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Wo die Vorstellungskraft versagt

Sie ist international geächtet und gehört doch in vielen Teilen der Welt zum Alltag. Das zeigt Manfred Nowak in seinem ebenso erschütternden wie lesenswerten Buch "Folter: Von der Alltäglichkeit des Unfassbaren". Im Auftrag der UNO hat er 18 Länder bereist und geprüft, ob und wie dort gefoltert wird.

Von Wiebke Lehnhoff | 18.06.2012
    "Wir können Folter beschreiben oder definieren, aber wirklich erfassen können wir nicht, was Folter bedeutet, wenn wir sie nicht selbst erlebt haben. Wir versuchen, uns in das Leiden der Gefolterten hineinzufühlen, aber ab einem bestimmten Punkt versagt unsere Vorstellungskraft. Als ich vor nunmehr 35 Jahren mein erstes Interview mit einem Folteropfer versuchte, wurde mir schlecht. Ich konnte es physisch und psychisch nicht ertragen, mich in seine Leiden und Qualen wirklich hineinzuversetzen."

    Der Österreicher Manfred Nowak kam als Jurist zum Thema Menschenrechte und Folter. Mehrere Jahre arbeitete er als Richter an der Menschenrechtskammer für Bosnien und Herzegowina. Im Anschluss ernannte ihn die UNO 2004 zum "Sonderberichterstatter über Folter, grausame unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe". Dieses unbezahlte Amt übte Nowak bis 2010 aus. Dabei reiste er mit seinem Team in 18 Staaten und untersuchte dort die Zustände in Gefängnissen, Polizeizellen oder geschlossenen Anstalten. Unter dem Schutz der UNO inspizierte er die Einrichtungen meist unangekündigt, sprach vertraulich mit Häftlingen und dokumentierte Folterspuren. Aus Jordanien beschreibt Nowak:

    "Es gelang uns auch, das Haftzentrum des Geheimdienstes mit seinen Einzelzellen und den berüchtigten Verhörräumen zu inspizieren. Dort werden Häftlinge oft für viele Stunden mit Falanga, also Schlägen auf die Fußsohlen, malträtiert und danach gezwungen, über Salz zu gehen, was die Schmerzen fast unerträglich macht und dazu beiträgt, dass die Wunden auf den Sohlen schneller verheilen und damit der Folterbeweis früher verschwindet."

    Nowak erzählt nüchtern und klar strukturiert von seinen schrecklichen Beobachtungen. Trotzdem schimmert durch, wie betroffen oder entsetzt er von den jeweiligen Zuständen ist. - Vor den einzelnen Länderberichten erklärt der Jurist gut verständlich verschiedene Aspekte seiner Aufgabe und beantwortet Fragen zur Folter. Dabei spricht er auch das Thema "Rettungsfolter" an. Es wurde in Deutschland diskutiert, nachdem 2002 der Junge Jakob von Metzler entführt und ermordet worden war. Die Polizei hatte gehofft, ihn noch lebend zu finden, und dem Entführer Folter angedroht. Manfred Nowak ordnet den Fall ein:

    "Herr Daschner, der Vize-Polizeipräsident von Frankfurt, wurde ja auch deswegen verurteilt, allerdings hat man ihm zu Recht mildernde Umstände gegeben, weil es faktisch für einen guten Zweck war: Nämlich er hat gehofft, noch das Leben des Kindes retten zu können. Aber was wesentlich ist an diesem Fall: Folter darf nie, in keinem auch noch so moralisch möglicherweise gerechtfertigten Fall rechtlich zulässig werden. Und das ist genau die Diskussion mit dem Begriff der Rettungsfolter: Die gibt es nicht! Folter ist immer Folter, absolut verboten, auch im Ausnahmezustand."

    In Deutschland ist es sowohl strafbar, eine Person zu foltern, als auch, ihr Folter anzudrohen, um eine Aussage zu erpressen. So erzwungene Äußerungen dürfen außerdem nicht in Gerichtsverfahren verwertet werden. Auch international ist Folter eigentlich geächtet – trotzdem entdeckte Nowak auf seinen Missionen in fast jedem der 18 Staaten mehr oder weniger deutliche Hinweise auf Folter oder unmenschliche Behandlung.

    "Am Schlimmsten war es ganz sicherlich in Äquatorialguinea: systematische Folter, das heißt als Regierungspolitik in einer Diktatur, nicht nur gegen politisch Andersdenkende, sondern auch gegen Personen, die einer normalen Straftat verdächtig waren, und ganz fürchterliche Haftbedingungen."

    Aber nicht nur die Foltermethoden prangert Manfred Nowak in seinem lesenswerten Buch an, sondern auch die Haftbedingungen. In Jamaika sah er rund 160 Häftlinge zusammengepfercht in wenigen Zellen, die mit Ungeziefer verseucht waren. Als Toiletten dienten überquellende Plastiksäcke.

    "Die Haftbedingungen fand ich in Jamaika – vor allem in der Polizeihaft – und in Uruguay - in den Gefängnissen – völlig inakzeptabel, aber generell würde ich von einer wirklich globalen Krise der Haft sprechen, denn in den meisten Ländern der Welt sind die Gefängnisse überfüllt und entsprechen nicht den Mindeststandards der Vereinten Nationen."

    Das stellte Nowak auf fast allen seinen Missionen fest, auch in Griechenland. Dort fand er Flüchtlinge aus Nordafrika oder dem Nahen Osten dicht an dicht in zu kleinen und heruntergekommenen Haftanstalten. Das sei "unmenschlich", sagt der 61-jährige Nowak, inzwischen Professor für Internationales Recht und Menschenrechte in Wien. Er fordert mehr Mitgefühl für Häftlinge. Fehlende Empathie sei eine der wichtigsten Ursachen für Folter und schlechte Haftbedingungen. Das hätten Dänemark und Grönland erkannt: Nur dort habe er als UNO-Sonderberichterstatter keine Folter vorgefunden und gleichzeitig "die mit Abstand besten Haftbedingungen", sagt der Menschenrechtsexperte.

    "Dänemark hat das Prinzip der Normalisierung, das heißt, sie sagen "Wir wollen die Leute in der Haft nicht so schlecht wie möglich, sondern so gut wie möglich behandeln" – sie sollen dort eine Situation vorfinden, wo sie zwar ihrer persönlichen Freiheit beraubt sind, aber wo das Leben hinter Gittern, so möglichst ähnlich ist wie außerhalb, um dann auch eine viel geringere Rückfallquote zu haben. Das heißt, die Menschen können sich dort in den Gefängnissen frei bewegen, sie haben Arbeitsmöglichkeiten, sie haben Freizeitmöglichkeiten und so weiter. Und das ist natürlich auch ein Grund, der dazu beiträgt, dass es viel weniger Gewalt gibt und auch nicht Folterungen."

    Laut Nowak wird Folter weltweit vor allem deshalb weiter angewandt, weil sie im Verborgenen stattfinden kann. Darum sollten Haftorte regelmäßig von unabhängigen Menschenrechtsbeobachtern besucht werden. Außerdem fordert der Jurist für jeden Staat eine unabhängige Behörde, die Folterbeschwerden annehmen, untersuchen und anklagen kann. Denn leider blieben diese brutalen Gewaltverbrechen sehr oft ungestraft oder würden zu milde geahndet.

    Manfred Nowak ist überzeugt, dass Folter weltweit ausgerottet werden kann: Wenn es politisch und auch von den Bürgern gewollt ist. Nach den erschreckenden Informationen und Bildern, die dieses Buch vermittelt, stellt sich allerdings die Frage, ob sich das so leicht erreichen lässt.

    Manfred Nowak : Folter - Die Alltäglichkeit des Unfassbaren
    Verlag Kremayr & Scheriau, 239 Seiten, 22,00 Euro
    ISBN: 978-3-218-00833-4