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Zu viel gefördert, zu wenig gefordert

Kinder mit Lernschwierigkeiten müssen gefördert werden. Seit den 60er-Jahren ist das Bewusstsein dafür gestiegen, doch die praktische Hochbegabtenförderung in deutschen Schulen führt noch ein Schattendasein. An der Ludgero Grundschule in Münster jedoch gibt es seit 2001 ein Forder- und Förderprojekt.

Von Markus Dichmann | 15.09.2012
    "Also ich hatte das Thema Kriminalistik. Ich bin darauf gekommen, weil ich früher oft mit meiner kleinen Schwester Detektiv gespielt habe im Garten, und da habe ich mich gefragt, wie finden eigentlich die Kriminalbeamten die Spuren. Und so bin ich auf das Thema gekommen."

    Über Kriminalistik hat Marie ihre Expertenarbeit geschrieben – dazu hat sie einen einstündigen Vortrag gehalten. Im Münsteraner Schloss - im Vorlesungssaal, wo sonst Studenten sitzen. Christina hingegen hat sich für ihre Expertenarbeit für den Storch entschieden.

    "Mein Vater hat mir früher immer Märchen vorgelesen, in denen auch Störche vorkamen. Aber ich wusste nicht sehr viel über die Störche, nur dass sie Frösche fressen. Und dann habe ich mir gedacht: Das kann ich ja nehmen das Thema. Weil ich finde auch, Störche sind sehr schöne Tiere."

    Die beiden sind Schülerinnen der vierten Klasse an der Ludgero Grundschule in Münster. Beide sind Teil des Forder- und Förderprojekts. Insgesamt 22 Kinder verlassen einmal wöchentlich für zwei Stunden den regulären Unterricht, um ein Schuljahr lang an ihren speziellen Expertengebieten zu arbeiten. Das Thema suchen sie sich selbst aus. Sie lesen sich ein, kriegen dafür Arbeitsstrategien zur Hand, üben sich im kreativen Schreiben und auch im öffentlichen Vortrag – inklusive Powerpoint Präsentation. Was sie deshalb im Unterricht verpassen, müssen sie selbstständig nachholen.

    "Also meistens hat das bei mir eigentlich ganz gut geklappt. Also das war ja immer donnerstags, und dann habe ich erst die normalen Hausaufgaben gemacht. Und dann habe ich einfach danach die Sachen aus dem Unterricht gemacht."

    "Also ich habe eben Mathe und Religion verpasst. Und bei Mathe habe ich das eben nach den Hausaufgaben angeschaut. Und bei Religion hat meine Lehrerin gesagt, ich muss mir das nicht anschauen."

    Seit 2001 gibt es das Forder-und Förderprojekt an der Ludgeroschule. Initiiert wurde es von Lehrerin Monika Kaiser-Haas. Und ihre Initialzündung war ein kleiner Junge – schon im Kindergarten war er verhaltensauffällig, und die Erzieherinnen schlugen vor, dass der Kleine vorzeitig eingeschult wird.

    "Sobald der Unterricht intelligent und anspruchsvoll war, passte er auf, seine Augen leuchteten. Und sobald Routineaufgaben kamen … Er schoss gegen die Schultasche, und der Klassenboden war besetzt mit Büchern. Und nun stand ich da und ahnte, dass es nicht an dem Jungen lag, sondern an mir und an meinem Unterricht."

    Ihre Kolleginnen sahen den Kleinen schon auf der Sonderschule.

    "Da sagte mir mein Bauchgefühl: Das machst du nicht."

    Stattdessen wurde der Junge am Centrum für Begabungsforschung in Münster getestet. Ergebnis: Hochbegabung. Lehrerin Kaiser-Haas wollte nun Wege finden, den Kleinen zu fordern.

    "Vier Wochen später kam der Junge mit seinem Vater und einer fast vier Meter hohen Legorakete in den Unterricht, stellte sich wie selbstverständlich vor meine zweite Klasse und hielt frei einen einstündigen Vortrag über Cape Caneveral. Die Kinder klatschten Beifall, der Junge war nicht immer gut angesehen in der Klasse, er wurde auch manchmal sehr schlecht behandelt. Und ich traute meinen Augen und Ohren nicht mehr, weil ich das nicht mehr erwartet hatte, dass das Kind dazu in der Lage war."

    2001 war Kaiser-Haas noch Lehrerin an der Ludgero Schule. Heute ist sie in Pension und arbeitet für die Hochbegabten Betreuung ehrenamtlich. Anders wäre das Projekt wohl nicht möglich, zusätzliche Lehrer- oder Pädagogenstellen gibt es hierfür nicht. Volle Unterstützung gibt es von Schulleiterin Nicole Essing. Auch sie meint, dass an den Schulen zwar viel gefördert, aber nur wenig gefordert wird.

    "Es war lange Zeit so, dass die Begabten in den Hintergrund getreten sind – dass in erster Linie die Schwächen bearbeitet wurden und weniger die Stärken gefordert wurden. Und deswegen ist es einfach wichtig, dass wir die auch mit in den Blickpunkt nehmen."

    Zwar passiert viel im Bereich der Forschung, doch die praktische Umsetzung der Begabtenförderung, so sind sich die Experten einig, die ist in anderen Ländern schon deutlich weiter fortgeschritten. Nicht zuletzt auch, weil die Begabtenförderung in Deutschland immer auch ein Geschmäckle von Elitenförderung trägt.

    Elke Völmicke ist Geschäftsführerin von "Bildung und Begabung", dem Zentrum für Begabtenförderung in Deutschland. 250.000 Schüler erreicht es jedes Jahr mit seinen Projekten. Aus ihrer Sicht sollte man vor allem eins nicht tun:

    "Die Begabungsförderung gegen die Begabtenförderung – im Sinne von Breiten- und Eliteförderung – auszuspielen. Das wäre glaube ich ein großes Missverständnis. Es geht drum, individuell hinzugucken, und entsprechend der jeweiligen Entwicklungsstufe das Richtige zu tun, damit derjenige sich möglichst selbstständig, so gut es eben geht, weiter entwickeln kann."

    Christina und Marie von der Ludgero Schule haben jetzt ein Jahr im Forder- und Förderprojekt geschafft. Die Mehrarbeit ist auch nicht ganz ohne für die Schülerinnen, aber sie wollen weiter machen. Den Stempel Elite, den kennen die beiden nicht.

    "Eigentlich findet meine Freundin das ganz gut, weil ich nachher auch den Vortrag über meinen Storch auch in der Klasse gehalten habe, dann fand sie das auch super spannend."

    "Da haben die mich erstmal alle ganz komisch angeguckt, aber die waren auch stolz auf mich, dass ich mir das zugetraut habe. Und dann haben die mich alle ganz komisch angeguckt, als ich gesagt habe: 'Liebe Damen und Herren.' Aber am Ende haben die dann doch alle geklatscht."