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Machtfragen
Hilft Vernunft gegen Missbrauch?

Machtmissbrauch in Kirche, Politik oder Kultur zu melden, führt meist nicht direkt zur Abhilfe. Dennoch lohnt sich der Aufwand - denn wer gegen Missstände ankämpft, trägt zu einem liberalen Klima bei. Die Vernunft spielt dabei eine wichtige Rolle.

Von Petra Morsbach | 01.05.2022
Zwei große weiße Köpfe auf dem Forumplatz, Adlershof, Treptow-Koepenick, Berlin.
Vernunft kann die Welt nicht grundsätzlich verbessern oder Missbrauch vollständig verhindern, ist aber eine bedeutende Gegengabe mit Langzeitwirkung (picture alliance / Bildagentur-online)
Porträtfoto von Petra Morsbach mit einer Reihe Hütten und Wald im Hintergrund.
Die Schriftstellerin Petra Morsbach wurde 1956 in Zürich geboren. In München studierte sie an der Ludwig-Maximilians-Universität München Theaterwissenschaft, Psychologie und Slawistik, danach von 1981 bis 1982 Regie in Leningrad am Theaterinstitut. Nach ihrer Promotion in München war sie etwa zehn Jahre lang als Dramaturgin und Regisseurin tätig, zuletzt als freie Regisseurin. Ihren ersten Roman "Plötzlich ist es Abend" publizierte sie 1995, seitdem hatte Petra Morsbach mit Romanen wie "Der Cembalospieler" oder "Justizpalast" große Erfolge.

I. Können Unmächtige mit legalen Mitteln einem Machtmissbrauch abhelfen?

Antwort: Im Prinzip ja - nie war das leichter als bei uns heute -, aber sie tun es kaum je.
Auf dieses Problem kam ich durch einen Fall in meiner eigenen Szene, in einer staatlichen Schriftstellerinstitution, deren Mitglied ich bin. Dort wurde sozusagen über Nacht ein unsinniges Dichterlesungsverbot eingeführt. Außenstehenden ist die Bedeutung der Details kaum vermittelbar, doch im Kern geht es um die Frage, ob Schriftsteller Befehle oder Verbote von Funktionären befolgen müssen. Ich war und bin überzeugt, dass nicht: Die Hierarchiefreiheit ist ja gerade der Witz der Schönen Literatur, und darin besteht auch ihre gesellschaftliche Funktion: Zu einer Welt der kollektiven Strukturen, Abhängigkeiten und Tabus eine freie Deutung des Lebens beizutragen. Diese Deutung ist weder richtiger noch wichtiger als andere Deutungen, bildet aber ein Gegengewicht, gewissermaßen als Anwältin der Seele. Der Seele entspringen – neben Wunderlichkeiten und Abgründen –auch wesentliche soziale Antriebe: die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, Vertrauen, Liebe, Schönheit, Sinn; und idealerweise nach einer Wahrhaftigkeit, die keiner Berechnung folgt. Deswegen wirkt sie in die Gesellschaft zurück, und deswegen wird die Literatur sogar vom Grundgesetz ausdrücklich vor Machteingriffen geschützt: Artikel 5 Absatz 3, "Die Kunst ist frei". Das muss innerhalb von Institutionen ebenso gelten wie außerhalb.
Meine Kollegen hätten das Dichterlesungsverbot also leicht zurückweisen können. Wir waren in dieser ehrenamtlichen Institution ja keine Angestellten, sondern unkündbar auf Lebenszeit ernannt, und wir selbst hatten die Funktionäre aus unserem Kreis zu Sprechern gewählt, nicht zu Chefs. Wir hätten einfach sagen können: "Das muss ein Irrtum sein" oder, nachdrücklicher: "Sorry, aber diesen Unfug machen wir nicht mit." Doch zu meinem Erstaunen wurde das Verbot akzeptiert. Einige Kollegen missbilligten es zwar, meinten aber, machtlos zu sein. Andere verteidigten es aggressiv. Meine Gesprächsversuche scheiterten: Je sorgfältiger und logischer ich argumentierte (ich gab mir wirklich Mühe), desto mehr Peinlichkeit, Unwillen und sogar Wut erzeugte ich und desto fanatischer unterwarf man sich dem Verbot. Obwohl nach Protesten formal abgeschwächt, wird es seit zehn Jahren befolgt.
Das hat mich aufgewühlt, aus zwei Gründen.
Erstens dachte ich: Seit tausenden Jahren ist bekannt, dass Macht das Verhalten und die Persönlichkeit der Menschen zum Unguten verändert. Ebenso lange ringt die Menschheit um Lösungen. Jetzt haben wir, nach fürchterlichen Katastrophen und Opfern, eine liberale Gesellschaftsordnung, die den Unmächtigen erlaubt, Mächtige zu kontrollieren. Aber sie trauen sich nicht. Offenbar liegt die Wurzel des Problems (derzeit, in Deutschland) weniger bei den Mächtigen als bei den Unmächtigen.
Zweitens wühlte mich auf, dass die Lösung so einfach erschienen war. Doch eine hermetische Magie schien alle Vernunft außer Kraft zu setzen. Mit hermetisch meine ich unzugänglich: Verdeckte Gewalt wurde mit großer Selbstverständlichkeit ausgeübt und hingenommen, indem man einfach nicht darüber sprach. So bildete sich ein Mikroklima, in dem die Normverletzung zur geheimen Norm wurde. Wer wagte, den Missbrauch anzusprechen, wurde selbst als Normverletzer behandelt. Das Phänomen schien so allgemein und überpersönlich zu sein, dass ich es untersuchen wollte; denn seine Bedeutung ging weit über unsere Akademie hinaus.

II. Wie untersucht man so etwas?

Antwort: Indem man genau hinschaut. Ich nahm mir drei Fälle von Machtmissbrauch und Widerstand aus unserer jüngeren Vergangenheit vor. Sie spielen in unterschiedlichen Milieus, sind kurz und übersichtlich und sehr gut dokumentiert – das ist wichtig, denn in den Dokumenten liegt der Schlüssel. Das Ergebnis der Forschung war mein Essay "Der Elefant im Zimmer", der letzten Herbst im Penguin Verlag erschien.
Wenn man aber sagt: "In unserem Zimmer …", fallen sie einem ins Wort: "Welcher Elefant?" Und wer auf den Rüssel hinweist, den Fuß, das Ohr, erntet einen Sturm der Entrüstung. "Du willst uns wohl beleidigen / für dumm verkaufen / verleumden? Wer glaubst du, dass du bist? – Unverschämtheit" usw. – Er oder sie wird niedergebrüllt. Einzelne verständige Leute flüstern vielleicht: "Psst, ja, ich sehe ihn auch, aber gegen die Mehrheitsmeinung kommen wir nicht an." Auf dem Höhepunkt der Krise wird jemand schreien: "Da ist kein Elefant, das war immer schon so!", und hier kippt das Ganze ins Kabarett.
Die Elefantenblindheit im eigenen Zimmer greift so konsequent, als wäre sie in unseren Genen verankert; das zeigen alle Fälle, die ich erlebt und von denen ich gehört habe. In meinem Essay untersuche ich wie gesagt drei Geschichten. Eine spielt im katholischen Klerus, eine in der Politik, eine in der Kultur. Ich beginne jeweils an dem Punkt, an dem jemand auf den Elefanten hinwies. Dann beschreibe ich den folgenden Tumult.
Der Tumult bestand darin, dass ein paar kritische Leute sich nicht einschüchtern ließen, während die Mehrzahl von Mächtigen und Zeugen mit allen Mitteln versuchte, den Elefanten für nicht vorhanden zu erklären. Es war ein Ringen um Deutung, also ein Sprachkrimi. Da er nicht mit physischer Gewalt ausgetragen wurde, hinterließ er spannende Schriftwechsel. Deswegen fühlte ich mich als Schriftstellerin zuständig: Diese Dokumente speichern die volle Energie des Konflikts und halten gleichzeitig still, so dass man sie ohne Hast durchleuchten kann. Meine These war immer, dass die Sprache mehr weiß als der Mensch. Und tatsächlich weist die Sprache der Verleugnerinnen und Verleugner in allen meinen Fällen so typische Verleugnungssignale auf, dass man von der Rhetorik auf die Wirklichkeit schließen könnte, ohne weitere Fakten zu kennen. Im Folgenden drei Beispiele aus meinem ersten Fall.

III. Eine reale Geschichte also

Ihr Protagonist war der österreichische katholische Kardinal Groër, der jahrzehntelang ungehindert Knaben, Novizen und junge Mönche sexuell missbraucht hatte. Erst 1995 – der Kardinal war inzwischen 76 Jahre alt – beschuldigte ihn ein ehemaliges Opfer in einem Zeitungsinterview. Die erste offizielle Stellungnahme der Kirche lautete, stark gekürzt, so:
Wo sind wir hingekommen? […] Auf das Entschiedenste muß ein sogenannter "Enthüllungsjournalismus" zurückgewiesen werden, der den Angeschuldigten wehrlos entehrenden Verdächtigungen ausliefert.
Das ist wie gesagt nur ein Auszug, aber die ganze Verlautbarung folgt diesem Muster: Die Kirchensprecher, zwei Weihbischöfe, tun so, als beschuldigten sie die Zeitschrift und verteidigten den Kardinal. Doch wer genau liest merkt, dass sie weder das eine, noch das andere tun. Sie verurteilen nur allgemein einen "sogenannten Enthüllungsjournalismus" mit der Begründung, der Angeschuldigte könne sich gegen "entehrende Verdächtigungen" nicht wehren; was nicht mal stimmt, denn der Angeschuldigte kann sich wehren, substanzlose Vorwürfe wären Verleumdung und somit strafbar. Das Publikum soll denken, es gehe in dem Satz um die Zeitschrift "profil" und um den Kardinal, doch die Autoren halten sich komplett raus. Die scheinbar hohe Temperatur des Textes – der autoritäre Stil, der Gestus der Empörung, die Drohgebärden – soll die Gehirne benebeln. Nur wer keine Argumente hat, gebraucht diese Technik, die ich "Wutbrief" nenne. Wutbriefe sind Bluff. Schon nach der Lektüre nur dieser Stellungnahme hätte man wissen können, dass die Vorwürfe zutrafen und der Kardinal von den Klerikern gedeckt wurde.
Wutbriefe haben oft Erfolg, weil ein emotionalisiertes Publikum nicht auf den Wortlaut achtet. Auch hier wäre es fast so gekommen: Beim nächsten Gottesdienst im St. Stephansdom wurde Kardinal Groër mit minutenlangem Applaus empfangen. Doch danach meldeten sich immer mehr ehemalige Schüler, Novizen und Priester, die selbst von Groër missbraucht worden waren oder vom Missbrauch wussten. Und es ist zum Staunen, wie akrobatisch die Kirchenvertreter jederzeit an der Linie des aktuellen Ermittlungsstandes entlangfabulierten: arrogant und drohend, solange sie glaubten sich das leisten zu können, schmeichelnd und wehleidig, wenn es eng wurde. Was die Bischöfe vereinte, war die Furcht vor Aufklärung, da sie mutmaßlich längst vom Missbrauch wussten und ihn geduldet hatten. Nur ihre Taktiken unterschieden sich. Einer, der rechtspopulistische Bischof Krenn, verdrehte geradezu aberwitzig die Tatsachen, indem er sagte:
Viele Menschen erliegen längst übelsten Vorurteilen und haben Kardinal Groër abgeurteilt. Ihm werden heute die elementarsten Menschenrechte verweigert.
Wirklich alles daran ist falsch: Wer soliden Informationen glaubt, "erliegt" keinen "Vorurteilen" und hat noch längst nicht "abgeurteilt". Und eine Beschuldigung bedeutet keine Verweigerung von Menschenrechten, solange der Beschuldigte Gelegenheit hat, sich zu verteidigen. Auch Bischof Krenn verdeckt einen Mangel an Argumenten durch Aggressivität. Nebenbei: Superlative – wie "übelste" Vorurteile und "elementarste" Menschenrechte – sind im politischen Diskurs immer verdächtig, denn sie entspringen entweder der Dummheit oder der Lüge. Auch Krenn wird von seiner Sprache entlarvt. Da aber Menschen angesichts von Machtdemonstrationen dazu neigen, sich von ihrer Vernunft zu verabschieden, hatte er seine Fans. Dass hemmungslose Lügner halbe Völker fanatisieren können, hat soeben wieder Donald Trump gezeigt.
Wusste Krenn, dass er log? Wussten die Bischöfe, dass sie täuschten? Wusste Groër, dass er schuldig war? Das ist eine überaus spannende psychologische Frage. Ein Höhepunkt der Affäre war, dass nach einer abenteuerlichen kirchenpolitischen Wendung ein jüngerer Benediktinermönch wagte, in einem persönlichen Gespräch den Sünder mit seinen Taten zu konfrontieren. Da dieser Mönch vor Jahren selbst von Groër missbraucht worden war, gab es nichts abzustreiten. Groër antwortete geistesgegenwärtig: Er habe nie "Begierde" verspürt, daher seien seine Übergriffe "moralisch ein Nichts". Seine Manipulation von Knabenpenissen unter der Dusche gab er als Reinlichkeitserziehung aus.
Groër deutete sozusagen eine schmutzige Handlung in ihr Gegenteil um: Solchen paradoxen Rationalisierungen begegnen wir in allen unseren Fällen. Es scheint, als suchten die Täter, ob bewusst oder unbewusst, den größtmöglichen Abstand zum Kern ihres Vergehens, was darauf hindeutet, dass sie ihre Schuld auf eine hysterische Weise ahnen. Doch zu Geständnissen sind sie nicht in der Lage. Das Gewissen von Betrügern scheint hochflüchtig zu sein, intensiv und suggestiv zwischen Grandiosität und Haltlosigkeit, Dominanz und Feigheit schwirrend. Man kann es nicht packen, doch es verrät sich unentwegt.

IV. Wenn nun die Täter sich so deutlich verraten – warum will es keiner merken?

Offenbar stresst eine Machtmissbrauchssituation das Selbstverständnis nicht nur der Opfer, sondern auch der Zeugen über die Maßen. Der Impuls, gegen Autoritäten aufzubegehren, scheint so starke Ängste auszulösen, dass die Betroffenen nicht mal auskunftsfähig sind. Thesen gibt es zwar zuhauf. Eine Auswahl:
  1. Tiefenpsychologischer Ansatz: Von Mutter und Vater hängt die eigene Existenz ab, seien sie gut oder böse.
  2. Soziobiologischer Ansatz: Ohne Gruppenbindung überlebt man nicht.
  3. Philosophischer Ansatz: Der nichtige, vergängliche Mensch sucht Selbstvergewisserung in der Identifikation mit Macht. Wankt die Macht, wankt auch er.
  4. Pragmatischer Ansatz: In Konfliktsituationen zieht der Mensch die Sicherheit der Freiheit vor.
All das ist plausibel. Solche Impulse sind weder falsch noch schlecht; wir sind so. Da sie aber unser rationales Selbstbild in Frage stellen, neigen wir dazu sie zu unterdrücken, und je mehr wir sie unterdrücken, desto kraftvoller wirken sie im Untergrund. In Stresssituationen überwältigen sie das Bewusstsein mühelos. Dann vergisst man, dass Mächtige nur Funktionsträger sind, die der Korrektur bedürfen, und gerät in eine irrationale Woge, in der man sich nur noch nach oben orientiert, um nicht verschluckt zu werden. Wer andere Lösungen vorschlägt, wird beiseitegestoßen, als bedeute Besinnung Lebensgefahr.
Seltsamerweise wird auch in dieser Woge noch bis in die Agonie hinein moralisiert, freilich auf eine hektische Weise, die Fakten und Bewertungen nach Bedürfnis vermengt. Etwa so: Die Kirche ist gut, also kann der Kardinal nicht schlecht sein. Moralische Motive spielen eine Riesenrolle, obwohl oder weil sie oft verdreht werden. Auch die Verdreher verraten sich, und an der Wut, mit der sie Aufdeckung von sich weisen, erkennt man paradoxerweise den moralischen Druck, unter dem sie stehen, und die lauernde Scham. Der Mensch ist widersprüchlich bis in seine Atome hinein.


V. Dennoch kommt Widerstand vor, und er wirkt

Die Bischofszitate habe ich einer Dokumentation entnommen, die der österreichische Journalist Hubertus Czernin erstellt hat. Titel: "Das Buch Groër". Während des Skandals in den Jahren 1995-98, also mitten im Lärm der Meinungen, sammelte Czernin Dokumente und Fakten, ordnete sie chronologisch und schuf Orientierung, damit man später aus der Geschichte lernen könne. Das Besondere: Er zitiert nicht nur die offiziellen Enthüllungen und Verlautbarungen, sondern auch die stille klerikale Korrespondenz hinter den Kulissen, und die ist mindestens ebenso spannend. Denn nach der Offenbarung jenes ersten Opfers äußerten sich zunehmend auch interne Zeugen, die Informationen austauschten, Erfahrungen zusammentrugen und glaubten, die Bischöfe aufklären zu müssen (oder zu können). Und hier, von normalen Priestern, Mönchen und Ex-Mönchen, wird eine ganz andere Sprache gesprochen: eine, die sich um Wahrhaftigkeit bemüht, zunächst unbeholfen und übervorsichtig, doch dann zunehmend kraftvoll und furchtlos. Ohne die Presse hätte die Aufklärung nicht begonnen, doch ohne mutige Kirchenangehörige wäre sie nicht weitergegangen. "Ich habe christlichen, nicht militärischen Gehorsam gelobt", schrieb ein Mönch an seinen Abt. "Nur allzu lang habe ich das in meinem Leben unter Groër missverstanden, worunter ich heute noch leide." Zwölf ausgetretene Mönche schilderten in einem Brief an einen vatikanischen Visitator das sektenhafte Regiment von Groër, der die Beichte als Herrschaftsinstrument missbraucht, absoluten geistigen Gehorsam gefordert und missliebige oder andersdenkende Personen geächtet habe, worauf diese auch von den Mitbrüdern geschnitten wurden. Einer anderer schrieb:
"Wie weit bin ich, als ich dieses System unterstützte – und diese Zeit gab es sehr wohl – an anderen schuldig geworden?"
Ein anrührendes Bekenntnis: Er, damals ein unreifer, Autorität suchender und zu Gehorsam verpflichteter Novize, fühlt sich verantwortlich, während die mächtigen Bischöfe, die Groër hätten bremsen können, bis zuletzt jede Verantwortung von sich wiesen.
Auch Solidarität der Unmächtigen kam endlich zustande. Als ein kritischer Gemeindepfarrer von seiner Pfarrei entfernt werden sollte, organisierten jene Ex-Mönche eine Demo, an der auch die Gemeinde teilnahm. Das geschah wohlgemerkt nach Beginn der Affäre, und jener Kritiker war der einzige Priester, der in diesem Skandal um jahrzehntelangen, auf allen Hierarchieebenen geduldeten Missbrauch bestraft werden sollte. Nur wegen der Demo und eines besonders klugen Protestbriefs wurde die Maßnahme ausgesetzt. Der Wortführer der Demonstranten ermahnte einen Bischof: "Ob Bischof oder nicht, wir alle sind der Wahrheit verpflichtet."
Deswegen ist Hubertus Czernins "Buch Groër" eine ermutigende Lektüre. Äußerlich kam bei dem Aufruhr wenig heraus: Nach epischem Ringen wurde der inzwischen 78-jährige Täter in einem Nonnenkloster untergebracht, ohne Anklage und ohne Strafe; das war alles. Doch die Erleichterung derjenigen, die auf einmal offen zu sprechen und zu denken wagten, ist fast körperlich spürbar. Heute, 25 Jahre später, kommt die Kirche mit hoheitlichem Schweigen nicht mehr durch. Sexueller Missbrauch durch Kleriker ist kein Tabuthema mehr, er wird erforscht, aufgearbeitet, teilweise sanktioniert – ein Weg, der mit der Affäre Groër begonnen hat.

VI. Wie misst man die Wirkung von Widerstand?

Es gibt keine allgemein gültigen Kriterien, die Bewertung hängt von der Perspektive ab. Nimmt man die Machtverteilung als Maßstab, ändert Widerstand fast nichts: Allenfalls werden an der Spitze ein paar Figuren ausgetauscht, und der Kreislauf von Versuchung, Missbrauch, Schaden und Protest beginnt von vorn. Aus Perspektive der Unmächtigen bleibt oft ein Gefühl der Hilflosigkeit. Man verursacht zwar erheblichen Aufruhr, doch nicht wegen der überlegenen Agenda, sondern weil man nach allgemeinem Verständnis die Hierarchie herausfordert; eine archaische Sünde. Die Chefs schießen mit dicksten Kugeln zurück, die Kollegen flüchten aus der Schusslinie. Dass die Selbsterfahrung von Mut und Integrität die Strapazen rechtfertigt, behaupten manche – auch ich –, doch es ist objektiv nicht nachweisbar. Und was "die Verhältnisse" angeht, so gibt es bestenfalls minimale Korrekturen.
Ich empfehle nun, diese minimalen Korrekturen nicht als Kompromiss, sondern als Erfolg anzusehen. Wer glaubt, dass die Meldung eines Missstands zu Abhilfe führt, wird enttäuscht werden, denn die Meldung eröffnet überhaupt erst die Kampfhandlungen. Das Missverhältnis von Aufwand und Ergebnis ist auf den ersten Blick schockierend. Wer sich aber klar macht, dass er nicht kämpft um zu gewinnen, sondern damit die Verhältnisse nicht schlechter werden, kommt auf eine andere Bilanz. Letztlich werden die meisten Entscheidungen zwischen Eigennutz und Verantwortung vom sozialen Klima bestimmt. Und zu einem liberalen Klima trägt jeder bei, der sich nicht einschüchtern lässt.
Wir haben (derzeit, in Deutschland) gerechtere Verhältnisse als je zuvor, weil unser System Kritik und Widerstand erlaubt. Was geschieht, wenn man Systeme den Mächtigen überlässt, sieht man ringsum: Sie werden ausgeräubert. Auch hier ein Paradox: Wenn wir glauben, alles sei in Ordnung, ist es das nicht. Wenn wir Fehler sehen und uns kümmern, verhindern wir zumindest die ärgste Unordnung. Aus dieser Mühe ersteht günstigenfalls eine gewisse Ordnung, die allerdings nur so lange hält, wie wir sie für ungenügend halten.

VII. Welche Rolle spielt die Vernunft?

Augenscheinlich verflüchtigt sie sich angesichts der Macht. Upton Sinclair schrieb: "Es ist schwierig, jemanden etwas verstehen zu machen, wenn sein Einkommen davon abhängt, es nicht zu verstehen." Ja, der Eigennutz setzt die Vernunft außer Kraft. Die Erklärung reicht dennoch nicht aus, denn die Duldung von Missbrauch bedeutet oft direkten Schaden. Gestresst von instinktiven und irrationalen Impulsen opfert man die Vernunft bestenfalls für einen Sekundenvorteil.
Vernunft ist die Fähigkeit zu selbständiger Wahrnehmung und Erkenntnis. In einem autoritären Klima, das offene Kommunikation unterdrückt, werden Leute, die sich um Überblick bemühen, isoliert. Groërs Unwesen konnte sich über Jahrzehnte deswegen ausbreiten, weil nicht darüber gesprochen wurde. Als aber durch die ersten offenen Worte wieder Sauerstoff in den Fall kam, erwachte das individuelle geistige Leben, und die Urteilsfähigkeit kehrte zurück.
Wirklich alles ist paradox. Ich habe gezeigt, wie Täter sich gegen ihren Willen verraten und wie Unmächtige darauf hereinfallen (wollen), wobei sie sich ebenfalls verraten. Gegen die Aufdeckung dieses Selbstverrats sträuben sich alle so sehr, als ginge es um ihre arme Seele. Vielleicht geht es wirklich um ihre arme Seele? Vielleicht ist die Wahrheit dem Menschen viel weniger zumutbar, als er meint, da sie immer auch seine gefährdete Conditio einbezieht? Jedenfalls dominieren Macht und Täuschung den sichtbaren Teil des sozialen Lebens.
Mit der Vernunft ist es umgekehrt. Sie verstellt sich nicht und verrät sich nicht, drängt zur Wahrhaftigkeit und widersetzt sich der hierarchischen Berechnung. Wo Widerspruch gefördert wird, ist das für beide Seiten befruchtend. In einem kritikfeindlichen Klima hingegen hat sie nichts mehr zu melden und löst sich, ob bewusst oder unbewusst, in Anpassung auf – sofern man nicht, um den Preis der individuellen Isolation, auf ihr besteht.

VIII. Trotzdem: Nicht dass die Vernunft unterliegt, ist der Thriller, sondern dass es sie überhaupt gibt

Vernunft kann, gerade durch ihre individuelle Unabhängigkeit, eine besonders kraftvolle und freudige Kommunikation erzeugen. Und durch das Wunder der Schriftsprache ist sie nicht auf direkten Respons angewiesen, sondern kann langfristig überleben. Indem sie die Vereinzelung überwindet, erzeugt sie soziale Kraft. Deswegen bekämpfen ungerechte Systeme offene Worte.
Ein schönes Beispiel ist Plutarchs Solon-Buch. Plutarch, ein griechischer Historiker des ersten Jahrhunderts nach Christus, schrieb über das Leben des ebenfalls griechischen Staatsmannes und Weisen Solon. Solon hatte 700 Jahre vor Plutarch versucht, durch ein Gesetzeswerk Gerechtigkeit zu schaffen. Das misslang: Kaum lagen die Gesetze vor, verlangten einflussreiche Leute Änderungen. Solon weigerte sich und ging für zehn Jahre auf Reisen. Als er zurückkehrte, herrschte Chaos.
Äußerlich ist es die Geschichte einer andauernden Niederlage der Vernunft. Aber, ein Paradox: Die Lektüre ist ein reines Vergnügen. Plutarch schreibt ruhig, freundlich und lebendig, mit klugem, nie angeberischem Witz. Man staunt, wie klar schon damals, vor zwei bis zweieinhalb Jahrtausenden, all die Probleme, um deren Lösung wir ringen, diskutiert wurden. Zum Beispiel hatte Solon, während er an seinen Gesetzen arbeitete, einen pfiffigen Logiergast namens Anacharsis. Ich zitiere leicht gekürzt:
"Anacharsis […] lachte über die Bemühungen Solons, wenn er meine, durch den Buchstaben dem Unrecht und der Habsucht bei seinen Mitbürgern Einhalt tun zu können. Der Buchstabe sei gerade wie ein Spinngewebe: Wie dieses könne er nur den Schwachen und Kleinen festhalten […]; von den Mächtigen und Reichen werde er zerrissen. Solon soll […] erwidert haben, daß die Menschen ja wohl auch Verträge halten, deren Verletzung keiner der Parteien von Nutzen sei. Und die Gesetze passe er dem Interesse der Bürger so vollständig an, daß er jedermann dadurch zeige, wie viel besser ein rechtschaffenes Handeln sei als die Übertretung."
Plutarch kommentiert mit sanftem Humor:
Freilich entsprach der spätere Erfolg mehr den Vermutungen des Anacharsis als den Hoffnungen Solons.
Eine farbige Episode gilt Solons Besuch bei Kroisos, dem schon damals legendär reichen König von Lydien. Kroisos hatte sich alles, was er in Steinen, Purpurgewändern, in goldenen Kunstarbeiten irgend Kostbares an Schmucksachen, Prachtvolles oder Beneidenswertes zu besitzen glaubte, an seinen Leib gehängt, um auf Solon Eindruck zu machen. Als Solon nicht reagierte, ließ Kroisos ihn noch durch seine Schatzkammern führen, was übrigens bei Solon gar nicht nötig war. Denn der König selbst genügte schon an sich, um von seiner Denkungsart eine völlig klare Vorstellung zu geben.
Jetzt fragte Kroisos, dem Solons Schweigen missfiel, ob Solon einen Menschen kenne, der glücklicher sei als er. Solon nannte zuerst einen rechtschaffenen, in der Schlacht gefallenen Mitbürger, dann, als Solon nachhakte, zwei junge Männer, die ihre alte Mutter selbst im Ochsenkarren zum Tempel schleppten, als die Ochsen ausfielen. An dieser Stelle zieht Plutarch, ein exzellenter Schriftsteller, übergangslos das Tempo an, ohne vom gemütlichen Duktus abzuweichen:
Sodann opferten und tranken sie, aber am anderen Tage – standen sie nicht mehr auf, sondern waren gestorben.
Kroisos wurde zornig: "Und mich willst du gar nicht unter die glücklichen Menschen rechnen?"
Solon antwortete: "Einen selig zu preisen, der […] noch in den Gefahren des Lebens steht: das heißt, einem Kämpfer den Sieg zuerkennen […] mitten im Kampfe. Und darum ist es unsicher und eitel."
Ab sofort wurde Solon bei Hofe geschnitten. Ein anderer Stargast von Kroisos, der Fabeldichter Aisopos, wollte ihn warnen:
"Lieber Solon, mit Königen muß man reden – möglichst selten oder möglichst ohne Schelten."
Solon antwortete:
"Nein, […] nicht möglichst selten und rar, sondern möglichst wahr."
Kroisos blieb bei seiner Geringschätzung. Plutarch erzählt, ein weiteres Mal souverän beschleunigend:
Später war es anders: [Kroisos] ließ sich mit Kyros in eine Schlacht ein, wurde geschlagen und verlor seine Hauptstadt, ja er selbst wurde lebendig gefangen und sollte verbrannt werden. Der Scheiterhaufen war fertig; man schleppte ihn in Fesseln hinauf.
Auf dem Scheiterhaufen schrie Kroisos verzweifelt: "O Solon! O Solon! O Solon!"
Als Kyros wissen wollte, wer denn dieser Solon sei, erzählte der todgeweihte Kroisos von dem griechischen Weisen,
"den ich kommen ließ, aber nicht um etwas zu hören oder zu lernen […]. Nein, er sollte mich nur angaffen und dann als Zeuge meines hohen Glückes wieder abreisen – ach, meines Glückes, dessen Verlust eben ein weit größerer Jammer war als der Besitz ein Segen!"
Solons Ratschläge wurden fast überall ignoriert. Als er von seiner zehnjährigen Reise nach Athen zurückkehrte, griff gerade der Charismatiker Peisistratos nach der Macht. Solons Gesetze wurden zwar theoretisch in Ehren gehalten, aber nicht befolgt. Solon warnte vergeblich vor Peisistratos, der wie die heutigen Populisten mit Schmierenkomödie und Fake News punktete. Das Volk wählte ihn und ächzte bald unter dem Tyrannen. Solon legte seine Waffen vor die Haustür mit der Bemerkung, er habe das Seine getan.
Die Geschichte von Solon verwandelt das reale Scheitern der Vernunft in eine Fabel des menschlichen Geschicks, die das Kurzzeitkriterium von Sieg und Niederlage nicht als Basis dieses Geschickes gelten lässt. Alles ist eng verwoben, Hybris, Egoismus und Gewalt sind nicht die Antagonisten von Erkenntnis und Rücksicht, sondern deren Stoff; Alles gehört auf paradoxe Weise zusammen. Plutarch bringt es in eine Balance und versetzt durch Wahrhaftigkeit und Humor unsere feineren Saiten in Schwingung. Vielleicht behalten wir den Klang im Ohr.
Solon lebte 700 Jahre vor Plutarch. Trotzdem kursierten seit Jahrhunderten so viele Solon-Geschichten und -Fabeln, dass Plutarch aus dem Vollen schöpfen konnte. Inzwischen hatte es serienweise Kriege und Tyranneien gegeben, regelmäßig beendeten Maßlosigkeit und Gewalt die Phasen von Wohlstand und Frieden, die Demokratie war in der Praxis kaum mehr als eine PR-Formel, deren geschickte Anwendung mal diesen, mal jenen Ausbeuter ans Ruder brachte. Aber die Zahl derjenigen, die von Solon wussten, wuchs. Wer an die Macht kam, vergaß ihn, doch die anderen nicht, und nachdenkliche Leute waren weniger allein, weil sie durch ihn und seine Gewährsleute bestärkt wurden. Vernunft kann die Welt nicht "grundsätzlich" verbessern, aber sie ist eine bedeutende Gegengabe mit einer rätselhaften Hintergrund- und Langzeitwirkung. Während sie unterlag, verhinderte sie Schlimmeres und überlebte als Orientierung nach den anscheinend unvermeidlichen Exzessen.


IX. Vernunft hält die Gerechtigkeit im Spiel

Und jeder, der versucht, die Verhältnisse unabhängig von seinem kurzfristigen Vorteil wahrzunehmen, leistet ein Stück Widerstand. Schon immer taten das mehr Leute, als die grelle Evidenz der Macht vermuten lässt. Meinen Schlusssatz überlasse ich deshalb sehr gerne der englischen Dichterin George Eliot, die vor 150 Jahren am Ende ihres Romans "Middlemarch" dafür eine poetische Formel gefunden hat:
Denn dass die Welt immer besser wird, liegt zum Teil an unhistorischen Taten; und dass es um dich und mich nicht so schlecht steht, wie es sein könnte, das verdanken wir zur Hälfte den zahlreichen Menschen, die vertrauensvoll ein verborgenes Leben führten und in Gräbern ruhen, die kein Mensch besucht.
(Wh. v. 28.02.2022)