Donnerstag, 28. März 2024

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Zanna Sloniowska: "Das Licht der Frauen"
Lemberg im Spiegel der Geschichte

Die ukrainisch-polnische Autorin Zanna Sloniowska erzählt in ihrem Debütroman von vier Frauen, die im ehemaligen Lemberg unter einem Dach zusammenwohnen. Und wie es für ihre multi-nationale Heimatstadt typisch ist, prallen in dem Frauen-Haushalt ganz unterschiedliche Lebensmodelle aufeinander.

Von Marta Kijowska | 05.11.2018
    Ein alter Trabant ist auf dem Dach eines historischen Gebäudes der Stad Lviv (ehemals Lemberg) geparkt
    Schon immer umkämpft: Die ukrainische Stadt Lwiw, früher Lemberg (imago / xArturxWidakx)
    Der Roman von Żanna Słoniowska hat viele Erzählstränge. Auch einen politischen, mit dem der Leser gleich zu Beginn konfrontiert wird: Es ist das Jahr 1988. Das sowjetische Imperium liegt in den letzten Zügen. In Lemberg, dem Schauplatz der Handlung, wird ähnlich wie in anderen Städten um die Unabhängigkeit der Ukraine gekämpft. Bis die Ereignisse eines Tages einen tragischen Höhepunkt erreichen: Marianna, eine Sängerin der Lemberger Oper, die an diesem Befreiungskampf aktiv teilgenommen hat, wird auf offener Straße erschossen. Ihre zu diesem Zeitpunkt elfjährige Tochter – die namenlose Ich-Erzählerin des Romans – weigert sich zwar, an ihrer Beerdigung teilzunehmen, doch sie sieht vom Fenster ihres Hauses aus, wie die Menschenmenge anschwillt und der Trauerzug sich zu einer Demonstration auswächst.
    Die Mutter wird gleich am Anfang erschossen
    "Der Strom unbekannter Köpfe zog vorbei, seufzte, raunte. Jede seiner Bewegungen war an die in mir aufsteigende Angst gekoppelt. Er hatte die Macht, mich zu verschlingen. In der Menge waren schwanger aussehende Frauen mittleren Alters, eingehüllt in wadenlange Mäntel und graue Kopftücher. Dort waren auch schwarz gekleidete Männer mit angelähnlichen Stöcken unter den Armen. Ich konnte mir denken, was das bedeutete. Und zugleich hatte ich keine Ahnung, wer diese Leute waren und was sie mit Mama zu tun haben konnten."
    Eine Frage, mit der die Erzählerin sich nicht lange aufhält, denn der Roman handelt nicht von einer Mutter-Tochter-Beziehung, sondern von vier Frauen aus vier Generationen einer Familie, ihrer Familie. Sie leben alle unter einem Dach, obwohl sie sich weder sehr nahe stehen noch viel Interesse füreinander aufbringen. Und doch gibt es außer ihrer Verwandtschaft noch so einiges, was diese vier Frauen miteinander verbindet: die rebellische Natur, die künstlerische Begabung, der Hang zu schwierigen Entscheidungen, um nicht zu sagen: ein besonderes Talent, unglücklich zu sein.

    Die Älteste, Stanislawa, meist nur "Urgroßmutter" genannt, wollte eigentlich selbst Opernsängerin werden, doch daraus ist genauso wenig geworden wie aus einem erfüllten Privatleben. Verbittert und voller Hass, vegetiert sie in einem Zimmer vor sich hin, in dem Dunkelheit, Unordnung und Gestank herrschen.

    Aba, Stanislawas Tochter, war früher Ärztin. Jetzt ist sie pensioniert und leidet an einer chronischen Gelenkentzündung. Sie hat einen der Liebhaber ihrer dominanten Mutter geheiratet und sich von ihr den Traum, Malerin zu werden, ausreden lassen. Erst deren Tochter, Marianna, gelang es, eine erfolgreiche Künstlerin, nämlich Opernsängerin, zu werden – was die noch junge Erzählerin zu Spekulationen über ihre eigene Zukunft veranlasst.

    "Ausbleibender Erfolg mal ausbleibender Erfolg ergibt Erfolg, wie in der Mathematik. Wir sind wie Matrjoschkas, die eine im Bauch der anderen, wer in welcher, weiß man nicht genau. Man weiß nur, welche lebt und welche nicht."
    Eine polnisch-ukrainische Familie auf Identitätssuche
    Was die vier Frauen zusätzlich verbindet, ist ihre komplizierte familiäre Identität. Urgroßmutter Stanislawa ist Polin. Aba ist sich dieser Herkunft zwar schon nicht mehr ganz sicher, empfindet sich aber ebenfalls noch als polnisch. Die 1988 erschossene Marianna definierte sich klar als Ukrainerin. Und deren erzählende Tochter sieht es als legitim an, von sich zu behaupten, verschiedene Identitäten zu haben. Lebt sie doch in einer Stadt, die jahrhundertelang ein Spielball zwischen etlichen Ländern war, was sich bereits in ihren vielen Namen spiegelt: Lwów, Lviv, Lemberg, Lepolis…

    Die wechselvolle Geschichte Lembergs bildet die zweite Erzählebene des Romans. Allerdings geht es Słoniowska weniger darum, den Charme der alten K.u.K.–Metropole einzufangen – was sie dennoch an vielen Stellen tut –, als darum, die Stadt als einen lebendigen Organismus zu zeigen, der sich immer wieder neu wandelte und neu erfand. Bis zu dem Winter 1999, in dem die politische Situation einen gefährlichen Höhepunkt erreichte: Die Balkone der Lemberger Häuser fingen an, den Passanten auf die Köpfe zu fallen.

    "In jenem Winter zeigte sich, dass die Stadt ihres jahrhundertelangen Wachstums überdrüssig war und ein Prozess des Abrutschens begann, einer unaufhaltsamen Lawine gleich, die den Boden zermalmt und vermischt mit Steinen und Erdklumpen mit sich reißt. Niemand wusste, ob den Balkonen nicht die Dächer folgen würden, und diesen wiederum ganze Häuser, Straßen und Menschen."
    Es gibt noch ein zweites architektonisches Detail in Słoniowskas Roman, das symbolisch für Lembergs Geschichte steht: Eine riesige Glasmalerei, die sich im Haus der vier Frauen befindet. Sie ist elf Meter hoch und nimmt das ganze Treppenhaus ein. In den Augen der Stadtbewohner stellt sie eine Rarität dar, die man pflegen und beschützen muss – vor allem in den Augen von Mikolaj, der einzigen männlichen Figur im Roman. Er unterrichtet als Bildhauer an der Kunstakademie und ist ein intimer Kenner Lembergs, das er der Erzählerin bei vielen Spaziergängen zeigt. Er ist auch derjenige, der ihr die Einzigartigkeit der Glasmalerei, mit der sie aufgewachsen ist, voll bewusst macht.

    "Wie ein Vorhang trennte sie das Innere des Hauses vom Hof, zog sich durch alle Stockwerke von oben nach unten – oder umgekehrt. Wir wohnten im ersten Stock und brauchten nur die Tür zu öffnen, um ihren Mittelteil zu sehen: Reste einer feurigen Unterwelt, aus der ein langer, einsamer Baumstamm herauswuchs, der einen türkisblauen See in der Mitte durchschnitt."
    Sinnbild der Stadtgeschichte? Die Glasmalerei im Treppenhaus
    Die dargestellten Motive ändern sich mit jedem Stockwerk; wenn man auf den Dachboden steigt, sieht man den See "in das Weiß und Lila der Wolken übergehen". Bei Żanna Słoniowska scheint die Glasmalerei als eine Allegorie für das menschliche Schicksal per se zu dienen, mit allen seinen Höhen und Tiefen. Vielleicht auch als Symbol für die Geschichte Lembergs, dieses Schmelztiegels verschiedener Nationalitäten, Weltanschauungen und Lebensformen. Doch man sollte bei diesem preisgekrönten Debütroman auf keiner eindeutigen Interpretation bestehen, da dessen Stärke gerade in der Vieldeutigkeit der Erzählweise liegt. Woraus sich wiederum auch eine kleine Schwäche ergibt: Das letzte Kapitel, das die Autorin erst nachträglich geschrieben hat, handelt nämlich sehr konkret von den Protesten 2013 auf dem Majdan in Kiew, wo unter den Demonstranten auch die Erzählerin zu finden ist. Der Ortswechsel, der Zeitsprung und dieses plötzlich eindeutige Bekenntnis der Hauptprotagonistin zur unabhängigen Ukraine schwächen ein wenig die Wirkung des ansonsten sehr homogenen Buches ab. Alles in allem ist es aber ein eindrucksvoller Roman, der auf subtile Weise den Einfluss der Geschichte auf das Leben des Einzelnen zeigt: Egal, wie lange man daran glaubt, sich der eigenen Herkunft entziehen zu können – irgendwann holt sie einen doch ein.
    Zanna Sloniowska: "Das Licht der Frauen"
    Kampa Verlag, Zürich
    272 Seiten, 22 Euro.