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Wolfgang Thierse
"Verhängnisvolle Tendenz zur Boulevardisierung"

Wenn Medien angesichts der Großen Koalition sich selbst als Opposition wahrnehmen, sei das ein eigentümliches Rollenverständnis, sagt der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) im DLF. Sie müssten stattdessen aufklären und verquaste politische Sprache verständlich machen. Das sei vielen Journalisten aber offenbar zu anstrengend.

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Christoph Heinemann | 20.12.2013
    Christoph Heinemann: Das Landgericht Hannover hat eine Einstellung des Korruptionsprozesses gegen den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff angeregt. Die Staatsanwaltschaft lehnt eine Einstellung ab. Aus ihrer Sicht gibt es nach wie vor ausreichend viele Hinweise darauf, dass Wulff sich wissentlich von dem Filmproduzenten David Groenewold habe einladen lassen. Am Telefon ist Wolfgang Thierse (SPD), der ehemalige Präsident, zuletzt Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Guten Morgen!
    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Herr Heinemann.
    Heinemann: Herr Thierse, ich möchte die Presseschau jetzt nicht verlängern, aber ich möchte Ihnen einen Auszug aus dem Kommentar der "Süddeutschen Zeitung" von Heribert Prantl heute vorlesen. "Die Ermittler haben Wulff behandelt wie einen korruptiven Amokläufer. Sie haben in seinem beruflichen und privaten Leben Steinchen umgedreht, so als könnte sich daraus eine Art Lebensführungsschuld ergeben." Und am Schluss heißt es dann: man wünschte sich von ihr, also von der Staatsanwaltschaft, "den Mut, Freispruch für Wulff zu beantragen." Teilen Sie diese Kritik an der Staatsanwaltschaft, an den Ermittlern?
    Thierse: Sie erscheint mir sehr einleuchtend. Man hatte ja immer mal wieder den Eindruck, dass der Staatsanwalt sich fast zwanghaft benimmt, bloß nicht den Eindruck erwecken, man wolle dem ehemaligen Landeschef nicht an den Kragen, man würde ihn freundlicher, nachsichtiger behandeln als jeden anderen. Diesem Verdacht der Hörigkeit gegenüber Mächtigen wollte sich die Staatsanwaltschaft offensichtlich nicht aussetzen, und das hat, glaube ich, zum Teil ihren Eifer begründet, von dem sie dann nicht wieder ablassen konnte.
    Heinemann: Das Ganze fand aber in einem Medienumfeld statt. Haben die Medien Wulff fertiggemacht?
    Thierse: Es ist schwierig. Es gibt sehr vielen guten Journalismus in Deutschland, wahrlich. Das will ich ausdrücklich betonen. Aber es gibt eben auch eine verhängnisvolle Tendenz zur Personalisierung, zur Skandalisierung, zur Boulevardisierung. Diese Tendenz ist an diesem Fall Wulff ganz besonders deutlich geworden, und das wird man doch wohl feststellen können, auch wenn ein ehemaliger Politiker das sagt und damit sich der sofort dem Verdacht bei Journalisten aussetzt, er wolle die Pressefreiheit attackieren. Nein, darum geht es nicht, sondern es geht darum, dass ich mir schon wünsche, dass die Journalisten mehr als bisher ihre Fähigkeit zur Selbstkritik gelegentlich beweisen.
    Heinemann: Nun konnte es die Presse ja nicht unkommentiert hinnehmen, dass ein amtierender Bundespräsident dem Chefredakteur einer Zeitung per Handy-Botschaft droht.
    Thierse: Das ist ja auch der entscheidende Punkt, dass Bundespräsident Wulff sich auf fatal falsche Weise verteidigt hat gegenüber den Anwürfen und den Einzelheiten, die da bekannt geworden sind. Das habe ich nicht zu kritisieren, dass da die Presse sich gegen diese Art von falscher Verteidigung gewehrt hat beziehungsweise dies auch öffentlich bewertet hat.
    Heinemann: Herr Thierse, bei sämtlichen Rücktrittsfällen, wenn wir sie mal uns alle anschauen, Guttenberg, Köhler, Schavan, Beck, Brüderle vielleicht auch – der ist jetzt nicht zurückgetreten, aber wurde auch kritisiert -, Gaschke jetzt zum Schluss, hat die Politik ja mitgespielt. Das heißt, auch die Politik hat Gift und Galle oder Gift und Gülle sogar gespuckt aus dem politischen Establishment. Ist das nicht ein bisschen wohlfeil zu sagen, das waren die bösen Medien wieder?
    Thierse: Ich habe ja etwas differenzierter mich geäußert. Es gibt nicht einfache Schuldzuweisungen. Dass Politik auch und gerade in einer Demokratie Kampf ist, Auseinandersetzung ist, dass es dabei nicht immer fein zugeht, das stelle ich fest – nicht mit Erheiterung, sondern mit Bedauern, aber es ist so. Was ich mir wünsche ist, dass die Journalisten aufklären, kritisch sind, berichten, aber dass sie sich vor allem der sehr mühseligen Aufgabe widmen, komplexe Probleme und gelegentlich auch verquaste politische Sprache ins Verständliche zu übersetzen. Das ist offensichtlich so anstrengend, dass es dann bei nicht wenigen die Neigung gibt, anstelle dieser schwierigen Aufgabe sich zu widmen lieber zu personalisieren, zu skandalisieren und zu hysterisieren, und das kann ich bedauern und das, finde ich, ist etwas, was man sich wünschen muss, dass es diese Entwicklung nicht weiter gibt um unserer Demokratie willen.
    Heinemann: Sollte eine Folgerung oder eine Folge darin bestehen, dass in Deutschland auch in Zukunft jemand im Amt bleiben kann, selbst wenn die Leitmedien alle seinen Rücktritt fordern?
    Thierse: Natürlich! Es hängt ja immer davon ab, a) wie er sich selber beurteilt, wie die Person sich selber beurteilt, und Politiker werden zum Glück auch durch die Öffentlichkeit – das ist eine Aufgabe des Journalismus – zur Selbstkritik gezwungen. Ob die Person bleiben kann, hängt natürlich auch von den politischen Freunden ab und natürlich auch ein bisschen tatsächlich von den Wählern, von der Stimmung, die da mitzubekommen ist, und beides, die Stimmung bei den Wählern, die Auffassung in der eigenen Partei, wird natürlich immer wesentlich beeinflusst durch die veröffentlichte Meinung.
    Heinemann: Ist der Druck, den Medien ausüben können, wichtig für die Demokratie?
    Thierse: Ich sage es jetzt noch mal: Vielleicht ist Druck das falsche Wort. Aufklärung, kritische Begleitung von Politik ist Aufgabe von Medien. Wenn ich jetzt lese, in der "Zeit", in der "Welt", dass angesichts der Großen Koalition die Medien Opposition sein müssten, dann frage ich mich, welch eigentümliches Rollenverständnis das ist. Denn da wird ja gesagt, die Medien müssten Partei sein, Partei gegen eine demokratisch zustande gekommene Mehrheit, gegen eine demokratisch zustande gekommene Koalition. Nein: Sie sollen auch wie gegenüber jeder anderen Regierung, wie gegenüber Politik kritisch sein, aufklären, aber vor allem auch verständlich machen, komplexe Probleme und gelegentlich – ich wiederhole mich – verquaste politische Sprache.
    Heinemann: Wie wichtig war Ihnen in der aktiven Zeit, in welchem Tenor die Medien über Sie berichten?
    Thierse: Ich habe mich nicht zu beklagen, auch wenn ich gelegentlich kritisiert wurde. Aber ich habe die angenehme Wahrnehmung gemacht, dass es nicht eine einhellige Meinung über mich gab, sondern ganz unterschiedliche Meinungen und Kritik und Lob verteilt waren und man dann als Politiker auch lernen musste, damit umzugehen. Man darf als Politiker nicht ein Sensibelchen sein, in der Weise, dass man jede Kritik als Beleidigung empfindet. Das ist unsinnig. Man muss sie ernst nehmen, aber man kann sie auch einordnen. Aus dieser politischen Richtung nimmt man sie weniger ernst, aus anderen ernster, weil natürlich auch die Medien durchaus unterschiedliche Parteien vertreten.
    Heinemann: Müssen Medien und Politiker, müssen Journalisten und Politiker ein Wort lernen, das Wort "Entschuldigung"?
    Thierse: Ja, ich glaube ja, beide, sowohl Politiker, dass sie gelegentlich um Entschuldigung bitten, auch öffentlich eingestehen, dass sie sich geirrt haben, dass sie einen Fehler gemacht haben. Aber ich wünsche mir das auch von Journalisten, und bei letzteren gibt es das so gut wie gar nicht, ist meine Erfahrung aus 24 Jahren.
    Heinemann: Wolfgang Thierse, der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages (SPD). Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Thierse: Auf Wiederhören!
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