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Zukunft des Musikjournalismus
"Niemand kann ganz objektiv sein, wenn es um Musik geht"

Für den US-amerikanischen Musikkritiker ist es notwendig, Musik aus ihrem Kontext heraus zu verstehen. Sie sollte nicht als Kunst behandelt werden, die nur in ihrer Sphäre agiere, sagte Ross im Dlf. Zudem müsse die eigene Persönlichkeit in Texten gezeigt werden, denn das fessele die Leser.

Alex Ross im Gespräch mit Marie König |
    Zwei Violinisten in einem Konzert
    "Klassische Musik ist ein Geschäft, ein sehr großes Geschäft. Und das sollte man mit Vorsicht und Skepsis betrachten", sagte Alex Ross im Dlf (picture alliance / VisualEyze | Felbert+Eickenberg)
    Alex Ross ist US-amerikanischer Musikkritiker und hat für die "New York Times" gearbeitet, bis er 1996 zum Magazin "The New Yorker" gewechselt ist. Ross hat zudem mehrere Bücher über klassische Musik geschrieben - unter anderem "The Rest is Noise: Das 20. Jahrhundert hören".
    Musikkritiker Alex Ross in einem schwarzen Anzug und weißen Hemd im Jahr 2013
    Musikkritiker Alex Ross im Jahr 2013 (picture alliance / dpa - Toni Albir)
    Marie König: In Ihren Büchern gelingt es Ihnen, einen hohen wissenschaftlichen Standard mit einem ganz persönlichen Zugang zu verbinden. Wie machen Sie das?
    Alex Ross: Ich denke nicht so viel darüber nach, ich habe keinen genauen Plan, was ich da tue. Mir kommt es so vor, als würde sich dieser Ansatz von ganz alleine ergeben: Zunächst wird die Musik selbst genau beobachtet und mit einem technischen Vokabular beschrieben – wenn es um rein musikalische Dinge geht. Und diese Beobachtungen werden dann verwoben mit einer größeren historischen und kulturellen Perspektive. Aus meiner Sicht ist es notwendig, Musik aus ihrem Kontext heraus zu verstehen und sie nicht als Kunst zu behandeln, die nur in ihrer eigenen Sphäre agiert. Und dann bringe ich das Persönliche mit hinein, was meiner Meinung nach unerlässlich ist. Niemand kann ganz objektiv sein, wenn es um Musik geht. Und deshalb denke ich, ist es nur ehrlich, das auch in meine Texte zu integrieren.
    König: Aber wie kombinieren Sie das mit der neutralen Haltung, die für den Journalismus auch notwendig ist?
    Ross: Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich glaube, man muss das Mittelmaß finden zwischen einer sehr ernsten, pseudo-objektiven Erklärung, was passiert ist und den ausschließlich subjektiven Eindrücken. Es ist ein permanentes Ringen. Ich versuche immer, so ehrlich wie möglich mit meinen Eindrücken in diesem Moment zu sein - und sie klar und leidenschaftlich zu vermitteln. Gewissermaßen ist die journalistische Aufgabe, ganz akkurat zu berichten, was ich wahrgenommen habe. Das ist manchmal eine überraschend schwierige Aufgabe. Und eine seltsame Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
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    "Klassische Musik ist ein sehr großes Geschäft"

    König: Verstehen Sie sich selbst als Anwalt für die Musik?
    Ross: Teilweise, ja. Ich bin in einer Umgebung aufgewachsen, in der klassische Musik nicht sehr hochgeschätzt wurde. Ich fühlte mich isoliert, denn ich mochte nur klassische Musik. Ich interessierte mich nicht für andere Musikstile. Dadurch war ich nicht sehr beliebt in der Schule, aber gleichzeitig fühlte ich das brennende Verlangen, meine eigene Passion für diese Musik zu kommunizieren und meine Freunde zu bekehren. Dieses Verlangen, sich für die Musik an sich einzusetzen, von Anfang an - das treibt mich immer noch an. Ich glaube einfach, das Publikum für diese Musik sollte größer sein. Ich glaube, dass es viele Missverständnisse und Irrtümer darüber gibt, was klassische Musik ist und worum es dabei geht. Ich versuche, diese Irrtümer zu überwinden – und nichts macht mir mehr Spaß. Aber ich fühle mich nicht wie ein Anwalt, wenn es um die Institutionen und die einzelnen Künstlerinnen und Künstler geht.
    Klassische Musik ist ein Geschäft, ein sehr großes Geschäft. Und das sollte man mit Vorsicht und Skepsis betrachten. Daher denke ich, dass ein Musikkritiker auf keinen Fall zu unterstützend und unkritisch sein sollte. Denn das richtet auch großen Schaden an, wenn es um die großen Institutionen geht, und ihre riesigen Budgets und ihre Macht im Kulturbetrieb.
    König: Was würden Sie sagen, ist der größte Unterschied zwischen Musikjournalismus in Deutschland und den USA?
    Ross: Ich glaube, in Amerika gibt es einfach weniger davon. Zurzeit existieren nur fünf Zeitungen in ganz Amerika, die eine Vollzeitstelle für Musikkritik haben. Das ist sehr wenig. Es gibt in den USA große Metropolen, in denen niemand darüberschreibt, was in den Kulturinstitutionen passiert. Und niemand beklagt den Verlust der Kulturjournalistinnen und -journalisten mehr als die Institutionen vor Ort - auch, wenn sie vielleicht in der Vergangenheit jahrelang Schwierigkeiten mit den Kritikern hatten. Ich habe den Eindruck, dass es in vielen deutschen Städten immer noch Kritiker gibt, die diese wichtige vermittelnde Rolle haben.
    Außerdem glaube ich, dass es im deutschen Musikjournalismus ernsthafter zugeht, und die Musik detaillierter kommentiert wird. Aber es gibt auch in Amerika exzellente Kritikerinnen und Kritiker, daher denke ich nicht, dass es einen großen Unterschied in der Qualität und der Ausbildung der Journalistinnen und Journalisten gibt. Es existieren natürlich institutionelle und kulturelle Unterschiede, wie Menschen über Musik schreiben. Andererseits gibt es natürlich auch in Deutschland sehr verschiedene Arten der Musikkritik. Daher würde ich ungern eine generelle Aussage über die gesamte Szene machen.
    Verschwommen lässt sich im Hintergrund ein Orchester erahnen. Davor der Hals eines Instruments.
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    "Man braucht jemanden, der diese Flut von Informationen filtert"

    König: Aber die Finanzierung macht doch auch einen großen Unterschied. Eine öffentlich-rechtliche Finanzierung der Kulturszene gibt es in den USA nicht. Haben Sie das Gefühl, Sie müssen daher mehr für die Relevanz Ihrer Themen kämpfen?
    Ross: Ich habe großes Glück bei "The New Yorker", wo ich das absolut nicht muss. Die Herausgeber des Magazins glauben, dass klassische Musik Teil des Inhalts sein sollte und haben mich sehr unterstützt, auch wenn ich manchmal etwas esoterischer unterwegs war. Ich muss nicht immer über Mozart, Beethoven, Lang Lang oder Renée Fleming schreiben. Die meisten meiner Kollegen in den USA haben nicht dieselbe Freiheit. Die verbleibenden Publikationen stehen unter immensem finanziellem Druck. Vor diesem Hintergrund hat die Musikkritik gelitten, ebenso wie jede andere Kritik: Literatur, Film, auch Popmusik.
    Und es scheint eine Abwehrhaltung zu geben gegen die Idee der Kritik an sich, die ich nicht verstehe. Die Leute denken, dass die kritische Stimme ersetzt oder überflüssig wurde, weil wir jetzt in einer Zeit leben, in der jeder online kommentieren, die eigene Meinung preisgeben oder auf Amazon Sterne vergeben kann. Aber für mich beseitigt das keineswegs die Notwendigkeit, eine Kritikerin oder einen Kritiker zu haben. Man braucht jemanden, der diese Flut von Informationen filtert, und die Leser von einer Richtung in die andere führt. Ich glaube, diese Rolle war noch nie so wichtig wie jetzt, in so einem übersättigten digitalen Umfeld.
    König: Was wäre Ihr Wunsch für die Zukunft des Musikjournalismus?
    Ross: Es geht nicht nur um den Musikjournalismus, sondern um den Journalismus überhaupt. Die Ereignisse in diesem Land, die in den vergangenen Jahren zum Horror eines Donald Trump geführt haben, werden vielleicht einige Menschen in den Medien dazu bringen, sich selbst und ihre Prioritäten zu überprüfen. Und sich vielleicht wegzubewegen von dieser Philosophie, dass die Themen, die die meisten Klicks bekommen, die Wichtigsten sind – und gewissermaßen die einzigen, über die man berichten sollte. Das ist sehr, sehr gefährlich.
    Die Idee einer Publikation, die sich behauptet und deutlich sagt: Daran glauben wir, und manche unserer Themen werden eine große Öffentlichkeit erzeugen, und andere nicht. Dennoch glauben wir, dass alles davon wichtig ist und eine ausgewogene Perspektive auf die Welt bietet. Und das beinhaltet auch die Künste, die kein Massenpublikum anziehen. Aber sie haben eine große Geschichte und spielen eine wichtige Rolle in der gegenwärtigen Kultur.
    Der deutsche Autor, Univ.-Prof. Dr. phil. Holger Noltze, aufgenommen am 14.03.2013 in Leipzig (Sachsen) auf der Buchmesse. Foto: Marc Tirl | Verwendung weltweit
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    "Ich möchte von jemandem lesen, der seine Mission mit Nachdruck verfolgt"

    König: Würden Sie mir zum Schluss noch sagen, welche fünf Attribute Ihrer Meinung nach guten Musikjournalismus kennzeichnen?
    Ross: Zuallererst braucht man das Wissen und die Erfahrung, eine musikalische Ausbildung. Stil ist auch sehr wichtig. Ich glaube, eine Kritikerin, ein Kritiker muss einen markanten und eleganten Stil haben, in dem er oder sie die eigenen Eindrücke schildert. Und man braucht in gewisser Weise eine Mission. Wenn ich etwas von jemandem lese, die oder den ich noch nicht kenne, frage ich mich: Was treibt diese Person an? Woran glaubt sie?
    Dann braucht man eine gewisse Fairness und Demut. Ich möchte von jemandem lesen, der seine Mission mit Nachdruck verfolgt, aber nicht mit Arroganz. Ich möchte als Leser nicht das Gefühl haben, dass mein Eindruck, wenn er sich von dem geschilderten unterscheidet, nicht mehr zählt. Und damit zusammenhängend, zu guter Letzt: eine Persönlichkeit. Man sollte sich über die Zeit hinweg stückweise offenbaren, seine eigene persönliche Perspektive zeigen. Das hat die Kraft, die Menschen zu fesseln. Und man selbst kann die eigenen Ideen besser kommunizieren, wenn man weiß, warum einem die Sache etwas bedeutet und wie sie mit der eigenen Persönlichkeit zusammenhängt - mit dem, wie man als Mensch in der Welt steht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.