht vom Nullpunkt an, sondern wir diskutieren vor dem Hintergrund einer mindestens 10-, 20-jährigen Geschichte.

    Müller: Aber jetzt finden viele Deutsche die Vorstellung ganz, ganz furchtbar, abschreckend, darüber nachzudenken, dass andere Nationen auch jetzt im europäischen Kontext mehr Einfluss bekommen auf unsere Politik.

    Fritz-Vannahme: Ja, aber das ist ein Geben und Nehmen. Man darf das nicht auf diesen einzelnen Fall verengen. Ich will jetzt nicht sofort wieder mit den ökonomischen Daten ankommen, aber ich meine, die Exportüberschüsse, die eigentlich ja gar keine mehr sind, die wir mit den europäischen Partnern im Rahmen des Binnenmarktes erzielen können, die sind ja auch nicht von Ungefähr gekommen, die sind ja auch Teil dieser gesamten Veranstaltung, die früher mal Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und heute Europäische Union heißt. Ich glaube, die deutsche Debatte ist manchmal sehr in Gefahr, dieses Geben und Nehmen in einem größeren Kontext aus dem Blickwinkel zu verlieren und vor allem auch das Ganze immer runterrechnen zu wollen auf die Frage, was kostet es uns. Diese Kosten sind, muss man sowieso warnen, ganz, ganz schwer zu berechnen. Alle Zahlen, die eben in der Berichterstattung genannt worden sind, sind ja keine Budgetzahlungen, sondern sind erst mal Gewährleistungen, sind erst mal Garantien, sind erst mal mögliche Kreditzusagen, wenn es zum Schlimmsten kommt. Also es ist ja nicht so, dass hier sofort von deutscher Seite 211 Milliarden zu zahlen wären.

    Müller: Also Sie meinen, die Griechen könnten irgendwann sogar zurückzahlen?

    Fritz-Vannahme: Nun, das wird eine Weile dauern, da macht man sich ja keine Illusionen, dass ein Land, das tatsächlich schon Anstrengungen unternimmt, noch sehr viele Anstrengungen unternehmen muss, um überhaupt wieder einigermaßen nicht schuldenfrei zu werden, sondern in eine begrenzte Verschuldung hineinzugeraten. Das ist ein Prozess von fünf oder zehn Jahren, eventuell sogar noch länger. Aber ich glaube, man darf da wirklich nicht immer nur auf diesen Mechanismus gucken. Ich habe auch ein dummes Gefühl dabei, wenn ich mir vorstellen sollte, dass jemand, der munter Schulden macht, hinterher das Geld bei mir abholen kann, ohne dass ich überhaupt noch gefragt werde. Darum, das ist der Kern der Auseinandersetzung, geht unter Europäern und zwischen den europäischen Regierungen derzeit die Debatte, und da muss eine Antwort gefunden werden. Da werden ja auch Vorschläge auf den Tisch gelegt, tatsächlich von Schuldenbremse bis Euro-Bonds. Es ist ja nicht so, dass es da an Fantasie und an Ideen im Augenblick fehlen würde.

    Müller: Herr Vannahme, Sie müssen uns in dem Punkt noch mal weiterhelfen. Viele fragen sich das ja: Warum gibt es diese Regel um diese Ausnahme in der Politik? Warum darf die Politik etwas machen, gerade bei der Schuldenpolitik, bei der Finanzpolitik, was Privathaushalte niemals machen dürfen?

    Fritz-Vannahme: Nun, private Haushalte haben sich ja in diesen letzten Jahren auch tüchtig auf Schulden eingelassen, angefangen von dem Hypotheken-Skandal, muss man ja sagen, in den USA, an dem ja im Übrigen deutsches Geld indirekt beteiligt war, weil das, was hier an Sparguthaben aufgehäuft wurde, ja dort häufig von den europäischen und deutschen Banken investiert worden war.

    Müller: Das waren die Banken, oder waren das auch die privaten Eigentümer?

    Fritz-Vannahme: Nein. Es waren ja auch dann Privatleute, die sich verschuldet haben auf diese Art und Weise. Der Schuldenstand ist auch beispielsweise in Ländern wie Spanien und in Irland in den letzten zwei, drei Jahren deutlich im privaten Bereich gestiegen. Wir reden hier nicht immer nur von Staaten.

    Das große Problem, das ich im Augenblick sehe, ist, dass wir es mit Finanzmärkten zu tun haben, die nicht klassischen Marktgesetzen gehorchen und die selbst für Politiker vielfach undurchschaubar sind. Und wenn diese Märkte auf einmal außer Rand und Band geraten - und das haben wir nun in den letzten drei, vier Jahren mehrfach erlebt -, dann ist plötzlich die Politik aufgerufen, sie wieder zu bändigen und wieder in ruhigeres Fahrwasser zu führen.

    Müller: Und wir haben ganz viele Versprechungen gehört, dass dies getan wird, dass Regulierungsmaßnahmen umgesetzt werden, nicht nur in Deutschland, nicht nur in Europa, sondern weltweit, auch in den Vereinigten Staaten. Unter dem Strich, würden Sie sagen, ist so gut wie gar nichts passiert?

    Fritz-Vannahme: Na ja, es ist schon sehr viel passiert. Aber ob all das greift, ob all das die Wirkung erzielt, die man sich gerne vorstellt, da bin ich ein Stück weit skeptisch und da bin ich auch deswegen geneigt zu sagen: Seid vorsichtig, dass ihr diese spezifische Griechenlandkrise - wir reden hier von einem Land, zwei bis drei Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung der Europäischen Union - nicht zu einem Fall macht, der alle anderen Fälle überhaupt nicht erklären hilft, und ob ihr nicht im Augenblick Maßnahmen ergreift, die immer nur spezifisch auf diesen einen Fall gehen und die anderen Fälle eigentlich gar nicht erfassen können.

    Müller: Gibt es überhaupt die Gedankengänge, von den professionellen, selbst ernannten Kritikern einmal abgesehen, dass man auch als Pro-Europäer irgendwann in die Situation kommt, wo man sagt, wir müssen Europa erst einmal in diesem Integrationsprozess anhalten? Ich frage das Sie, weil Sie Pro-Europäer sind, dafür bekannt sind. Aber wenn wir noch einmal auf die Ausgangsfrage zurückkommen, europäische Wirtschaftsregierung, da reden wir über Harmonisierungen von Steuerpolitik, von Wirtschaftspolitik, Tarifpolitik und so weiter. Warum soll Deutschland daran Interesse haben, dass ein Italiener, ein Portugiese, ein Grieche demnächst auf europäischer Ebene da mitreden darf, was wir zu Hause machen?

    Fritz-Vannahme: Ja, sie tun es ja schon. Sie tun es ja schon auf rechtlicher Basis. Ich glaube, der entscheidende Gedankengang muss dabei immer sein: Es muss eine für alle Beteiligten verpflichtende rechtliche Basis und natürlich ein bindendes Verfahren für alle geben. Und beim Euro haben wir nun gesehen, in der Geschichte, dass da grob geschlampt worden ist, grob geschlampt worden ist bei den Eintrittsbedingungen - zumindest von Griechenland -, grob geschlampt worden ist aber im Fortgang - und das ist noch viel, viel gravierender - bei der Überwachung und der Kontrolle dessen, was da jeweilige Regierungen, die beteiligt sind, getan haben. Da ist nicht nur einfach von griechischen Regierungen gefälscht worden, sondern da ist auch von europäischen Instanzen nicht genau hingeguckt worden. Und die ganze Debatte im Augenblick geht ja darauf hin, diese Kontrolle, diese Überwachung doch deutlich auszubauen und damit hinterher natürlich Spielregeln zu finden, die für alle verpflichtend werden.

    Müller: Spielregeln gibt es ja auch bei den Maastrichtkriterien, wenn ich Sie hier unterbrechen darf. Die 3,0-Grenze haben wir auch immer wieder durchbrochen, es hat auch keine Konsequenzen gegeben. Das heißt, selbst wenn der Musterknabe nicht in der Lage ist, die Spielregeln einzuhalten, können wir uns das Ganze doch künftig sparen!

    Fritz-Vannahme: Ja da kommen wir natürlich jetzt in eine gefährliche Debatte rein. Ich bin der Meinung, man hat sich das politisch erst mal in die Hand versprochen, die Maastrichtkriterien. Sie haben richtig nebenbei angedeutet, dass der Musterknabe Deutschland mit Frankreich zusammen der Erste war, der die Regeln durchbrochen hat und nicht bestraft worden ist damals, um das noch mal in Erinnerung zu holen. Wenn wir über den Sinn der eingebauten Schwellen neu diskutieren, machen wir eine ganz andere Debatte auf und kommen womöglich zu gar keinem Ende. Also ich glaube, dass es viel, viel sinnvoller ist zu sagen: Wir halten an den Kriterien fest, egal ob es dann nun seitens der klugen Wissenschaft auch andere Kriterien geben könnte und Einwände geben könnte. Aber diese Kriterien sind erst mal politisch festgelegt worden. Wir sollten sie als ein politisches Versprechen einhalten und müssen aber natürlich gucken, ob sie tatsächlich noch sinnvoll einzuhalten sind. Anders gesagt: Wenn die Griechen sich zehn Jahre lang zu Tode sparen müssen in den nächsten Jahren, dann wird uns womöglich das Land, das ursprünglich mal in der Vergangenheit die Demokratie erfunden hat, einfach um die Ohren fliegen und dann wird es mit Demokratie in Griechenland sehr, sehr schwierig werden. Also muss man gucken, dass man Überbrückungslösungen einbaut - und wir reden über eine dieser Überbrückungsmöglichkeiten -, die so sinnvoll sind, dass sie diejenigen, die geben können, nicht knebeln und diejenigen, die nehmen müssen, nicht gleichzeitig daran hindern, überhaupt noch atmen zu können.

    Müller: Wir haben nicht mehr viel Zeit, ich möchte Ihnen trotzdem am Ende noch diese Frage stellen. Bei allem, was Sie jetzt geschildert haben, Vertragsbrüche hin und her, dann Griechenland hin und her, trotz Verträge, trotz bestehender Spielregeln, warum sollte jemand noch Vertrauen in die europäische Politik haben?

    Fritz-Vannahme: Ja, weil alle anderen Mechanismen, zwischen europäischen Mitgliedsstaaten und Nationen umzugehen, im Zweifelsfalle gefährlicher wären als das, was wir gerade erleben. Das was wir erleben, ist für mich ein großes Ärgernis und es ist ein Beweis dafür, dass in der Vergangenheit nicht mutig genug beschlossen worden ist. Aber nun jetzt zu sagen, wir gehen wieder auseinander und machen zu 27 vereinzelten Nationen weiter, wird nicht gut gehen. So ist die Welt heute nicht mehr beschaffen und deswegen muss man sich in diesem Familienkrach - und das ist es - am Ende wieder an einen Tisch setzen und einigen und gucken, dass man wieder gemeinsam etwas unternimmt und nicht getrennte Wege geht.

    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk Joachim Fritz-Vannahme, Leiter der Europaprojekte bei der Bertelsmann Stiftung. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Fritz-Vannahme: Gern geschehen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.