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Zadie Smith: "Freiheiten. Essays"
Prisma der Gegenwart

"Schreiben existiert an der Schnittstelle dreier recht heikler, unsicherer Elemente: Sprache, Welt und Ich", schreibt Zadie Smith in ihrem neuen Buch "Freiheiten". Die Britin versammelt hier scharfsichtige Texte zu politischen und kulturellen Themen und befragt die Gegenwart auf ungewöhnliche Weise.

Von Anja Hirsch | 20.06.2019
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Prominente Autorin der postkolonialen Literatur (Cover Kiepenheuer & Witsch / Autorenportrait picture-alliance / dpa / Hendrik Schmidt)
Zwei Tage bevor England über den Brexit abstimmte, kam die Schriftstellerin Zadie Smith nach längerer Abwesenheit im Nordwesten Londons, wo sie selbst aufgewachsen ist, an der dortigen Grundschule vorbei. Sie wusste, dass diese Schule, auf die früher auch ihre Tochter ging, gerade von der Schulaufsichtsbehörde hochgestuft wurde - ein Tatbestand, der sie skeptisch macht.
Wie sie die Bürger dieser Gegend kennt, vermutet sie, dass "viele mittelständische und in aller Regel weiße Eltern" das von ihnen empfundene "Risiko" eingehen und extra in den Einzugsbereich der Schule ziehen werden, um ihre Kinder wegen des Qualitätssigels auf diese Schule schicken zu können. Smith weiß auch, wie sich die Gegend dann ändern wird:
"Falls dieser Prozess auch nur ansatzweise so abläuft wie in New York, wird die weiße Mittelstandsbevölkerung immer mehr zunehmen, und die Grenzen des sogenannten "Einzugsbereichs" der Schule werden immer enger werden, bis sie irgendwann, nach etlichen Jahren, nahezu homogen sein wird, mit ein paar multikulturellen Einsprengseln. Das dürfte dann auch der Zeitpunkt sein, zu dem die Aufsichtsbehörde endlich ihre Bestnote vergibt."
Liberale Paranoia?
So in Gedanken, bemerkt Zadie Smith an der Schule, vor der sie steht, schon eine erste Veränderung: Einen Zaun, wo vorher über hundert Jahre lang nur eine niedrige Brüstung war. Pflanzen ranken an ihm hoch. Er versperrt den Blick von der Straße auf den Schulhof und die spielenden Kinder.
Empört schreibt sie eine Mail an den Elternbeirat - und erhält zu ihrer eigenen Überraschung eine maßvolle und höfliche Antwort: Privatsphäre und Luftverschmutzung seien die Gründe für den Zaun gewesen; die Pflanzen sollten den betonlastigen Schulhof weicher machen. "Liberale Paranoia" nennt Zadie Smith selbstkritisch ihr eigenes Verhalten und schämt sich an bisschen für ihre empörte mail.
"Was für eine Geisteshaltung hatte mich bloß dazu veranlasst, eine schlichte kosmetische Veränderung so negativ auszulegen?"
Die Schule, stellt sie fest - eine derzeit erfreulich bunt gemischte Institution - war für sie wohl so etwas wie ein Symbol geworden; eine Kategorie, über deren Funktion und entfesselte Dynamik man gerade jetzt nach dem Brand von Notre Dame wieder vermehrt nachdenkt. Ohne zu werten, hält Zadie Smith im Zusammenhang mit Symbolen erst einmal folgendes fest:
"Und wenn wir in letzter Zeit eines über Großbritannien gelernt haben, dann doch, dass wir Briten uns mitunter sehr eigenartig verhalten, wenn wir zulassen, dass Realien zu Symbolen werden."
Diese scharfsichtige Bemerkung, fast ein Lehrsatz aus der Verhaltenslehre, findet sich im Essay "Zäune: Ein Brexit-Tagebuch", den 2016 auch das Magazin "The New York Review of Books" abdruckte. Pathos, sagt Smith damit indirekt, ist nicht immer die beste Sicht auf die Welt. Und Symbole, so schön sie auch sind, lösen emotionalen Überschwang aus, der die Klarsicht verstellt. Das versteht man sofort, und zwar ohne je Symboltheorien studiert zu haben.
"Meine Beweisführung – soweit vorhanden – ist praktisch immer sehr intim. Ich empfinde das so – Sie auch? Dieser Gedanke beschäftigt mich – und Sie?"
So beschreibt Zadie Smith ihr Vorgehen im Vorwort ihres neuen Essaybands, der einunddreißig Essays versammelt. Nun mögen bei manchen die Alarmglocken schrillen: Das eigene Empfinden als Maßstab nehmen? Vom Privaten ins Allgemeine? Das ist auch eine beliebte Technik von Rechtspopulisten. Wie meilenwert entfernt natürlich Zadie Smith davon ist, erweist sich in der Ermunterung, bitte gerne jederzeit Stellung zu beziehen; aber auch und vor allem im anregenden Schlingern ihrer Essays, das als "dialektisch" im besten Wortsinn zu beschreiben nicht falsch wäre. Das Wort "Essay", jene höchst anspruchsvolle, oft zu Unrecht unterschätzte Form, kommt vom lateinischen Wort "exagium", das "Wägen". Und genau das ist es, was Zadie Smith gut kann.
Sie wägt Empfindungen und Begriffe ab und überlegt, wie sich ihre Bedeutung im Lauf der Zeit verändert haben; beispielsweise die Beschreibung "konservativ", in der einstmals die Bewahrung von Erbe anklingt, das aber heute eher an die Bedeutung "Brandstifter" denken lässt, sagt Zadie Smith und spricht damit aus, was oft übersehen wird: Die deutliche Rassenobsession mancher britischer Politiker, die für den Brexit Stimmung machen. Sie teilt aber nie nur aus, sondern hinterfragt auch sich selbst, Gleichgesinnte und die Art einer möglicherweise fehlgeleiteten Kommunikation, die aufs Recht pocht statt konkret zu handeln:
"Während wir lauthals und zu Recht die irregeleiteten rassistischen Haltungen verteufeln, die Millionen dazu geführt haben, von "denen" zu verlangen, sie sollten "uns" wieder verlassen, könnten wir auch einmal auf die letzten dreißig Jahre zurückblicken und uns fragen, was für Haltungen eigentlich eine ganz andere Klasse von Menschen dazu befähigt haben, heimlich im Hintergrund die Fäden zu ziehen, die sicherstellen, dass "die" und "wir" uns niemals anderswo als im Symbolischen begegnen."
Spaltung der Gesellschaft
'Die' und 'wir' stehen hier wohlbemerkt in Gänsefüßchen, markieren aber die ungewollte Spaltung der Gesellschaft. Das Schulzaun-Beispiel, an dem Zadie Smith ihre Gedanken zum Brexit demonstriert, funktioniert auch deshalb so gut, weil sie dabei eben nicht beim Empfindeln stehen bleibt, sondern die Augen jetzt erst richtig aufreißt. Dass die Schule den Zaun nur kosmetisch verstand, heißt ja noch lange nicht, dass das Gespräch hier aufhört. Im Gegenteil sollte es genau hier anfangen: Im Missverständnis, das wiederum seine Ursachen hat.
Zum Teil hat, was sie schreibt, oralen Charakter und wirkt locker erzählt - was aber nie darüber hinwegtäuscht, dass es um genau die ernsten Themen geht, die Zadie Smith schon lange umtreiben. 1975 in London geboren, als Tochter einer in Jamaika geborenen Mutter und eines weißen Vaters, ist sie das, was ihre beiden tanzbegeisterten Mädchenfiguren aus ihrem 2017 erschienenen Roman "Swing Time" verbindet: Nicht schwarz. Nicht weiß. Sondern etwas dazwischen. Viele ihrer Essays und Romane handeln von Identitätsproblematik und Zugehörigkeitsverwirrung. Sie beschreiben Alltagsrassismus und große Not. Aber auch Freude und die vielen Stadien dazwischen.
Dass Zadie Smith‘ Erzählposition ein Mittendrin ist, aus dem sie herausschaut, zeigt sich im neuen Essayband schon an den Überschriften der fünf Großteile. Sie lauten "In" der Welt, "Im" Publikum, "In" der Ausstellung und "Im" Bücherregal", nehmen öffentliche oder private Erlebnisse zum Anlass oder aber Kunst, Bücher und Filme. Brillant sind die Texte aber auch als Prisma auf die Gegenwart im Spiegel der Geschichte.
Ein Essay beispielsweise analysiert ein Video des Künstlers Mark Bradford. Es heißt "Niagara", und es lohnt sich wirklich, das Video auf Youtube einmal anzuschauen. Die Kamera folgt unerhört lange, ohne dass sonst viel anderes passiert, einem schwarzen Jugendlichen, der auf ganz besondere Weise einen Bürgersteig entlang geht; entspannt, aber etwas exaltiert, manchmal fast hüpfend und in jedem Fall für den Betrachter vollkommen hypnotisierend.
"Man kann gehen, und dann kann man noch tanzen. Zwischen beidem denke ich mir gern eine kurvige Linie, an deren einem Ende das schlicht Zweckgebundene steht und an deren anderem das empörend Unnötige."
Schreiben im Schlendergang
Der Film zitiert den berühmt gewordenen Gang von Marilyn Monroe. Dass es für diese Art, etwas zu übertreiben, auch einen Begriff gibt, erfährt man spätestens jetzt: "Camp", erklärt Zadie Smith, sei die gängige Chiffre dafür, wobei auch ein protziger Hip-Hopper "camp" sein kann, genauso wie Marilyns Schlendergang. Was aber ist das Geheimnis dieses Schlendergangs, der zu solcher Popularität und Glanz führte? Zadie Smith Antwort: Diese Art, mit wenigen Mitteln mehr zu tun als nötig, kommt aus dem Mangel. Man stutzt.
Denn so hat man das sicher noch nicht gesehen. Schnell ist sie dann beim Stolz von Minderheiten, für die sie ihre Stimme erhebt. Auch Zadie Smith "tanzt" beim Schreiben, ohne das Gehen ganz aufzugeben. Sie befragt die Gegenwart und setzt sie auf ungewöhnliche Weise zusammen. Ihre Essays zeugen von Menschenliebe und sind echt - selbst dann, wenn sie einfach nur über die "Liebe zu Gärten" erzählen.
Zadie Smith: "Freiheiten". Essays
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2019.
510 Seiten, 26,- €