Russland
Der Aufstieg Putins

Am 9. August 1999 wurde Wladimir Putin zum Ministerpräsidenten ernannt, ein Jahr später wurde er Präsident. Doch zuvor hatte er bereits ein Netzwerk geknüpft. Ermittler werfen ihm und seinen damaligen Unterstützern Korruption in Millionenhöhe vor.

Von Sabine Adler |
    Wladimir Putin und Boris Jelzin stehen nebeneinander auf dem Kathedralenplatz im Kreml. Beide tragen dunkle Anzüge und blicken geradeaus. Die Szene zeigt die feierliche Amtsübergabe am 7. Mai 2000 – Jelzin übergibt das Präsidentenamt an Putin.
    Putins erster Tag im höchsten Staatsamt: Am 7. Mai 2000 übergibt Boris Jelzin (rechts) dem 47-jährigen Wladimir Putin im Kreml die Präsidentschaft (imago stock&people )
    Dass Wladimir Putins Aufstieg in das höchste russische Staatsamt niemand mehr stoppen konnte, stand bereits am 9. August 1999 fest. Auf Vorschlag von Präsident Boris Jelzin wählten die Abgeordneten der russischen Staatsduma den ehemaligen KGB-Offizier zum Ministerpräsidenten.
    Jelzins Auftrag an Putin lautete, Ruhe und Ordnung in Russland zu schaffen, denn im Land brodelte es. Eine Rubelkrise hatte die Wirtschaft erschüttert und die Menschen erneut verarmen lassen, zudem gab es neue Unruhen im Kaukasus, die Putin als erste Amtshandlung mit einer „antiterroristischen Operation“, sprich einem Armeeeinsatz in der russischen Teilrepublik Tschetschenien, beizulegen versuchte.
    So wenig die Menschen im Land über Putin wusste, so geräuschlos und schnell hatte er sich im Kreml hochgearbeitet. Als Vizechef der Präsidialverwaltung verfügte er über fast alle Informationen, vor allem aber konnte er von diesem Platz aus die unliebsamen Details seiner eigenen Biografie am besten managen. Der in Leningrad geborene und aufgewachsene Spion hatte früh erkannt, dass über wahre Macht nur derjenige verfügt, der die Geheimdienste und den bewaffneten Gewaltapparat, die sogenannten Silowiki befehligt.

    Putins Leningrader Vergangenheit

    Diese Silowiki halten unter Putin aber nicht nur den Staat fest in ihrer Hand, sondern auch die Wirtschaft. Sie haben sie gekapert. Das Schema hat der heutige Präsident bereits Anfang der 1990er-Jahre entworfen, sagt der ehemalige Ermittlungsbeamte Andrej Sykow. Er leitete das Rechercheteam, das Putins Wirtschaftsaktivitäten in St. Petersburg untersuchte und war befasst mit dem berühmten Fall 144 128 - Verdacht der Veruntreuung von Staatsgeldern durch die Führung des Unternehmens „Twentieth Trust Corporation“. „Als wir Ermittler die Tätigkeiten dieser Aktiengesellschaft untersuchten, kamen wir zu dem Schluss, dass sie nicht mit dem Ziel gegründet wurde, etwas zu bauen oder zu produzieren, sondern rein für Unterschlagungen“, erzählt er.
    Beim Fall 144 128 handelte es sich also um ein mutmaßliches Korruptionsdelikt, begangen nicht nur von einer Person, sondern von der gesamten Führung dieser Aktiengesellschaft, die wiederum nur dann in der Lage war, ungestraft zu stehlen, wenn sie sich der Beihilfe höherer Beamter aus Leningrad (St. Petersburg) sicher sein konnte.
    Die Anfänge der „Twentieth Trust Corporation“ gingen auf das Jahr 1992 zurück, an das viele Russinnen und Russen schlimme Erinnerungen haben. Es hat sich ihnen eingeprägt als eine Zeit des Hungers und Elends. In der Stadt an der Newa wurden über 30 Todesfälle aufgrund von Unterernährung registriert. Der Wert des Rubel war ins Bodenlose gefallen, die Inflation galoppierte, das Land war am Rande der Zahlungsunfähigkeit und die Unternehmen konnten die Lieferanten und Gehälter nicht mehr bezahlen.
    Als erste Nothilfemaßnahme stellte die Regierung Geld aus dem föderalen Budget zur Verfügung, damit zumindest staatliche Unternehmen untereinander ihre Rechnungen begleichen konnten. Diese Finanzhilfe war nur dann, und auch nur im Ausnahmefall, für private Unternehmen vorgesehen, wenn sie zumindest zu 50 Prozent dem Staat gehörten. „Als wir nachforschten, wofür diese föderalen Finanzmittel verwendet wurden, stellten wir allerdings fest, dass über 60 Prozent dieser Gelder ausgerechnet an die Firma ‚20.Trust Corporation‘ gingen. Die restlichen Gelder, weniger als 40 Prozent, wurden unter den staatlichen Unternehmen in St. Petersburg aufgeteilt.“

    Korruption statt Hilfe: Wie Millionen verschwanden

    Die „Twentieth Trust Corporation“ hätte als Aktiengesellschaft gar kein Geld bekommen dürfen. Sein Ermittler-Kollege Wasili Kabatschinow hatte herausgefunden, dass von den 23 Milliarden Rubel, die in die Firma „Twentieth Trust Corporation“ eingeflossen sind, nur eine Milliarde Rubel für die Bedürfnisse der Stadt ausgegeben wurde. Die restlichen 22 Milliarden wurden einfach gestohlen und in unterschiedliche Länder überwiesen: nach Spanien, Finnland, Kanada und in die USA.
    Kabatschinow war Hauptkontrolleur und Revisor in der Petersburger Abteilung des russischen Finanzministeriums, ebenfalls zuständig für Korruptionsbekämpfung. Er hatte nachverfolgt, wofür das Geld angeblich verwendet wurde: für Marktforschungen, die aber nie durchgeführt wurden; für diverse Doppelarbeiten, die teilweise von unterschiedlichen Petersburger Unternehmen für minimale Beträge erledigt wurden. Tatsächlich wurden davon aber Villen in Spanien gekauft, die für Wladimir Putin, Anatolij Sobtschak und eine Reihe von anderen Beamten aus der Stadtverwaltung von St. Petersburg bestimmt waren.
    Sykow sagt, die Vorgehensweise ist bis heute eine Blaupause und verweist auf einen zweiten Vorgang aus dem Hungerjahr 1992. Den untersuchte Marina Saljé, die im Leningrader Stadtsowjet die Lebensmittelkommission leitete. Die Abgeordnete verstand nicht, warum das Hilfsprogramm „Lebensmittel gegen Rohstoffe tauschen“ gescheitert war. Die Idee des Programms war, den akuten Hunger in der Stadt zu bekämpfen und dafür Lebensmittel aus dem Ausland gegen Rohstoffe aus staatlichen russischen Reserven einzutauschen. Die Rohstoffe waren bereitgestellt worden, das Geld für die Lebensmittel tauchte jedoch nicht auf. Sie vermutete, dass riesige Summen gestohlen worden waren.
    Die Abgeordnete kam zu dem Schluss, dass das Team von Wladimir Putin etwa 100 Millionen US-Dollar gestohlen habe.
    Sykow, der parallel zu der Politikerin seinen Fall 144 128 aufzuklären hatte, verfolgte deren Ermittlungen genau. Er erzählte in einem Interview mit Radio Swoboda im Jahr 2015, dass die Volksvertreterin damals außerdem aufdeckte, wer neben Putin noch involviert war.

    Alte Seilschaften

    Zu diesem Team gehörte Aleksej Miller, schon seit 2001 „Gazprom“-Chef. Außerdem Dmitri Medwedjew, damals der Wirtschaftsberater von Bürgermeister Anatolij Sobtschak.
    Bis 1997 führte die dem russischen Finanzministerium unterstellte Kontroll- und Prüfungsabteilung von St. Petersburg die Ermittlungen gegen die „Twentieth Trust Corporation“ durch. Das Ergebnis war ein 52-seitiger Bericht, der an 19 Adressen verschickt wurde: an die Generalstaatsanwaltschaft, an den Innenminister, an den Leiter der Hauptabteilung für innere Angelegenheiten, an den Staatsanwalt von St. Petersburg und an die Kontrollabteilung der Präsidialverwaltung.

    Der plötzliche Tod eines Korruptionsermittlers

    Präsident war damals Boris Jelzin. Putin war zu dieser Zeit schon Stellvertretender Chef seiner Präsidialverwaltung. Auch er hat diese Papiere erhalten. „Später haben wir analysiert, wer die Strafverfolgungsbehörden geleitet hat. Meist Personen, die ebenfalls mit Putin verbunden waren und auf die eine oder andere Weise Schmiergelder von der Firma ‚Twentieth Trust Corporation‘ erhalten hatten.“ Die Ermittler ließen nicht locker, versuchten immer weiter, einen Prozess zu erwirken. Aber 1998 wurde Putin Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB, im März 1999 außerdem Sekretär des Sicherheitsrates und im August 1999 wählte ihn die Duma auf Vorschlag von Boris Jelzin mit knapper Mehrheit zum Ministerpräsidenten.
    Sykows Team führte den Strafprozess trotzdem weiter. Im November 1999 starb plötzlich Wasili Kabatschinow, also derjenige, der verfolgt hatte, wo das aus der Firma „Twentieth Trust Corporation“ gestohlene Geld gelandet war. Nach offiziellen Angaben soll er auf seiner Datscha verbrannt sein. Dass der akribische und besonnene Korruptionsermittler und keineswegs trinkfreudige Kollege im Rausch ein Feuer angezündet haben und darin umgekommen sein soll, glaubt Andrej Sykow bis heute nicht.

    Das Präsidentenamt als Schutz vor Strafverfolgung

    Am 31. Dezember 1999 verkündete Boris Jelzin um 12 Uhr mittags, dass er den damals 47–jährigen Leningrader, heute St. Petersburger, zu seinem Nachfolger ernannt hatte. Die Korruptionsjäger verstanden sofort, dass das Verfahren nun eingestellt werden würde, da die wichtigste darin verwickelte Person ab sofort als Präsident Immunität genoss.
    Sykow erinnert sich an einen der aktivsten Ermittler seines Teams, an Oleg Kalinitschenko. Er war leitender Mitarbeiter der Korruptionsbekämpfungsabteilung in St. Petersburg und beschloss, die Informationen, die sie hatten, an die Medien zu geben. Die „Nowaja Gazeta“ veröffentlichte sie in dem Artikel „Der Fall Putins“. Er erschien am 23. März 2000, drei Tage vor der Präsidentschaftswahl. Den Ausgang der undemokratischen und unfairen Abstimmung konnte er nicht mehr beeinflussen. Putin siegte im ersten Wahlgang mit offiziell 52,9 Prozent der Stimmen.
    Sykow hat bis zum Jahr 2000 versucht, Wladimir Putin strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Er und sein Ermittler-Team hätten in diesem Fall die Schuld von Putin selbst wie auch von vielen anderen offiziellen Personen aus seinem Umkreis nachweisen können. Das Korruptionsmodell sei in St. Petersburg eingeübt und dann auf ganz Russland ausgeweitet worden. „Damit man auch weiterhin Entwendungen risikofrei durchführen konnte, musste man die ganze Umgebung ebenfalls kriminalisieren, also ein Team zusammensuchen. Dieses Team, das in der Zeit von 1992 bis 1996 zusammengestellt und geprüft wurde, bildet bis heute das Umfeld von Wladimir Putin.“
    Sykow hat im Laufe der Jahre zwar enorm an Umfang zugelegt, auch sein Haar wird immer länger, aber er ist so furchtlos wie eh und je. Seit über 20 Jahren spricht er aus, was nur wenige zu sagen wagen: "Putin ist zu 90 Prozent ein Krimineller und nur zu 10 Prozent ein Politiker, er hat einen Mafia-Staat aufgebaut und man kann ihm nicht trauen."