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Wirtschaftswissenschaftler
Das Ende des Kapitalismus?

Thomas Piketty hat das auflagenstärkste wirtschaftswissenschaftliche Werk seit Jahren geschrieben. Er sieht im Kapitalismus Naturgesetze am Werk, die der Staat durch wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen in Einklang mit Demokratie bringen muss. Im Rahmen der Reihe „Democracy Lectures“ der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ forderte Piketty einen Sozialstaat für das 21. Jahrhundert.

von Andres Beckmann | 13.11.2014
    Revolutionsromantik lag in der Luft. Vor der Tür des "Hauses der Kulturen der Welt" in Berlin feierten Tausende den Mauerfall. Drinnen drängten sich 1.500 und fast noch einmal so viele wären auch gern dabei gewesen, als Thomas Piketty sein Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" vorstellte – das auflagenstärkste wirtschaftswissenschaftliche Werk seit Jahren. Als "neuen Karl Marx" feiern ihn seine Fans, nicht nur weil sein Buch-Titel an Marxens Hauptwerk erinnert. Sondern auch, weil Piketty ähnlich wie Marx in der Entwicklung des Kapitalismus Naturgesetze am Werk sieht. Das von ihm entdeckte heißt: r ist größer als g, das bedeutet: die Kapitalrendite wächst schneller als das gesellschaftliche Gesamtvermögen, die Unternehmensgewinne steigen also stärker als die Löhne, weswegen die soziale Ungleichheit stetig und unausweichlich zunimmt. Allerdings. Piketty hat auch eine historische Ausnahme von dieser Regel gefunden.
    "Im Laufe des 20.Jahrhunderts gab es externe Schocks für die kapitalistische Wirtschaft, und zwar die beiden Weltkriege. Im Zuge dieser Katastrophen drohte das ganze System zu kollabieren. Daher mussten die Wirtschaftseliten akzeptierten, dass der Staat stärker wurde, sich durch hohe Steuern mehr Geld besorgte und so die extreme Ungleichheit eindämmte, die bis dahin herrschte."
    Beginnend in den 30er Jahren mit dem "New Deal" in den USA setzte sich in Nordamerika und Westeuropa ein wohlfahrtsstaatlich regulierter Kapitalismus durch. Erst mit seiner Hilfe, so Piketty, konnte eine stabile demokratische Ordnung gesichert werden.
    Einheitliche Wirtschaftspolitik in der EU
    "Man braucht sehr starke gesellschaftliche Institutionen, um den Kapitalismus zu regulieren. Der Staat muss Umverteilung zugunsten der Armen betreiben, denn wenn die Ungleichheit zu groß wird, untergräbt dies langfristig die Demokratie."
    Seit den 80er Jahren wächst die Ungleichheit aber wieder rasant. Piketty fordert deshalb, in der globalisierten Welt einen Sozialstaat für das 21. Jahrhundert zu schaffen. Praktisch heißt das für ihn: eine einheitliche Wirtschaftspolitik innerhalb der EU mit höheren Steuern auf Spitzeneinkommen und große Vermögen, auf Börsengeschäfte und fossile Brennstoffe.
    Der Philosophie- und Literaturprofessor Joseph Vogl von der HU Berlin meldete allerdings Zweifel an, ob der Staat heute noch der geeignete Akteur sei, um sozialen Ausgleich zu schaffen.
    "Die Finanzmärkte sind nicht über uns gekommen, sind nicht irgendwie passiert, sondern sie wurden unter freundlicher Mithilfe der Politik seit den 70er-Jahren durchgesetzt. Wir haben es bei den Finanzmärkten nicht mit einem ökonomischen Phänomen zu tun, sondern mit einem politisch-ökonomischen, das bis heute mit Unterstützung von Regierungen und starker Unterstützung von Zentralbanken durchgesetzt wird."
    Keine Rebellion mehr gegen den Markt
    Politiker sähen sich kaum noch als Korrektiv, sondern folgten den Märkten. So nennt Angela Merkel ihre Politik der Bankenstabilisierung "alternativlos". Und die Wähler nehmen das hin, anstatt zu rebellieren wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
    "Es war auch die Zeit des Sozialismus. Und ich frage mich, ob es nicht doch 25 Jahre nach dem Mauerfall Zeit ist, wieder mal zu überlegen, was wir dem Sozialismus zu verdanken haben. In den 20er und 30er Jahren gab es eine sehr starke Arbeiterbewegung, also der New Deal kam nicht von ungefähr."
    Susan Neiman, Philosophin und Leiterin des "Einstein Forums" Potsdam, sieht dagegen heute in Westeuropa allenfalls verhaltene Proteste gegen soziale Ungleichheit. Auch das Buch von Piketty erregte zunächst nur wenig Aufmerksamkeit, als es im vergangenen Jahr in Frankreich erschien. Allein in wissenschaftlichen Kreisen fand Piketty Anerkennung, weil er seine Thesen auf 800 Seiten eindrucksvoll mit empirischen Daten untermauerte. Erst nach der Veröffentlichung in den USA begann eine breite öffentliche Diskussion.
    "In Amerika ist das Buch auf eine viel dramatischere Konstellation als bei uns getroffen: Erstens eine viel krassere Ungleichheitskonstellation, zweitens damit verbunden ein Kollaps des amerikanischen Traums, weil die USA gegenwärtig das Land ist mit der geringsten Aufwärtsmobilität. Und drittens, dort wird das Buch tatsächlich als wohl begründete, fundierte Attacke auf das, was man Neoliberalismus nennt, angesehen."
    USA waren früher Vorreiter staatlicher Regulierung
    Damit, so Joseph Vogl, habe Pikettys Arbeit der wirtschaftswissenschaftlichen Debatte in den USA neue Impulse gegeben.
    "Ich denke, dass dieses Buch die Vereinigen Staaten daran erinnert hat, dass die Vereinigten Staaten eine Geschichte hatten mit, noch vor dem Ersten Weltkrieg, Anti-Trust-Gesetzen, mit Versuchen, Großkonzerne wie die Rockefeller-Group zu zerschlagen, dass die Amerikaner Vorreiter waren in der Regulierung des Bankenwesens durch die Trennung von Investment- und Geschäftsbanken und dass die Amerikaner die Erfinder einer rasanten Steuerprogression waren, die ja noch in den 80er-Jahren bis zu Reagan 90 Prozent an Quote erreicht hatte."
    Dass ausgerechnet die USA Vorreiter bei hohen Steuern und staatlicher Regulierung waren, ist in den Wirtschaftswissenschaften weitgehend in Vergessenheit geraten. Und Thomas Piketty zeigt mit umfangreichen Statistiken, dass die US-Ökonomie gerade in den Zeiten besonders schnell wuchs und besonders innovativ war, als sie vom Staat entschieden reguliert wurde.
    "Das wichtigste Ziel des Buches ist es, die Denkgewohnheiten der Ökonomen zu verändern. Die Wirtschaftswissenschaften sollten aufhören, sich als Königsdisziplin aufzuführen, die angeblich die Märkte versteht. Sie sollten sich mit Historikern und Sozialwissenschaftlern zusammentun, um die Realität unseres Wirtschaftssystems zu beschreiben, anstatt sich in immer ausgefeilteren, aber völlig lebensfremden mathematischen Modellen zu ergehen."
    Sinnkrise der Wirtschaftswissenschaften
    Pikettys Buch trifft die Wirtschaftswissenschaften mitten in einer Sinnkrise, in die sie stürzten, weil sie den Kollaps der Finanzmärkte nicht kommen sahen und bis heute kaum erklären können. Schon allein deshalb ist das Interesse an seinen Thesen groß. Bereits in dieser Woche erscheint eine chinesische Übersetzung. Joseph Vogl hält das Werk zwar nicht für revolutionär. Aber es könne helfen, Fragestellungen wieder auf die Tagesordnung zu setzen, die weltweit in der wirtschaftswissenschaftlichen Debatte lange vernachlässigt wurden.
    "Die Güte einer Wirtschaft und selbst die Qualität dieses kapitalistischen Systems wird sich an der Struktur, an der Dynamik von Verteilungslogiken zu bewähren haben"