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"Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt"

Der ehemalige NRW-Ministerpräsident und SPD-Superminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, hat zusammen mit dem CDU-Politiker Friedrich Merz ein Buch geschrieben. Darin kritisieren die beiden die derzeitige Wirtschafts- und Sozialpolitik, die zulasten der nächsten Generation gehe.

Wolfgang Clement im Gespräch mit Jochen Spengler | 26.04.2010
    Jochen Spengler: Was macht eigentlich Wolfgang Clement? – Sie erinnern sich an den früheren NRW-Ministerpräsidenten und dann unter Gerhard Schröder Superminister für Wirtschaft und Arbeit und als solcher verantwortlich für die Arbeitsmarktreformen von Hartz I bis IV, an den früheren SPD-Politiker, den viele in der Partei los werden wollten und der dann schließlich Ende 2008 von sich aus austrat. Was er macht? – Er hat ein Buch geschrieben und er ist jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen, Herr Clement.

    Wolfgang Clement: Grüß Gott!

    Spengler: Das Buch, von dem die Rede ist, heißt "Was jetzt zu tun ist. Deutschland 2.0", und Mitautor ist der frühere Spitzenpolitiker der CDU, Friedrich Merz. Wieso ausgerechnet ein Buch zusammen mit Merz? Haben sich da die beiden letzten verbliebenen Neoliberalen in Deutschland gefunden?

    Clement: Weil mit diesen Schlagworten wie neoliberal kann ich wenig anfangen, müssten wir dann wirklich gründlicher diskutieren. Herrn Merz schätze ich sehr, wir kennen uns seit vielen Jahren. Unser Verleger, Herr Herder, ist auf die Idee gekommen, dass wir zusammen ein solches Buch schreiben könnten, weil die Zeit so ist, dass man sich äußern sollte, und wir fanden die Idee gut und wir haben es getan.

    Spengler: Ist nicht das, woran Sie geglaubt haben, freie, kaum regulierte Märkte, mit der Banken- und Finanzkrise erkennbar gescheitert?

    Clement: Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich geglaubt habe, es ließe sich alles ohne Regulierung machen? Diese Ansicht habe ich nie vertreten. Es geht nur um die Frage, wie man reguliert, nicht ob man reguliert. Dass Märkte reguliert werden, ist eine Binsenweisheit. Das wissen wir in der sozialen Marktwirtschaft seit 100, jedenfalls seit 50 Jahren. Deshalb haben wir kartellrechtliche und sonstige Regelungen, und selbstverständlich brauchen wir die auch im internationalen Verkehr. Das ist doch nie außer Zweifel gewesen. Das sind alles nur Schlagworte, mit denen wir unsere Diskussionen betreiben. Die Frage ist, welche Regelungen brauchen wir, welche Systeme stimmen heute noch, und da kommen wir zu dem Ergebnis, dass angesichts der Lage, in der sich Deutschland befindet – wir sind in einer erheblichen Schieflage, wie unsere Schuldenstatistik zeigt -, wir die Systeme überprüfen müssen und reformieren müssen, und zwar sämtliche Systeme, gewissermaßen einen Reformprozess an Haupt und Gliedern.

    Spengler: Welche Lehre ist für Sie die wichtigste aus der Finanzkrise und Bankenkrise?

    Clement: Dass wir über unsere Verhältnisse gelebt haben, und zwar seit vielen Jahren, nicht erst seit der Finanzkrise. Das hatte Ralf Dahrendorf schon in den 80er-Jahren geschrieben, wir haben es damals nicht begriffen, andere haben auch gewarnt, Kurt Biedenkopf beispielsweise, Hartmut Miegel. Wir haben das nicht verstanden, es ging uns zu gut, wir haben den Wohlstand gesteigert und dennoch auch gleichzeitig immer noch zulasten der nächsten Generation gelebt, und jetzt ist der letzte Zeitpunkt, dies zu korrigieren, und ich hoffe sehr, dass die Krise manchmal ja die beste Lehre, der beste Lehrer ist und uns veranlasst, tatsächlich solche tiefgreifenden Reformen vorzunehmen. Zur Stunde habe ich allerdings Zweifel, ob die Kräfte dazu da sind.

    Spengler: Ist denn nicht das, was Sie gerade gesagt haben, dass wir über unsere Verhältnisse gelebt haben, etwas ganz anderes als das, was wir an den Finanzmärkten erlebt haben, diese überbordende Spekulation, diese Gier nach Geld?

    Clement: Ja, sicher, aber das sind zwei Dinge, die dennoch zusammenkommen. Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt, unsere sozialen Sicherungssysteme würden auch nicht stimmen, wenn wir keine Finanzkrise hätten. Wir haben einen demografischen Wandel sondergleichen und tun so, als gehe uns das nichts an. Wir haben schon in zehn Jahren zehn Millionen weniger junge Leute unter 25 Jahren in Deutschland, aber immer mehr ältere, immer mehr älter werdende, wie ich an mir selbst feststellen kann, und daraus ziehen wir keine Konsequenzen, sondern wir tun so, als könnten wir das Rentensystem, vor allen Dingen das Gesundheitssystem so weiterfahren wie zur Zeit meiner Eltern. Die lebten aber nur im Schnitt der deutschen Arbeitnehmer vier Monate länger als die eigene Pensionsgrenze, während wir heute 80 und demnächst die nächste Generation über 90 werden.

    Spengler: Meine Frage nach den Konsequenzen aus der Finanzkrise bezog sich eher auf so etwas wie Regulierung des Finanzmarktes. Wie soll er reguliert werden, wenn er denn reguliert werden soll?

    Clement: Darüber besteht ja allgemeine Klarheit, wie er reguliert werden soll. Leider kommen die Staaten nicht zueinander. Wir müssen natürlich verhindern, dass in Zukunft noch einmal eine Situation entsteht, in der Kreditinstitute, Geldinstitute so groß sind und weltweit so vernetzt sind, dass sie nicht mehr vom Markt genommen werden können, ohne Schaden für die ganze Welt anzurichten. To big to fail, das ist die, glaube ich, wichtigste Frage heute, die zu beantworten ist, aber es kommen viele hinzu. Unser Ratingsystem stimmt nicht, das Aufsichtssystem stimmt nicht, das hat sich ja alles in der Krise erwiesen, ist eigentlich auch unstrittig. Strittig ist aber zwischen den Regierungen, insbesondere zwischen den USA und Deutschland und Frankreich, wie das im Konkreten jetzt in Regulierungen umgesetzt werden soll, und da verlieren wir viel Zeit und es wird wieder spekuliert. Das Kasino ist längst wieder eröffnet, nur spielt es jetzt sogar mit öffentlichem Geld. Also es besteht höchste Zeit, daran etwas zu ändern. Das machen wir ja in unserem Buch auch deutlich.

    Spengler: Nun werfen Ihnen, Herr Clement, viele vor, dass durch Ihre Reformen die soziale Balance in Deutschland verloren gegangen sei, dass die Kluft zwischen arm und reich noch nie so groß war und dass auch Hartz IV dazu beigetragen habe. Was antworten Sie denen?

    Clement: Darauf antworte ich, dass das falsch ist, sondern dass noch nie so viele, seit vielen Jahren nie so viele wieder in Arbeit gekommen sind innerhalb kürzester Zeit, wie aufgrund der Arbeitsmarktreform, was ja die vielen, die Sie vor Augen haben, anders sehen mögen. Die vielen, die ich vor Augen habe, das sind diejenigen, die in Arbeit gekommen sind, das sind die Arbeitsmarktexperten, die wissen, dass zwischen 2005 und 2008 die Arbeitslosigkeit in Deutschland von fünf Millionen auf drei Millionen zurückgegangen ist, was nie jemand erwartet hätte, und dass sie selbst heute in der schwersten Krise sich als stabiler erweist als in allen vergleichbaren Volkswirtschaften.

    Spengler: Aber finden Sie es in Ordnung, wenn 23 Prozent der Beschäftigten nur noch prekär beschäftigt sind, das heißt auf Zuschüsse durch den Staat angewiesen sind?

    Clement: Sie wiederholen immer wieder die gleichen Dinge. Die sind ja alle durchgekaut von oben bis unten, das ist richtig. Nur vorher waren sie völlig ohne Arbeit und hier besteht die Chance, mindestens im Schnitt pro Jahr für 20 bis 30 Prozent aus diesen sogenannten prekären Arbeitsverhältnissen in feste Arbeitsverhältnisse zu kommen. Wir haben eine Veränderung der Arbeitsmarktsituation weltweit. Die Alternative, die es dazu gäbe, die hört sich noch viel, viel boshafter an. Die Lösung, die wir in Deutschland eingeschlagen haben, und zwar keineswegs ja nur ich, sondern das haben ja CDU/CSU seinerzeit auch mit unterstützt, im Wesentlichen jedenfalls, Herr Merz und andere, nicht nur Herr Merz, sondern die Union insgesamt in sehr komplizierten Verhandlungen. Die Lösung, die wir gefunden haben, hat den Weg gewiesen, in Arbeit zu kommen. Ich las gerade, dass Herr Weise, der Chef der Bundesagentur, dies sehr deutlich beschrieben hat und dass hier Arbeitsmarktchancen eröffnet worden sind, die es vorher nie gegeben hat in Deutschland und die, weil es sie nicht gegeben hat, dazu beigetragen haben, dass wir in so hohe Arbeitslosigkeit von fünf Millionen und mehr geraten sind. Deshalb kann ich nicht empfehlen, davon wieder abzugehen. Deshalb halte ich auch die Korrekturen, die meine Partei, die SPD, jetzt gerade wieder vorgeschlagen hat, für durchweg falsch. Sie bringen keinen einzigen Menschen mehr in Arbeit.

    Spengler: Das sagt ja nicht einmal Gerhard Schröder.

    Clement: Ich weiß nicht, was Gerhard Schröder dazu sagt. Ich habe jetzt nicht mit ihm gesprochen, Sie vermutlich auch nicht über diese Frage.

    Spengler: Er sagt, dass Hartz IV, die Hartz-Reformen nicht sakrosankt seien.

    Clement: Wer behauptet denn, dass sie sakrosankt seien? Ich weiß nicht, in welcher Weise Sie mit mir diskutieren wollen. Wer sagt denn, dass sie sakrosankt seien? Das habe ich doch gar nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass sie vernünftig sind, dass sie weiterentwickelt werden. Allerdings muss man dann an den richtigen Stellen weiterentwickeln. Wenn das Bundesverfassungsgericht sagt, dass hier Kinder aus sozial schwachen Familien anders gestellt werden müssen, dass sie gleiche Chancen haben müssen, dass man dafür sorgen muss, ist das absolut richtig. Das geht nur nicht über Arbeitsmarktreformen, sondern das geht über eine vernünftige Familien- und Bildungspolitik, und zwar nicht nur in solchen abstrakten Formen, sondern in ganz konkreten Maßnahmen in den Schulen, vor allen Dingen in den Städten und Gemeinden. Da sind meine Unterschiede zu dem, was man glaubt, mit allgemeinen Arbeitsmarktreformen erreichen zu können. Die Arbeitsvermittlung kann nicht die Reparaturwerkstatt sein für alle möglichen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen, für Fehlentwicklungen in unseren Familien, die nicht zur Verfügung stehen zur Erziehung und zur Begleitung der Kinder, in unseren Schulen, von denen immer noch bis zu zehn Prozent der Kinder ohne jeden Schulabschluss ins Berufsleben gehen sollen und dann vermutlich scheitern und die nächsten Arbeitslosen und, wenn es ganz schlecht kommt, Langzeitarbeitslosen sind. Da liegen doch unsere Probleme, nicht in den Arbeitsmarktreformen, die Sie jetzt so meinen, kritisieren zu sollen.

    Spengler: Herr Clement, Sie sagen in Ihrem Buch, die Politik sei nicht auf der Höhe der Zeit und sie müsse die wichtigsten Herausforderungen endlich anpacken. Das tue die Kanzlerin aber nicht. Was werfen Sie ihr vor?

    Clement: Genau das, was Sie gerade zitiert haben, dass wir in den Sozialreformen, in den Bildungsreformen – das ist allerdings nicht nur die Kanzlerin, das ist ja auch alles nicht nur an die Kanzlerin adressiert, sondern an die Politik -, das tun die Länder nicht, die Länder reföderalisieren das Schulsystem so, dass Eltern mit Kindern sich in Deutschland nicht mehr bewegen können, nicht mehr von einem Land ins andere bewegen können ohne erhebliche Probleme. Aber wir haben keine gemeinsamen Schulstandards in Deutschland, ganz abgesehen davon, dass wir nicht die Kraft haben, in den meisten Ländern eine Schulpolitik zu entwickeln, die wirklich die schwachen Kinder fördert und die schwachen Kinder in eine Lage bringt, in der auch ihre Talente, in der auch für die Kinder aus schwachen Familien die Talente voll zur Geltung kommen können. Das hat aber nicht nur etwas mit Schulstrukturen zu tun, sondern mit den Inhalten, die in den Schulen zur Verfügung gestellt werden.

    Spengler: Ist der große Unterschied zwischen Frau Merkel auf der einen Seite und Herrn Merz und Ihnen auf der anderen Seite, dass die Kanzlerin begriffen hat, dass es für ihre Position keine Mehrheiten in Deutschland gibt?

    Clement: Ist das die einzige Frage? – Die Frage ist zunächst einmal, was ist die richtige Politik, und wenn ich von richtiger Politik überzeugt bin, dann muss ich mich an die Spitze stellen, dann muss ich führen und Orientierung geben. Ich habe gar nicht die Kanzlerin zu kritisieren in Person, sondern wir reden über die Politik, und die Politik in Deutschland richtet sich, da haben Sie völlig Recht mit Ihrer Frage, allerdings gebe ich die Antwort anders als Sie vermuten, zu sehr nach Meinungsforschung in Deutschland und gibt zu wenig Impulse und Orientierung, in der Bildungspolitik, in der Sozialpolitik, in anderem, und das führt dann dazu, dass wir heute Haushalte haben, die mit Sozialmaßnahmen und Kapitaldienst bereits das gesamte Steueraufkommen auffressen. Das ist das Problem, an dem wir sind.

    Spengler: Wer sollte Nordrhein-Westfalen in den folgenden Jahren führen, der CDU-Ministerpräsident Rüttgers, oder die SPD-Chefin Hannelore Kraft?

    Clement: Das entscheiden die Wählerinnen und Wähler am 9. Mai, das entscheide nicht ich. Ich hoffe nur, dass diejenigen, die in die Regierung kommen, nicht behindern, Fortschritte, reformerische Fortschritte, sondern sie fördern. Da bin ich allerdings auf beiden Seiten skeptisch, wenn ich sehe, dass auch in diesem Wahlkampf immer noch der Eindruck erweckt wird, es gäbe etwas zu verteilen in Deutschland. Es gibt nichts mehr mehr zu verteilen, sondern es gibt neu zu strukturieren und zu reformieren und wieder klar zu machen, dass an erster Stelle der einzelne und die einzelne gefragt ist, aus eigener Kraft, so weit die Kräfte reichen aus eigener Kraft das Leben zu gestalten und nicht stets als Erstes an den Staat zu denken.

    Spengler: Sagt der frühere nordrhein-westfälische Ministerpräsident und Superminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement. Danke, Herr Clement, für das Gespräch.

    Clement: Ich danke auch.