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Zum Tod von Kiran Nagarkar
Das Leben nach der Kolonialzeit

Der indische Schriftsteller Kiran Nagarkar hatte eine große Leserschaft in Deutschland. Am 5. September ist er im Alter von 77 Jahren in Mumbai gestorben. Er war "einer der bedeutendsten Autoren des postkolonialen Indien", sagte Literaturkritikerin Sigrid Löffler im Dlf.

Sigrid Löffler im Gespräch mit Maja Ellmenreich | 09.09.2019
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Der indische Schriftsteller Kiran Nagarkar ist am 5. September mit 77 Jahren in Mumbai gestorben (A1 Verlag / Marco Secchi)
Der indische Roman-Schriftsteller, Dramatiker und Drehbuchschreiber Kiran Nagarkar, der am vergangenen Donnerstag im Alter von 77 Jahren in seiner Geburtsstadt Mumbai starb, war einer der bedeutendsten Autoren des post-kolonialen Indien, neben Salman Rushdie, Arundhati Roy, Aravind Adiga, Amitav Gosh oder Anita Desai. Genau wie sie schrieb er sein literarisches Werk hauptsächlich auf Englisch.
Vom Werbetexter zum Schriftsteller
Nagarkars Werk ist sehr vielfältig und sehr unterschiedlich im Erzählstil, in den literarischen Genres, in den Stoffen - umkreist aber ein Hauptthema: die Lebenswirklichkeit Indiens nach der Unabhängigkeit, zwischen Großstadt-Slums und Dorfleben, zwischen Bollywood und dem Aufkommen von religiösem Extremismus unter Muslimen und Hindus gleichermaßen, bis hin zu islamistischem und hinduistischem Terror. "Eigentlich geht es um die Pervertierung des Religiösen", so Literaturkritikerin Sigrid Löffler.
Obwohl persönlich ein Agnostiker, war Nagarkar sein Autorenleben lang fasziniert von Religion, von deren Spiritualität und Irrationalität. Davon zeugen seine Romane "Gottes kleiner Krieger", ein spiritueller Polit-Thriller, und "Krishnas Schatten", ein Historien-Epos um die Prinzessin Mirabai aus dem 16. Jahrhundert, eine Mystikerin und Gottesschwärmerin und eine der größten Dichterinnen Indiens.
Nagarkar entstammte einer Mittelschicht-Familie aus dem Bundesstaat Maharashtra, ging in Pune und Mumbai aufs College und schrieb zweisprachig: Er begann seine literarische Karriere in seiner Muttersprache Marathi, ehe er ins Englische wechselte. Lange Jahre brachte er sich mühsam als Filmkritiker und Werbetexter durch, da sein erster, 1974 auf Marathi geschriebener Roman "Saat Sakkam Trechalis" (2007 auf Deutsch erschienen unter dem Titel "Sieben mal sechs ist 43") zwar wegen seiner innovativen und übermütigen Sprachlust sehr gerühmt, aber kaum verkauft wurde.
Um eine größere Leserschaft zu erreichen, begann er auf Englisch zu schreiben. Dazu Sigrid Löffler: "Er hat mir mal gesagt: 'Die einheimischen Sprachen sind auf dem Rückzug. Englisch ist die Zukunft der indischen Literatur'. Und in der Tat kann man das ja auch überprüfen, dass das stimmt, denken Sie an Salman Rushdie und Arundhati Roy."
Übervölkerung, Korruption, organisierte Kriminalität
Gleich sein erster auf Englisch geschriebener Roman "Ravan & Eddie" brachte Nagarkar 1994 den literarischen Durchbruch. Das Buch ist ein Schelmenroman und eine Pubertäts-Burleske rund um zwei indische Lausbuben aus einer der ärmlichen Mietskasernen in Bombay, die wegen der Religion keine Freunde werden können, da ihre Mütter verfeindet sind. Ravan ist ein Hindu-Junge, Eddie ist der Spross einer indisch-katholischen Familie aus der portugiesischen Provinz Goa.
Der Roman erzählt sehr genau von den ethnischen, religiösen und sozialen Konflikten, mit denen die städtischen Slums zu kämpfen haben. Obwohl der Roman im Bombay der 1960er Jahre spielt, lange vor der Umbenennung der Stadt in Mumbai, deutet sich der künftige Moloch, die menschenverschlingende Mega-City von heute bereits an. Auch Nagarkars Roman-Bombay kämpft schon mit Übervölkerung, Korruption, organisierter Kriminalität, Bandenkriegen und Verkehrsinfarkt.
Von Nagarkars acht Romanen sind die ersten fünf alle auf Deutsch erschienen, in dem ambitionierten kleinen Münchner A1 Verlag. Als der Verleger in Rente ging und den Verlag einstellte, verlor Nagarkar seinen deutschen Markt. Seine letzten drei Romane sind daher nicht auf Deutsch erschienen.