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Wolf Biermanns Autobiografie
Alles andere als ein Revolutionstourist

Der Vater des Liedermachers Wolf Biermann, ein kommunistischer Widerstandskämpfer, wurde in Auschwitz ermordet. Um seiner Mutter den "kleinen Gefallen" zu tun, den Vater zu rächen und nebenbei den Kommunismus aufzubauen, wurde Biermann DDR-Bürger. Mit seiner Biografie ist ihm ein grandioses Buch über sein unfassbares Leben und über Deutschland gelungen.

Von Tobias Wenzel | 03.11.2016
    Der aus der DDR ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann bei einem Solidaritätsbesuch in der besetzten Göttinger Augenklinik im Herbst 1979 mit einer Gruppe Studenten und junger Leute in einem Hörsaal.
    Circa drei Jahre nach seiner Ausbürgerung aus der DDR: der Liedermacher Wolf Biermann bei einem Solidaritätsbesuch in der besetzten Göttinger Augenklinik im Herbst 1979. (imago / Eckhard Stengel)
    Sommer 1943 in Hamburg. Die Alliierten bombardieren die Stadt in der sogenannten "Operation Gomorrha". Mitten im Flammenmeer Emma Biermann und ihr sechsjähriger Sohn Wolf.
    "Die Glut. Das tiefe Rot. Unsere Atemtücher ausgetrocknet. Der Qualm beißt in die Lunge. Emma klettert auf ein Klo. Oben im Wasserkasten noch Wasser. Sie tunkt unsere Tücher ein. Raus jetzt! Nah an der Mauer entlang im Windschatten. Zur Brücke! Zur Böschung! Runter ins Wasser! Geh du vor! Kein Grund unter den Füßen. Das ist der Tod. Ich sank unter. Das war der Tod. Meine Mutter riss mich an den Haaren wieder hoch übers Wasser." (Zitat, S. 37)
    Emma Biermann rettet sich und ihren Sohn. Aber Hamburg ist zerstört. Die Familie muss nach Bayern fliehen. Gerade mal vierzig Seiten hat man an dieser Stelle in Wolf Biermanns mehr als 500 Seiten starker Autobiografie "Warte nicht auf bessre Zeiten!" gelesen. Aber es kommt einem hier schon vor, als wäre das zu viel für ein einzelnes Menschenleben.
    Vater in Auschwitz ermordet
    Da haben die Nazis den Vater, Dagobert Biermann, einen Juden und kommunistischen Widerstandskämpfer, in Auschwitz ermordet. Zuvor hatte er jahrelang unschuldig im Gefängnis gesessen. Sohn Wolf hatte ihn kaum kennengelernt. Das verstärkte noch den Hass der kommunistischen Mutter auf Hitler und die Nazis:
    "Also wuchs ich auf mit dem Auftrag, die Menschheit zu retten, meinen Vater zu rächen und nebenbei den Kommunismus aufzubauen. Und weil ich meiner Mutter diesen kleinen Gefallen tun wollte, ging ich eben mit sechzehn Jahren 1953 nach Osten und wurde ein DDR-Bürger. Und das war das Beste, was ich in meinem ganzen Leben gemacht habe. Warum? Ich musste die Lektion lernen, im Vaterland aller Werktätigen, im Arbeiter- und Bauernparadies wirklich zu leben, und nicht nur als Revolutionstourist mal eben vorbeischnuppern. Und wenn ich das nicht gemacht hätte, wäre ich ja gar nicht der Biermann geworden."
    Die ganze Dramatik der deutschen Geschichte spiegelt sich, rückwirkend betrachtet, in Biermanns irrwitzigem Leben. Die Geschichte und auch die Kulturgeschichte Deutschlands. Das allein würde diese Autobiografie lesenswert machen. Hinzu kommt noch Biermanns wunderbar eigenwillige, kraftvolle Sprache. Und so ist die Lektüre von Anfang an ein großer Genuss.
    In Ost-Berlin bittet Biermann, der Student der Politischen Ökonomie, 1957 um einen Termin bei Helene Weigel, der großen Schauspielerin, Intendantin des Berliner Ensembles und Brecht-Witwe. Er erklärt ihr, er wolle Regisseur werden, und wird prompt als Regieassistent eingestellt.
    "Die Weigel hat gemerkt, dass ich kein Langweiler war. Aber viel wichtiger als das war noch etwas ganz anderes - und das muss ich Ihnen auf Ihre jugendliche Westnase binden: Sie merkte im Gespräch, dass ich von Theater wirklich keine Ahnung hatte. Und das sprach aus ihrer Sicht für mich. Das klingt jetzt wie ein blöder Witz und ist die Wahrheit."
    Hanns Eisler entdeckt Biermanns Talent als Liedermacher
    Anfang der 60er entdeckt Hanns Eisler Biermanns Talent als Liedermacher. Aber schon bald verlässt das Glück das "Glückskind", wie er sich selbst in seiner Autobiografie nennt. Sein frisch gegründetes "Berliner Arbeiter- und Studententheater" wird verboten. Und nach einem gemeinsamen Auftritt mit dem Kabarettisten Wolfgang Neuss in Frankfurt am Main 1965 veröffentlicht der, ohne zu fragen, den Beginn von Biermanns auf Heine anspielendem "Wintermärchen":
    "Wintermärchen. 1. Kapitel"
    Im deutschen Dezember floss die Spree
    Von Ost- nach Westberlin
    Da schwamm ich mit der Eisenbahn
    Hoch über die Mauer hin
    Da schwebte ich leicht übern Drahtverhau
    Und über die Bluthunde hin
    Das ging mir so seltsam ins Gemüt
    Und bitter auch durch den Sinn
    Das ging mir so bitter in das Herz
    – Da unten, die treuen Genossen –
    So mancher, der diesen gleichen Weg
    Zu Fuß ging, wurde erschossen
    Manch einer warf sein junges Fleisch
    In Drahtverhau und Minenfeld
    Durchlöchert läuft der Eimer aus
    Wenn die MP von hinten bellt
    […]
    Auftritts- und Publikationsverbot
    Die DDR erteilt Biermann Auftritts- und Publikationsverbot. Er veröffentlicht Texte und Schallplatten im Westen. Tonbandaufnahmen seiner Lieder werden aber unter der Hand in der DDR weitergereicht. Rund 200 Spitzel berichten über Biermann, fünfzehn davon sind nur auf ihn angesetzt. Eindrucksvoll und viel berührender als ein Historiker schildert der Autor in seiner Autobiografie die Perfidie der Stasi und ihre psychologische Wirkung. Biermann bekommt Angst und mit ihm auch der Leser. Einmal wird sogar die Autobremse des Liedermachers manipuliert. Gemeinsam mit seinem Sohn überlebt er den vermeintlichen Mordanschlag. Er versucht, sich die Angst von der Seele zu schreiben und zu singen:
    Auszug aus Lied "Das macht mich populär"
    "Wenn jemand solche Lieder singt
    Dann wird ihm was passieren
    Dann kommt mal statt des Milchmanns früh
    wer anders zum Kassieren!"
    Stasi-Akte als Gedächtnisstütze
    Einen Vorteil hatte allerdings die Überwachung durch die Stasi, lernt man aus "Warte nicht auf bessre Zeiten!": Die noch erhaltenen 20.000 Blätter seiner Stasi-Akte dienten Wolf Biermann, neben seinen Tagebüchern, als Gedächtnisstütze beim Schreiben seiner Autobiografie:
    "Da besucht mich Allen Ginsberg aus New York, der Dichter der Beat Generation, und mich besucht Joan Baez, die Folklore-Sängerin, die ich so liebe – und alles das steht ja haarklein und genau in meinen Akten. Die Akten der Staatssicherheit sind deutsche Wertarbeit! Und das ist natürlich ein unglaublicher Service. ‚Kostenlos‘ würde ich das nicht nennen. Denn bezahlt haben wir alle mit Ängsten, mit Seelengeld, mit Tränen, mit Wut, mit Verbitterung."
    Als Biermann 1992 seine Stasiakte einsieht, ist es ein Wechselbad der Gefühle. Er erschaudert, als sich ein eigentlich treuer Freund als Inoffizieller Mitarbeiter entpuppt. Er lacht laut auf, als er bemerkt, dass ein ungebildeter Spitzel eine Liedzeile falsch, die Anspielung auf Goethes Sekretär, nicht verstanden hat.
    "Die Stasi-Ballade"
    […]
    und ich weiß ja: Hin und wieder
    singt im Bett ihr meine Lieder
    – dankbar rechne ich euch's an:
    Die Stasi ist mein Ecker
    die Stasi ist mein Ecker
    die Stasi ist mein Eckermann
    […]
    Ich stelle mir vor, wie der zuständige Stasioffizier den Text in seine Schreibmaschine tippt: "Die Stasi ist mein Ecker …" - Wie? "Die Stasi ist mein Ecker …" - Was? "Die Stasi ist …" - Hm …"Der Kämpfer an der unsichtbaren Front kratzt sich am Kopf. Was, verflucht, könnte das heißen? "Die Stasi ist mein …"? […] Und plötzlich kommt ihm ein genialer Einfall, und so haut er es dann auch in die Tasten: "Die Stasi ist mein Henkersmann!" Na also! Es geht doch, Genosse! Henkersmann! (Zitat S. 477-78)
    Scharfe Worte für Verräter
    Scharf greift Wolf Biermann in seiner Autobiografie jene an, die er für Stasimitarbeiter hält oder von denen er es weiß. Seinen ehemaligen Manager, den Linken-Politiker Diether Dehm, der Biermann auch im Westen ausspioniert haben soll, nennt er eine "dummkluge Kanaille". Jene, die sich dem Protest bei seiner Ausbürgerung 1976 nicht anschlossen, sondern gegen ihn mobil machten, wie Peter Hacks, rammt er geradezu seine galligen Worten in die Brust.
    Natürlich muss man sich als Leser dieser Autobiografie auch die Frage stellen, ob sich der angriffslustige Wolf Biermann, der auch mal gerne grundlos andere provoziert, in diesem Erinnerungsbuch nicht hier und da in ein besseres Licht stellt. Andererseits geht Biermann auch mit sich selbst hart ins Gericht. Er bedauert den "Politschund", den er auf Einladung der "Grünen" im Westen gesungen hat.
    Bereut sexuelle Untreue
    Er schreibt selbstkritisch, er habe die "Mauer mitgebaut", indem er sie propagandistisch kleingeredet habe. Und er habe mehrere seiner Frauen betrogen als "kleiner Weiber-Leiber-Zeitvertreiber". Das klingt, als wäre er mit fast 80 altersweise geworden.
    "Alt ja, aber nicht weise. Aber es bleibt ja nicht aus, dass man endlich, wie es Beckett sagen würde, bessere Fehler macht als vorher."
    Während Wolf Biermann im Gespräch und bei Auftritten immer mal wieder zu Mätzchen neigt, zum manierierten Sprechen, auch zur Eitelkeit, ist von all dem zum Glück kaum etwas in seiner Autobiografie zu spüren. So ist ihm mit "Warte nicht auf bessre Zeiten!" ein grandioses, auch sprachlich herausragendes Buch über sein unfassbares Leben und über Deutschland gelungen. Eine Autobiografie, an deren Ende die Frage steht, was Biermann mit dem Verlust der Utopie "Kommunismus" geblieben ist:
    "Die hoffnungslose Hoffnung auf die Vernunft des Menschen."
    Wolf Biermann: "Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiografie", Berlin, Propyläen 2016, 543 Seiten, 28 Euro