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"Zugang zu den Akten muss immer da sein"

Das Interesse an Akteneinsicht sei weiterhin vorhanden, sagt der Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde, Roland Jahn. Eine Zusammenarbeit mit US-Geheimdiensten gebe es nicht, betonte er.

Roland Jahn im Gespräch mit Martin Zagatta | 27.07.2013
    O-Ton Egon Bahr: "Ich bin dafür, dass jeder, der will, seine Akten einsehen kann, auch über 2019 hinweg. Aber die Behörde selbst muss doch irgendwann mal zu Ende sein! Und bisher tut Herr Jahn so, als würde die Behörde weiterarbeiten können, obwohl sie die Aufarbeitung gar nicht schaffen kann!"

    Martin Zagatta: Wird die Stasi-Unterlagen-Behörde so langsam überflüssig, wie das der SPD-Veteran Egon Bahr schon lange meint? Das Interesse an Einsicht in die Stasi-Akten geht jedenfalls offenbar stark zurück, die Zahl der Anträge ist deutlich gesunken. Warum und welche Folgen das hat, darüber sprechen wir gleich mit dem Chef dieser Stasi-Unterlagen-Behörde, mit Roland Jahn.

    Wird die Stasi-Unterlagen-Behörde so langsam überflüssig? Das können wir jetzt Roland Jahn fragen, den früheren DDR-Bürgerrechtler, der seit Anfang 2011 diese Stasi-Unterlagen-Behörde leitet. Guten Morgen, Herr Jahn!

    Roland Jahn: Schönen guten Morgen!

    Zagatta: Herr Jahn, nach den Zahlen, die Ihre Behörde jetzt vorgelegt hat, gibt es in diesem Jahr deutlich weniger Anträge auf persönliche Akteneinsicht. Ist das der Zahn der Zeit, sind die Menschen jetzt fast 25 Jahre nach dem Fall der Mauer an diesen Stasi-Akten einfach nicht mehr so interessiert? Oder wie ist das zu erklären?

    Jahn: Erst mal ist natürlich ein Rückgang eine ganz normale Sache, weil natürlich gerade die Menschen, die das Bedürfnis haben, in ihre Akten zu schauen, die sich davon betroffen fühlen, natürlich nicht unendlich sind. Und es gibt schon immer Schwankungen. Natürlich, die ersten Jahre waren es enorme Zahlen, im ersten Jahr eine halbe Million Menschen, die in die Akten einsehen wollten. Das ist dann im Laufe der Jahre zurückgegangen. Und wir hatten auch schon Mitte der 2000er-Jahre eine Akteneinsichtsantragszahl von 80.000. Die ist wieder gestiegen auf über 100.000, dann im Jahre 2007, 08, 09. Und ja, im Jahre 2011 ging es dann runter auf 80.000, und dann, was viele nicht für möglich gehalten hatten, im Jahre 2012 noch mal auf 88.000 hoch. So gibt es halt immer Schwankungen und dieses Jahr hat langsam begonnen und es sind diesmal deutlich weniger. Aber es sind immer noch so viel, dass es Tausende sind, die hier den Bedarf haben, in die Akten zu schauen.

    Zagatta: Sie haben in der Vergangenheit ja oft betont, dass das Interesse an diesen Stasi-Akten noch zunehme. Dreht sich das jetzt langsam um, hat sich das langsam überholt?

    Jahn: Das Interesse an den Stasi-Akten ist eigentlich immer vorhanden. Die Frage ist nur, wer will noch mal in seine Akte schauen? Wer nicht schon hineingeschaut hat, der hat erst mal Erkenntnisse, das wird oft noch mal wiederholt nach einigen Jahren, weil wir ja auch neue Akten zusammenstellen, zerrissene Akten zusammensetzen. Und es gibt immer wieder neue Erkenntnisse. Also, in dem Sinne ist das Interesse nicht erloschen. Nur die Zahl derer, die Anträge stellen, um in ihre ganz konkrete Akte zu schauen, die wird natürlich ganz natürlich weniger, weil das Potenzial weniger wird. Aber eins muss man natürlich immer wieder betonen, wir haben Forschung und Medien, die in die Akten schauen, das ist stetig die Zahl. Und wir können es ja alle in der Zeitung lesen, im Fernsehen sehen, die vielen Darstellungen von Eingriffen der Staatssicherheit in das Leben der Menschen, denken wir an die ganze Pharmatestreihe für Westfirmen, die unter der Aufsicht der Stasi stattgefunden hat, das sind alles Erkenntnisse, die wichtig sind.

    Zagatta: Wenn Sie jetzt aber dennoch weniger Anträge haben, muss man bei Ihnen da immer noch so lange warten, wenn man einen Antrag stellt? Das waren ja teilweise Jahre!

    Jahn: Ja, die Verhältnismäßigkeit zwischen Personal und Antragsflut, die ist natürlich eine gewesen, die dazu geführt, dass die Wartezeiten sich teilweise verlängert haben. Wir sind bemüht, täglich hier das Bestmögliche zu leisten und diese Wartezeiten zu verringern. Es ist jetzt schon noch so, dass die Wartezeiten noch teilweise über zwei Jahre sind, wobei man immer wieder sagen muss, es gibt Leute, die haben gar keine Akten, das ist ungefähr ein Drittel der Antragsteller, denen sagen wir sofort Bescheid, da liegt nichts vor. Dann gibt es einige, dort sind Karteikarten vorhanden, das ist wiederum ein Drittel, dort bekommen die Menschen auch sehr zügig Bescheid. Und diejenigen, die doch richtig Akten haben, wo es mehrere Aktenbände zum Beispiel gibt, die müssen dann bis über zwei Jahre manchmal warten, das ist auch ein Drittel der Antragsteller.

    Zagatta: Herr Jahn, jetzt gibt es aber angesichts der zurückgehenden Zahl von Anträgen selbst aus Ihrem Beirat schon die Forderung, die Stasi-Unterlagen-Behörde als selbstständige Behörde aufzulösen. Was sagen Sie dazu?

    Jahn: Die Diskussion um die Existenz der Behörde, die wird ja schon seit Jahrzehnten geführt. Es wird ja immer wieder aus verschiedenen Gründen versucht, hier die Abschaffung der Behörde zu fordern. Behörden sind Dienstleister für die Menschen. Sie sind so lange da, wie sie gebraucht werden. Eins muss man auch deutlich sagen, der Zugang zu den Akten, das Hineinschauen, die Möglichkeit, die muss immer da sein. Aufklärung ist eine Säule dieser Demokratie, und deswegen muss es mir immer möglich sein, in diese Akten zu schauen, sowohl für die persönlich Betroffenen als auch für Wissenschaft und Medien.

    Zagatta: Die Frage ist ja, ob man dazu noch eine eigene Behörde braucht.

    Jahn: Das ist die Frage, aber das ist eine Frage von Strukturen, die gilt es zu besprechen. Das ist dann eine Frage letztendlich von Politik, die dann entscheidet, welche Strukturen sind am besten geeignet, die Dienstleistung für die Bürger zu erbringen. Ich kann nur sagen, die Stasi-Unterlagen-Behörde hat über 20 Jahre lang diese Dienstleistung erbracht, in einer guten Qualität erbracht, sodass die Bürger auch zufrieden sind, und wir können anbieten, diese Arbeit weiter zu machen, solange der Bürger es will.

    Zagatta: Dann liegt ja auch in diesen Tagen eine andere Frage noch ganz nahe: Arbeitet Ihre Behörde auch eng mit US-Geheimdiensten zusammen?

    Jahn: Wir arbeiten überhaupt nicht mit Geheimdiensten zusammen. Wir arbeiten streng nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz und in dem Sinne ist es hier ganz klar geregelt, wie die Aktenherausgabe an wen erfolgt.

    Zagatta: Meldet sich da auch die NSA bei Ihnen regelmäßig?

    Jahn: Bei uns meldet sich keine NSA, um die Akten zu schauen.

    Zagatta: Die amerikanische Botschaft?

    Jahn: Wir arbeiten in dem Sinne nicht mit irgendwelchen ausländischen Diensten zusammen, sondern wir sind die Stasi-Unterlagen-Behörde, die streng nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz arbeitet, dort ist ganz klar geregelt, wer die Akten bekommen kann. Und in dem Sinne ist es uns untersagt, auch fremden Geheimdiensten hier Akten zur Verfügung zu stellen.

    Zagatta: Aber nicht ganz offiziellen amerikanischen Stellen, die Zusammenarbeit gibt es wahrscheinlich, oder da gibt es sicher Anfragen?

    Jahn: Nein, so kann man das nicht sagen. Es ist einfach so, dass die Regelung des Stasi-Unterlagen-Gesetztes, die Akten weg zur Verfügung gestellt werden, das nicht so einfach möglich macht. Es ist so, dass alles, was die Fragen von fremden Geheimdiensten betrifft, wo hat die Stasi sozusagen Erkenntnisse über fremde Geheimdienste, diese Fragestellung wird über das Innenministerium geregelt. Dort werden Akten in dem Sinne dann zur Verfügung gestellt, aber das ist streng geregelt und schränkt uns stark ein.

    Zagatta: Jetzt sollen US-amerikanische Geheimdienste nach dem Mauerfall ganz wichtige Stasi-Unterlagen an sich gebracht haben. Haben Sie die alle zurück oder haben Sie da wenigstens Einblick?

    Jahn: Es ist so gewesen, dass Anfang der 90er-Jahre hier die NSA Akten angefordert hatte über das Innenministerium, wo die Stasi sich Akten der NSA angeeignet hatte. Das ist eine Angelegenheit gewesen, die Anfang der 90er-Jahre geschah. Und wir haben dort, wo es um Stasi-Akten ging, die damals mit herausgegeben worden sind, diese Akten auch zurückbekommen.

    Zagatta: Herr Jahn, die Stasi hat ja auch versucht, Briefe, Telefonate, die ganze Kommunikation zu überwachen. Lässt sich das, zumindest was die Methode angeht, mit der Methode, lässt sich das mit dem jetzt aufgeflogenen Ausspähen durch US-Geheimdienste vergleichen?

    Jahn: Ich warne immer davor, hier Gleichsetzung zu betreiben. Stasi und NSA, das ist Grund was Verschiedenes!

    Zagatta: Das ist klar, ich habe nach der Methode gefragt.

    Jahn: Natürlich, Methoden sind immer etwas, die natürlich losgelöst schon viel oft Ähnlichkeiten haben. Abhören ist Abhören, das kann man nicht verleugnen. Aber entscheidend ist doch, zu welchem Zweck wird abgehört, was wird mit den abgehörten Daten gemacht, das sind die entscheidenden Fragen. Und hier ist der prinzipielle Unterschied zwischen einer Demokratie und einer Diktatur immer wieder zu betonen. Die Stasi ist eine Geheimpolizei einer Partei gewesen, die die Macht erhalten sollte. Menschen sind versetzt worden, Menschen sind zielgerichtet kaputtgespielt worden. Und genau die Menschen, denen es darum ging, ihre Menschenrechte wahrzunehmen. Das ist sozusagen das Wesen einer Geheimpolizei der Diktatur. Der Anspruch zumindest eines Geheimdienstes einer Demokratie ist es, die Demokratie zu schützen. Wenn dann was nicht richtig läuft, dann ist die Demokratie stark genug, so hoffe ich zumindest, hier das so zu organisieren, dass die Missstände aufgedeckt werden und verändert werden. Und da sind wir in der Diskussion. Und die gilt es zu führen. Und dabei hilft uns der Blick sozusagen in die Diktatur, hilft uns, die Sinne zu schärfen, ja, Diktatur begreifen und Demokratie zu gestalten.

    Zagatta: Das wollte ich Sie gerade fragen, was empfinden Sie denn da als früherer Bürgerrechtler in und aus der DDR? Hat Sie die Art und Weise, wie Amerikaner und Briten offenbar da die Kommunikation in Deutschland überwachen, hat Sie das entsetzt?

    Jahn: Selbstverständlich entsetzt es mich, wenn es so sein sollte, dass Grundrechte der Bürger missachtet worden sind. Es geht immer wieder um die Menschenrechte, es geht immer wieder um die Grundrechte von Bürgern, die zu schützen sind. Dazu ist unser Staat da, dazu ist auch der amerikanische Staat da. Und alle Eingriffe in Grundrechte müssen ganz klar geregelt sein. Natürlich gibt es Eingriffe in Grundrechte, um zum Beispiel Terrorismus abzuwehren. Aber das muss ganz klar rechtsstaatlich geregelt sein. Ein Geheimdienst muss nach rechtsstaatlichen Regeln arbeiten. Und das muss auch entsprechend kontrolliert werden. Das ist der Maßstab, den wir in der Demokratie anlegen, und daran muss auch die Demokratie sich messen lassen.

    Zagatta: Aus Ihrer Sicht, hätte sich die Bundesregierung da nicht viel energischer äußern müssen, erst recht, wenn die Kanzlerin ja selbst aus der DDR kommt?

    Jahn: Ich denke, hier sind durchaus klare, deutliche Worte auch gefallen. Und ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung alles tut, hier Aufklärung zu betreiben und auch den Amerikanern die Grenzen zu setzen.

    Zagatta: Herr Jahn, der jüngste "DeutschlandTrend" der ARD sagt aus, die Bundesregierung und auch Frau Merkel sind überhaupt nicht glaubwürdig bei der Aufklärung der NSA-Affäre. Aber die meisten gehen davon aus, Frau Merkel wird trotzdem Kanzlerin bleiben. Dokumentiert das auch, so hart es vielleicht für jemanden, wie Sie sein muss, dass die Deutschen auch solche Übergriffe von Geheimdiensten letztlich gar nicht so wichtig nehmen?

    Jahn: Das würde ich nicht sagen. Wir merken es ja gerade in der Auseinandersetzung mit dem Thema Stasi, wie offen die Menschen dafür sind, sich auseinanderzusetzen damit, wo Staat in die Rechte der Bürger eingreift. Und ich merke es gerade auch bei Diskussionen in Schulklassen: Die Sensibilisierung der jungen Menschen über das Thema Stasi für die Gefahren der Freiheit, die ist durchaus groß. Weil die Diskussion, die wir dann, wenn wir über das Thema Stasi diskutieren, über Datenmissbrauch im Internet führen, die ist sehr intensiv und sehr emotional auch von den Schülern geführt, weil es sie selbst betrifft. Und daran merke ich, dass durchaus die Probleme ernst genommen werden, auch gerade die Diskussion jetzt um das Wirken der NSA.

    Zagatta: Roland Jahn, der Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde. Herr Jahn, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!

    Jahn: Aber bitte schön!

    Zagatta: Schönen Tag!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.