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"Wir müssen gesetzliche Mindestlöhne schaffen"

Christoph Matschie beharrt auf der SPD-Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn. Dieser könne dafür sorgen, "dass die Menschen von ihrer Hände Arbeit am Ende auch leben können", sagte der thüringische SPD-Landesvorsitzende. Die Ausweitung des Entsendegesetzes könne auf dem Weg zu einem flächendeckenden Mindestlohn nur ein erster Schritt sein.

Moderation: Gerd Breker |
    Gerd Breker: Wir haben es in den Nachrichten gehört. Nicht einigen konnte sich gestern die Koalitionsrunde auf die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Die Union ist weiterhin dagegen mit dem Hinweis, solches würde vorhandene Arbeitsplätze verhindern und vernichten. Der Staat solle sich heraushalten. Das sei Sache der Tarifpartner. Die Gewerkschaften sollten sich mit den Arbeitgebern auf tarifliche Mindestlöhne einigen.

    Am Telefon begrüße ich nun Christoph Matschie. Er ist SPD-Vorsitzender in Thüringen und dort im Landtag auch Fraktionsvorsitzender seiner Partei. Guten Tag, Herr Matschie!

    Christoph Matschie: Guten Tag, Herr Breker!

    Breker: Ja, das wäre doch die Lösung: Die Gewerkschaften sind gefordert. Warum versagen sie? Warum vereinbaren sie keine Mindestlöhne in Tarifverhandlungen?

    Matschie: Die Gewerkschaften haben ja an vielen Stellen solche Mindestbedingungen verhandelt und in Tarifverträgen festgeschrieben. Aber wenn man sich mal die Landschaft anschaut: In den neuen Bundesländern werden nur noch etwas mehr als 50 Prozent der Beschäftigten von Tarifverträgen erfasst. Die anderen arbeiten außerhalb von Tarifverträgen. In vielen Bereichen sind die Gewerkschaften organisatorisch auch nicht mehr stark genug, Mindestbedingungen auszuhandeln. Wir haben hier in Thüringen teilweise Stundenlöhne, die unter vier Euro liegen. Und das sind Löhne, von denen niemand mehr wirklich leben kann. Deshalb, glaube ich, muss der Staat hier eingreifen und gesetzlich eine Untergrenze, einen Mindestlohn festlegen.

    Breker: Was Sie da beschreiben, Herr Matschie, bedeutet ja nichts anderes, als dass die Tarifautonomie versagt, in Teilen, in Ostdeutschland, in Thüringen?

    Matschie: Ja, Sie haben Recht. An bestimmten Stellen sind die Gewerkschaften nicht mehr in der Lage, solche Mindestbedingungen durchzusetzen. Ich will aber auch mal dazu sagen: Wir haben in 20 von 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Mindestlöhne. Die liegen in unseren westeuropäischen Nachbarstaaten in der Regel etwa bei acht Euro. Wir haben ja die Debatte jetzt auch wieder "Mindestlöhne vernichten Arbeitsplätze, und die Arbeitslosigkeit steigt". Es gibt dafür keine praktischen empirischen Belege. Unser Nachbarland Niederlande hat einen Mindestlohn; der liegt etwas über acht Euro, eine deutlich niedrigere Arbeitslosigkeit als in Deutschland. Großbritannien hat einen Mindestlohn; der liegt knapp unterhalb von acht Euro, auch eine deutlich niedrigere Arbeitslosigkeit als in Deutschland. Also es gibt keinen Zusammenhang zwischen Mindestlohn und Arbeitslosigkeit. Aber ein gesetzlicher Mindestlohn, der für alle gilt, kann dafür sorgen, dass der untere Lohnbereich stabil ist, dass die Menschen von ihrer Hände Arbeit am Ende auch leben können. Deshalb, glaube ich, so wie viele andere europäische Staaten auch sollte Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn einführen.

    Breker: Man fragt sich nur, Herr Matschie: Wenn der Staat sich erst einmal einmischt bei den Mindestlöhnen, wo soll das enden? Wird er dann irgendwann auch Lohnerhöhungen vorschreiben?

    Matschie: Der Staat hat ja auch andere Bereiche der Arbeitswelt geregelt. Wir haben ja auch Mindestbedingungen über Urlaub beispielsweise. Wir haben Mindestbedingungen über Arbeitszeit. Es ist natürlich auch sinnvoll, Mindestbedingungen über Löhne zu schaffen, dort wo die Gewerkschaften nicht in der Lage sind, ausreichende Bedingungen durchzusetzen. Denn die Alternative ist doch, dass die Löhne in bestimmten Bereichen immer weiter nach unten gedrückt werden. Wir werden in wenigen Jahren die völlige Freizügigkeit der Arbeitnehmer in ganz Europa haben. Und Menschen, die niedrigere Lebenshaltungskosten haben, können ihre Arbeitskraft billiger anbieten auch auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland. Das würde bedeuten, dass immer mehr Menschen zu immer niedrigeren Löhnen arbeiten müssten und damit auch immer mehr deutsche Arbeitnehmer vom Arbeitsmarkt verdrängt werden, weil sie davon nicht mehr leben können. Das kann nicht die Lösung sein. Und deshalb sehe ich die einzige Lösung, die einzig vernünftige Lösung darin, dass wir am Ende sagen, es gibt einen Mindestlohn. Der gilt überall in Deutschland, so wie das Frankreich, wie das Großbritannien oder die Niederlande gemacht haben.

    Breker: Herr Matschie, nun tut sich ja die Union sehr, sehr schwer in Sachen staatliche Mindestlöhne. Wäre denn eine Ausweitung des Entsendegesetzes, was ja auch offenbar schon angedacht ist von Franz Müntefering und seinem Ministerium, eine Brücke sozusagen, über die man die Union dann gehen lassen könnte?

    Matschie: Ja. Ich sehe das ganz ähnlich, Herr Breker. Ich glaube, dass die Ausweitung des Entsendegesetzes ein erster wichtiger Schritt wäre, um Mindestbedingungen festzuschreiben, insbesondere auch in den Branchen, die betroffen sind beispielsweise von der Dienstleistungsrichtlinie, wo in absehbarer Zeit Unternehmen aus ganz Europa ihre Dienstleistungen in Deutschland anbieten können. Und ich will noch mal daran erinnern: Vor einigen Jahren haben wir ja die Debatte im Baubereich gehabt. Soll es Mindestlöhne geben, ja oder nein? Es gab riesige Widerstände gegen Mindestlöhne. Der Effekt war, dass immer mehr deutsche Arbeitnehmer auf den Baustellen verdrängt worden sind durch Arbeitnehmer, die ihre Arbeitskraft billiger anbieten konnten. Wir haben jetzt seit einiger Zeit Mindestlöhne im Baubereich, und das hat die Situation dort stabilisiert. Ich glaube, beide Seiten, sowohl Arbeitgeber wie auch Arbeitnehmer, sind mit dieser Lösung zufrieden. Und deshalb glaube ich, ein erster wichtiger Schritt wäre, auch für andere Branchen neben dem Baubereich solche Bedingungen über das Entsendegesetz festzuschreiben. Ich glaube aber am Ende brauchen wir dann auch den Schritt: einen gesetzlichen Mindestlohn, der die Untergrenze markiert, die überall in Deutschland Gültigkeit hat.

    Breker: Herr Matschie, in einer Großen Koalition kann man ja immer nur das durchsetzen, was auch der Partner mitmacht. Nun ist die Union für den Kombilohn, sprich: Der Arbeitgeber zahlt das, was die Arbeit Wert ist, und der Staat legt drauf, was dann der Arbeitnehmer zum Leben braucht. Wäre das nicht auch eine Alternative, für die sich die Sozialdemokraten erwärmen könnten?

    Matschie: In bestimmten Bereichen machen Kombilohn-Regelungen Sinn, insbesondere dort, wo es darum geht, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nur schwer im Arbeitsmarkt zu vermitteln sind, in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Aber als grundsätzliche Lösung sehe ich hier ein Problem, denn das würde doch dazu führen, dass die Unternehmen in der Lage sind, den Lohn immer weiter nach unten zu drücken in der sicheren Gewissheit, die Steuerzahler legen dann den Rest oben drauf. Wir haben ja auch eine Debatte über die öffentlichen Finanzen in Deutschland. Wir wissen, dass wir nach wie vor über unsere Verhältnisse leben, dass wir einsparen müssen. Und jetzt einen solchen Topf aufzumachen, zu sagen, egal wie niedrig der Lohn ist, den dir der Arbeitgeber zahlt, der Staat legt den Rest oben drauf, das kann ich mir nicht vorstellen. Das würde die öffentlichen Haushalte sprengen. Das wäre auch nicht gerecht, dass die Steuerzahler für das aufkommen, was das Unternehmen seinen Beschäftigten eigentlich zahlen muss. Ich glaube, wir müssen den anderen Weg gehen. Wir müssen gesetzliche Mindestlöhne schaffen oder über das Entsendegesetz Mindestbedingungen festlegen in einem ersten Schritt und so dafür sorgen, dass Menschen, die arbeiten, auch von dem, was sie da verdienen, ihren Lebensunterhalt bestreiten können.

    Breker: Im Deutschlandfunk war das der SPD-Landesvorsitzende von Thüringen. Christoph Matschie. Herr Matschie, danke für dieses Interview.

    Matschie: Bitte, Herr Breker.