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Yuri Slezkine: "Das Haus der Regierung"
Die russische Revolution als Familiensaga und Sektenepos

Mehr als 20 Jahre hat der russisch-amerikanische Historiker Yuri Slezkine an seinem Buch gearbeitet. Entstanden ist ein Riesenepos, das die Geschichte der russischen Revolution und der Sowjetunion als Geschichte eines Hauses und seiner Bewohner darstellt - mit einem Paukenschlag am Schluss.

Von Uli Hufen | 01.03.2019
Buchcover: Yuri Slezkine: „Das Haus der Regierung. Eine Saga der Russischen Revolution“
Der Historiker Yuri Slezkine ist bekannt für steile Thesen (Buchcover: Hanser Verlag, Foto: imago stock&people/Sander Ilvest)
In den 70er und 80er Jahren des 20.Jahrhunderts hieß der kontroverseste und beste Schriftsteller der offiziellen Sowjetliteratur Juri Trifonow. Auch das Nobelpreiskomitee hatte Trifonow auf der Liste. Sein Meisterwerk "Das Haus an der Uferstraße" von 1976 handelte von Lebenslügen und zerstörten Träumen in Kreisen der Nomenklatura. Sowjetischen Lesern reichte der Titel, um das zu verstehen. Das reale Haus an der Uferstraße wurde Ende der 20er Jahre schräg gegenüber vom Kreml für Regierungsmitglieder und andere Höchstgestellte errichtet. Juri Trifonow war selbst dort aufgewachsen, als Sohn des Revolutionshelden und Spitzenbeamten Valentin Trifonow.
Valentin und Yuri Trifonow sind nur zwei von Hunderten Figuren in Yuri Slezkines überwältigender Revolutionssaga "Das Haus der Regierung". Aber ihre Biografien sind typisch und stellen die Frage, die Slezkine bewegt: Wie konnte der Glauben an den Sozialismus binnen einer einzigen Generation selbst in den höchsten Höhen der sowjetischen Gesellschaft verloren gehen? Wie konnte der Sohn eines überzeugten Kommunisten zu dem Schriftsteller jener Generation werden, die die Sowjetunion zu Grabe trug?
Slezkine ist überzeugt davon, dass am Beispiel einiger prominenter Familien die Geschichte der russischen Revolution und letztlich des sowjetischen 20.Jahrhunderts erzählt werden kann. Wie's der Zufall, der Weltgeist oder Stalin wollten, lebten diese Familien für einige Jahre unter einem Dach: Im "Haus an der Uferstraße", das zunächst "Haus der Regierung" hieß.
"Der vorgeschlagene Komplex bestand aus sieben zusammenhängenden Wohngebäuden, die in der Höhe von 8-11 Stockwerken variierten, einem Filmtheatersaal für 1500 Personen, einem Lebensmittelgeschäft und einem Club für 1000 Personen. Hinzukamen ein Theater, eine Kantine und mehrere Sporteinrichtungen. Die Wohnflügel sollten 440 Drei-, Vier- und Fünf-Zimmer-Wohnungen enthalten."
Die Bolschewiki als Erlösungssekte
Das Haus der Regierung zog die Menschen in Moskau in seinen Bann. Durch seine enorme Größe, durch den für damalige Verhältnisse märchenhaften Luxus und etwas später auch durch die Tatsache, dass Hunderte seiner Bewohner in den Mühlen des stalinschen Terrors zermahlen wurden. Ende 1932 lebten hier 2745 Menschen. Allerdings waren da seit der Revolution schon beinah 15 Jahre vergangen, weshalb das Haus der Regierung in Slezkines Buch auch erst auf Seite 400 auftaucht. Vorher erzählt Slezkine, wer die Bewohner eigentlich waren. Seine These: Die Bolschewiki waren eine millenaristische Endzeit- und Erlösungssekte.
"Buch eins stellt die Altbolschewiki als junge Männer und Frauen vor und folgt ihnen von einer kurzzeitigen Unterkunft zur nächsten, während sie sich zum radikalen Sozialismus bekehren, in Gefängnis und Verbannung überleben, die kommende Revolution predigen, im Bürgerkrieg die Oberhand gewinnen, die Diktatur des
Proletariats errichten, über die Aufschiebung des Sozialismus diskutierten und sich fragen, was in der Zwischenzeit zu tun ist."
Der Sozialismus als Irrglauben kranker Fanatiker: das ist im Grunde eine dröge alte Idee aus dem kalten Krieg, die damals benutzt wurde, um die Sowjetunion zu diskreditieren. Slezkine hat andere Absichten und hält nichts vom Moralisieren. Millenaristische Sekten sind ihm unangenehme, aber weitverbreitete Erscheinungen in der Geschichte: das Christentum, der Islam und die Münsteraner Wiedertäufer sind nur drei von vielen. Also zeigt Slezkine Parallelen: Die Revolutionäre bildeten kleine konspirative Gruppen, die Mitglieder waren vor allem junge Männer aus der Mittelschicht, die inklusive ihrer Familien alles aufgaben, um charismatischen Führern ins Himmelreich zu folgen. Die Mitgliedschaft basierte auf einem rituellen Glaubensbekenntnis, es gab Erweckungserlebnisse, Feuertaufen und den tiefen Glauben, dass die Rache der Schwachen an den Unterdrückern unmittelbar bevorstand. Die Internationale sagte es klar und deutlich:
"Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger,
alles zu werden, strömt zuhauf.
Völker, hört die Signale!
Auf, zum letzten Gefecht!"
Unzureichende These
Slezkine folgt den jungen Revolutionären kreuz und quer durch Russland, in Exil und Verbannung. Er weiß, was sie gelesen haben und worüber sie stritten. Er ist dabei, wenn sie über die Februarrevolution staunen, die unerwartet ohne ihr Zutun ausgebrochen ist. Er beschreibt die Ankunft des Propheten Lenins am Ostermontag 1917 in Petrograd, die Oktoberrevolution, den apokalyptischen Bürgerkrieg und die folgende Neue Ökonomische Politik, die viele Revolutionäre frustrierte. Das Himmelreich ließ auf sich warten, also musste man sich im Diesseits einrichten: im Haus der Regierung.
Slezkine beherrscht sein Material und er ist ein großartiger Stilist. Man folgt ihm begeistert auf jeden noch so abwegigen Exkurs: Religionsgeschichte und Architektur, Literaturanalysen, Amazonen der Revolution, Krankenakten hoher Funktionäre und vieles mehr. Durchweg faszinierender Stoff. Und trotzdem: Je mehr man in Slezkines Erzählstrom versinkt, umso deutlicher wird, dass die Sektentheorie nicht genügt, um die Geschichte eines Landes zu erklären, das Revolution und Bürgerkrieg durchlebt, wiedergeboren wird um schließlich in Terror und Weltkrieg zu versinken. Zu offensichtlich ist, was in seiner Studie alles fehlt: Die Brutalisierung von ganz Europa durch den ersten Weltkrieg, Außenpolitik, die internationale Arbeiterbewegung. Arbeiter, Soldaten und Bauern spielen keine Rolle - jedenfalls nie als historische Subjekte. Und Slezkines Portrait der Ideen von Marx, Engels und Lenin ist schlicht armselig: Kaum ein Wort fällt hier über Kapitalismus und Imperialismus, Ausbeutung und soziale Missstände. Zuweilen bekommt man fast das Gefühl, als sei das Streben von Millionen nach Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand nur das abwegige Produkt einer fiebrigen Sektenimagination. John Reed, dem wir einen der besten Augenzeugenberichte über die Revolution verdanken, hätte sich gewundert.
Terror und Weltkrieg
Doch wenn man gerade anfängt, sich ernsthaft zu ärgern, beginnt Slezkine, das Leben im Haus der Regierung zu beschreiben. Und sofort ist man wieder gefangen. Während die Väter und Mütter meist rund um die Uhr in staatlichen Behörden arbeiten, die Lederjacken gegen Anzüge und Kostüme tauschen und allmählich verbürgerlichen, wachsen hunderte Kinder unter der Obhut von bäuerlichen Kindermädchen heran. Viele von ihnen hochbegabte wie Yuri Trifonow. Dann kommen der Große Terror und die Schauprozesse von 1936-38. Slezkines Schilderung der blutigen Hexenjagd auf imaginäre Feinde gehört zum Eindringlichsten, was darüber je geschrieben wurde.
"Im Bolschewismus, genau wie im Christentum und jeder anderen Ideologie ungeteilter Ergebenheit, war es der Gedanke, der zählte. 'Ihr habt gehört, dass gesagt ist: du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch: wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.' Die Austauschbarkeit von Taten und Gedanken war das wichtigste Thema von Radeks Auseinandersetzung mit dem Staatsanwalt Andrej Wyschinskij. Sündige Gedanken zu haben, war der Beweis für die Realität krimineller Taten, gleichgültig ob diese wirklich geschehen waren oder nicht.
A.W.: Waren Sie für eine Niederlage oder für den Sieg der UdSSR?
K.R.: Alle meine Handlungen in diesen Jahren beweisen, dass ich die Niederlage gefördert habe.
A.W.: Diese ihre Handlungen waren bewusst?
K.R.: Ich habe in meinem ganzen Leben - außer im Traum - nie unbewusste Handlungen begangen."
Ein eisiger, irrer Wind weht aus den Verhörprotokollen des NKWD und aus den verzweifelten Briefen, die Angeklagte wie Bucharin an Stalin schrieben. Kommentare sind da fast überflüssig, Slezkines kluge Auswahl der Quellen genügt. Und die unheimlichen Parallelen zu Hexen- und Satanisten-Prozessen aus dem europäischen Mittelalter und den Vereinigten Staaten des späten 20.Jahrhunderts verblüffen. Ähnliches gilt unter ganz anderen Vorzeichen für die phänomenale Selbstlosigkeit, mit der viele Kinder aus dem Haus der Regierung 1941 in den Krieg zogen, um ihre Heimat zu verteidigen. Slezkine zitiert u.a. das bewegende Tagebuch von Nina Kosterina:
"Weißt du noch, Nina Alexejewna, wie du heimlich davon geträumt hast, große, dramatische Ereignisse zu erleben, Stürme und Gefahren? Jetzt hast du es: ein Krieg. Ein schwarzer Geier hat unser Land angegriffen, ohne Warnung aus einer schwarzen Wolkenwand. Nun denn, ich bin bereit. Ich will sein, wo der Kampf stattfindet, ich will an die Front."
Abfall vom Glauben
Nina Kosterina starb im Herbst 1941 vor Moskau. Ihre überlebenden Altersgenossen aus dem Haus der Regierung studierten und stiegen, allen voran Juri Trifonow, in die sowjetische Kulturelite auf. Sie achteten das Andenken ihrer Väter, aber sie teilten ihren Glauben nicht mehr. Auf die Frage, warum es den Bolschewiki nicht gelang, ihren Glauben zu vererben, hat Slezkine zwei Antworten. Die eine ist plausibel, die andere so paradox und verwegen wie das ganze Buch. Im Gegensatz zum chinesischen ging der russische Kommunismus unter, weil sein Sieg 1917 nicht im antikolonialen Kampf um nationale Selbstbestimmung errungen wurde. Das ist ohne Zweifel richtig. Der russische Sozialismus scheiterte aber auch deshalb, so Slezkine, weil die Revolutionäre ihren Kindern im Haus der Regierung Tolstoi, Puschkin und Dickens zu lesen gaben statt Marx, Engels und Lenin. Oder wie Slezkine sagt:
"Das Problem des Bolschewismus bestand darin, dass er nicht totalitär genug war."
Yuri Slezkine wäre wohl nicht Yuri Slezkine, wenn sein hinreißender, verblüffender, ärgerlicher 1.300-Seiten-Wälzer nicht mit einem solchen Paukenschlag enden würde. Wenn Sie also eine knappe, kluge, ausgewogene Darstellung der Revolution suchen: lesen Sie besser Stephen Smiths "Revolution in Russland". Wenn Sie bis über den Kopf eintauchen wollen, dann ist Yuri Slezkine ihr Mann. "Das Haus der Regierung" ist ein rares Buch: durch und durch großartig, obwohl seine zentrale These in die Irre führt.
Yuri Slezkine: "Das Haus der Regierung. Eine Saga der Russischen Revolution."
Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm, Norbert Juraschitz, Karin Schuler
Carl Hanser Verlag, München. 1344 Seiten, 49 Euro.