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Zukunft des Militärbündnisses
"Die NATO gibt aktuell ein sehr gespaltenes Bild ab"

Beim Thema Nordsyrien könne man wie Frankreichs Präsident Macron in der Tat das Gefühl haben, die NATO sei "hirntot", sagte der Konfliktforscher Matthias Dembinski im Dlf. Aber wenn es um kollektive Verteidigung gehe, sei das westliche Bündnis "sehr agil und erfindet sich neu".

Matthias Dembinski im Gespräch mit Stefan Heinlein | 04.12.2019
US-Präsident Donald Trump und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron sitzen nebeneinander. Macron gestikuliert und Trump schaut ratlos.
US-Präsident Donald Trump und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron beim Nato-Gipfel nahe London. (dpa / AP / Evan Vucci)
Stefan Heinlein: Hirntot oder doch quicklebendig. Im Vorfeld des NATO-Jubiläums in London pendelte die Debatte um die Zukunft der Allianz zwischen diesen beiden Extremen. Hinzu kam der Schlingerkurs des US-Präsidenten mit Blick auf die NATO. Nicht lange her sein Urteil, die NATO sei überflüssig und obsolet. Dann zuletzt präsentierte sich Donald Trump wieder als oberster Fan der Allianz. Heute Mittag geht das Jubiläumstreffen zu Ende. Eine gemeinsame Abschlusserklärung ist bereits in Eckpunkten bekannt.
Mitgehört hat Matthias Dembinski von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung. Ich grüße Sie, Herr Dembinski.
Matthias Dembinski: Hallo! - Guten Tag.
Heinlein: Hirntot oder quicklebendig - was ist Ihre Diagnose zum Zustand der NATO im Alter von 70 Jahren?
Dembinski: Die NATO gibt aktuell ein sehr uneinheitliches oder gespaltenes Bild ab. Alles was den Artikel fünf, kollektive Verteidigung angeht, hat man das Gefühl, sie ist in der Tat sehr agil und erfindet sich neu - und das interessanterweise auch unter Führung der USA. Auch da gibt es einen Gegensatz zwischen der früheren Einschätzung von Trump, die NATO ist obsolet, und dem, was die USA tatsächlich machen, wenn es darum geht, die osteuropäischen Staaten rückzuversichern und zu zeigen, dass die NATO militärisch auch an dieser Ostflanke im Baltikum präsent ist.
Andererseits: Was die politische Konsultation angeht, hat man in der Tat das Gefühl, die NATO ist hirntot, denn Nordsyrien hat das wie in einem Brennglas auf den Punkt gebracht. Da handeln die USA und die NATO-Partner Türkei und USA und das Handeln hat ganz gravierende Rückwirkungen auf Westeuropa, aber es fand so gut wie keine Konsultation statt.
In den 1950er-Jahren befand sich NATO in ähnlicher Situation
Heinlein: Militärisch stark, aber strategisch-intellektuell schwach? Ist das Ihre Diagnose?
Dembinski: Das würde es auf den Punkt bringen.
Heinlein: Hat es denn Präsident Macron tatsächlich geschafft, mit seiner drastischen Hirntot-Aussage die NATO-Partner wieder ein wenig aufzuwecken? Wird tatsächlich wieder nachgedacht über die strategische Ausrichtung der Allianz in diesem Jubiläumsjahr und darüber hinaus?
Dembinski: Macron hat provoziert. Heiko Maas hat diese Provokation aufgegriffen und versucht, es konstruktiv zu wenden mit dem Vorschlag, ein Expertengremium einzusetzen und einfach mal darüber zu reflektieren, wie sich die NATO auch politisch aufstellen möchte und wie sie die Konsultationen verbessern kann.
Das ist ganz interessant, denn auch da gibt es ein Vorbild. In den 1950er-Jahren gab es eine ganz ähnliche Situation. Auch da hat die NATO militärisch funktioniert, aber politisch nicht. Dann hat die NATO damals eine Gruppe von, wie sie sagten, drei weisen Männern initiiert, die Reformvorschläge vorgelegt haben über die Verbesserung der politischen Konsultationen innerhalb der NATO.
Nato-Flagge am 70. Jahrestag der Gründung der Organisation bei einer Zeremonie in Kopenhagen, Dänemark
NATO-Treffen in London - Eine Allianz sucht ihre Identität
Die NATO feiert in diesem Jahr ihr 70-jähriges Bestehen. Zur Zeit überwiegen allerdings die Differenzen innerhalb der Militärallianz. Einzelne Mitgliedstaaten haben das Bündnis heftig kritisiert. Das Jubiläumstreffen in London soll offenbar einen Reflexionsprozess einleiten.
Heinlein: Dieses Expertengremium, von Heiko Maas vorgeschlagen, das wird es nicht geben, zunächst jedenfalls nicht, sondern Generalsekretär Robertson soll Vorschläge machen - jetzt zitiere ich aus der Abschlusserklärung - für einen vorwärts gerichteten Reflexionsprozess. Herr Dembinski, können Sie damit etwas anfangen, oder sind das nur Worthülsen, dieser Reflexionsprozess?
Dembinski: Es ist abgeschwächt. Es ist auch deshalb abgeschwächt, weil jetzt der Generalsekretär selber die Kontrolle über diesen Prozess hat. Macron selber wollte ja ein unabhängiges Expertengremium. Von daher ist der ursprüngliche Vorschlag oder dieser Vorstoß von Macron zwar aufgenommen worden, aber deutlich weichgespült worden, und man wird sehen, was dabei rauskommt.
Heinlein: Wir haben jetzt über Macron oder Heiko Maas geredet. Wird es an dieser Stelle aber nicht Zeit, Donald Trump einmal zu loben? Denn er hat ja mit seiner steten Kritik an den Verteidigungsausgaben nicht nur von Deutschland jetzt dafür gesorgt, dass tatsächlich wieder mehr Geld für Rüstung in die Hand genommen wird.
Dembinski: Ob das wirklich auf Trump zurückzuführen ist oder nicht, das ist schwer zu sagen. Der Trend der Steigerung der Verteidigungsausgaben fing bereits 2014 an, nach der Ukraine-Krise, als von Trump noch gar keine Rede war, und im Grunde setzt sich das fort. Jetzt den Faktor Trump da zu isolieren, ist außerordentlich schwierig.
Es gab ja - Sie wissen das - in der deutschen Debatte durchaus auch das Argument, für Donald Trump erhöhen wir definitiv nicht unsere Verteidigungsausgaben. Von daher, glaube ich, wirkt Trump an dieser Debatte ein bisschen ambivalent und zwiespältig.
"Europa muss viel mehr für seine eigene Sicherheit tun"
Heinlein: Ambivalent ist das Stichwort, Herr Dembinski. Sie werden sich erinnern: 2018 hat Donald Trump ja die US-Mitgliedschaft in der NATO in Frage gestellt. Hat das den europäischen NATO-Partnern etwas Schrecken eingejagt und letztendlich tatsächlich dafür gesorgt, dass man mehr Geld für die eigene Rüstung, für die eigene Verteidigung in die Hand nimmt?
Dembinski: Zunächst einmal hat es dafür gesorgt, dass sich die Europäische Union in diesem Feld versucht, als Spieler zu etablieren, und zwar viel stärker als früher. Die Europäische Union hat Dinge in die Hand genommen und Dinge angestoßen, die vor Trump in dieser Form eigentlich gar nicht denkbar waren. Das gilt insbesondere für das Vorhaben, die Rüstungskooperation und die Streitkräftezusammenarbeit stärker europäisch zu koordinieren. Das ist Reaktion auf Trump, aber natürlich auch eine Reaktion auf die längerfristigen strategischen Entwicklungen. Aus Sicht der USA, Trump hin oder Trump her, ist Europa letztlich nicht mehr der wichtige, der entscheidende, der ausschlaggebende Kontinent wie vor 1990. Da verlagern sich die Aufmerksamkeiten längst in Richtung Ostasien und Europa ist da bloß noch der Appendix in gewisser Weise.
Heinlein: Wie bewerten Sie denn insgesamt diesen Schlingerkurs des US-Präsidenten mit Blick auf die NATO? Kommt das aus dem Bauch heraus, seine Bemerkungen, oder glauben Sie, dass letztendlich doch eine strategische Überlegung dahinter steckt?
Dembinski: Trump und seine Motivationen zu interpretieren, würde ich mir nicht zutrauen, oder zu erklären, würde ich mir gar nicht zutrauen. Mein Gefühl wäre, dass da viel Impulsivität dabei ist und dass da relativ wenig Beratung und relativ viel aus dem Bauch heraus passiert.
Heinlein: Können sich denn die europäischen NATO-Länder weiter auf den Schutz der USA verlassen, oder muss die Debatte - die hat ja bereits begonnen - um den Aufbau einer eigenständigen europäischen Verteidigungsbereitschaft fortgesetzt werden?
Dembinski: Wie gesagt: Auch über den Faktor Trump hinaus verschieben sich die Gewichte, und deshalb muss Europa viel mehr für seine eigene Sicherheit tun. Trump hat diesen Trend noch einmal forciert. Er hat die Unsicherheiten erhöht. Aber die bestehen auch ohne ihn. Die Europäer haben diesen Ball aufgegriffen. Sie haben mit der neuen globalen Strategie und dem Versuch, das umzusetzen, auch die ersten Schritte getan, und da muss man mal schauen, wie das weitergeht.
Irgendwann muss sich Erdogan entscheiden
Heinlein: Zur neuen Strategie gehört ja auch, dass in dieser Abschlusserklärung erstmals China erwähnt wird als militärische Bedrohung. Wird das dazu führen, dass die Reihen innerhalb der NATO wieder geschlossen werden und Europäer und Amerikaner gemeinsam sich aufstellen gegenüber China?
Dembinski: Mein Gefühl ist, dass es den Europäern darum geht oder gehen wird und gehen sollte, in diesem heraufziehenden oder sich andeutenden neuen Globalkonflikt zwischen den USA und China Handlungsoptionen zu gewinnen, Eigenständigkeit zu gewinnen, nicht sich sofort automatisch auf die Seite der USA zu schlagen, und auch dazu bräuchte es viel mehr europäische Geschlossenheit.
Heinlein: Kurz noch zum Schluss, Herr Dembinski, müssen wir reden über Erdogan, den türkischen Präsidenten. Er hat ja auch im Vorfeld mit seiner Drohung, die NATO-Verteidigungspläne für Osteuropa zu blockieren, für Schlagzeilen gesorgt. Ist Erdogan mit seiner Kurden-Politik dauerhaft möglicherweise eine Belastung für die westliche Verteidigungsallianz?
Dembinski: Erdogan ist ein ganz schwieriger Partner. Das ist übrigens nichts Neues. Die Türkei war schon immer problematisch. In den 1980er-Jahren standen zwei NATO-Staaten, Griechenland und die Türkei, kurz vor einem Krieg. Das muss man sich auch mal wieder in Erinnerung zurückrufen. Aber Erdogan ist schwierig, aus verschiedensten Gründen, und irgendwann muss sich wahrscheinlich auch Erdogan fragen, ob die Türkei tatsächlich ein Teil der NATO bleiben will, Mitglied der NATO bleiben will, oder einen ganz unabhängigen Schlingerkurs in Zukunft fahren möchte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.