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Zum Tod von V.S. Naipaul
Der Unbeugsame

Der 1932 auf Trinidad geborene Literaturpreisträger V.S. Naipaul machte es Zeitgenossen nicht leicht, ihn zu mögen. Er war ein Misanthrop, Frauen-Verächter und schrieb düster-kritisch über die Dritte Welt. Warum seine Bücher dennoch zur Weltliteratur gehören, erzählte die Literaturkritikerin Sigrid Löffler im Dlf.

Sirgrid Löffler im Gespräch mit Gisa Funck | 13.08.2018
    Der Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul
    Der Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul ist im Alter von 85 Jahren in London gestorben. (picture alliance / empics / Chris Ison)
    Gisa Funck: Hallo Frau Löffler, Sie haben den englischsprachigen Schriftsteller V.S. Naipaul, der 2001 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, in Ihrem Buch "Die neue Weltliteratur" von 2013 als wichtigen Türöffner für eine neue postkoloniale Literatur unserer globalisierten Welt bezeichnet. Warum?

    Sigrid Löffler: Ja, er war gewiss einer der Impulsgeber für mein Buch, auch einer der Kronzeugen für die postkoloniale Welt mit seinen großen Reiseberichten über Afrika, Asien, die Karibik, Indien und die islamische Welt. Das hat mir die Augen geöffnet. Naipaul hat mir eigentlich mit seinen Büchern erstmals eine Vorstellung gegeben davon, was Migration bedeutet. Dass es Millionen entwurzelter, zum Teil auch vertriebener Menschen gibt, die über den Globus irren, auf der Suche nach einem besseren Leben. Und durch ihn hatte ich erstmals einen deutlichen Eindruck von diesen Wanderungsströmen, kreuz und quer durch Afrika, Asien, Europa und Amerika. Das verdanke ich ihm - und insofern war er wichtig für mein Buch über die neue Weltliteratur.

    Funck: V.S. Naipaul wurde 1932 als Sohn bettelarmer, indischer Einwanderer auf der Insel Trinidad in der Karibik geboren. Und er suchte dann 1950, also schon mit 18 Jahren, das Weite. Und ging als Oxford-Stipendiat nach Großbritannien, um danach nie wieder dauerhaft in seine alte Heimat zurückzukehren. Und in den 50er Jahren wurde er dann zunächst mit sehr satirischen oder geradezu hämischen Romanen über das Leben in der Karibik bekannt Das waren Romane wie"Der mystische Masseur" oder "Wahlkampf auf karibisch". Da zeigt sich ja ein auffällig kritischer, um nicht zu sagen verächtlicher Blick von V.S. Naipaul auf seine alte Heimat. Woher kam dieser distanzierte, kritische, vielleicht sogar verächtliche Haltung gegenüber seiner Herkunft?
    Ein Schutzpanzer aus Hochmut, Sarkasmus und Ironie
    Löffler: Naja, man muss schon sehen, wie schwierig er es in den 50er und 60er Jahren in England hatte. Er hat glaube ich sein Leben lang große Angst davor gehabt, aufgrund seiner Hautfarbe herabgewürdigt zu werden. Und er hat sich deswegen mit Hochmut, mit Sarkasmus, mit Ironie gepanzert. Das war Selbstschutz gegen etwaige Demütigungen als farbiger Zuwanderer. Er war sicher eine schwierige Persönlichkeit und hat sich auch mit vielen Leuten verstritten. Aber man muss das verstehen aus seiner Situation eines doppelten Migranten heraus. Seine Vorfahren waren ja auch schon indische Migranten in Trinidad, dann ging er weiter nach England. Und war dort abermals ein Migrant und ein nicht geschätzter Zuwanderer. Andererseits muss man sagen: Er hat eine grandiose Erfolgskarriere gemacht! Er ist ja 1989 geadelt worden, Sir Vidia Naipaul. Und er hat 2001 den Nobelpreis bekommen. Mehr kann man sich als Schriftsteller ja kaum wünschen!

    Funck: V.S. Naipaul wurde in England nicht nur mit Erzählungen und Romanen berühmt, sondern ab den 60er Jahren auch als Reiseschriftsteller. Und er galt in der englischen Literatur als der große Außenseiter und der große Heimatlose. War das Reisen und das Über-Das-Reisen-Schreiben für ihn persönlich vielleicht sogar der Versuch, sich eine neue Heimat herbeizuschreiben?

    Löffler: Na, ich denke, die Reiseberichte sind dafür nicht so ein gutes Beispiel, sondern eher seine autobiografischen Schriften. Seinen Durchbruch hatte er ja mit dem großen Porträt seines Vaters "Ein Haus für Mister Biswas" 1961. Da hat er sehr sensibel, sehr mitfühlend die Enttäuschungen seines Vaters auf der Insel Trinidad beschrieben. Und sein zentrales Werk, wenn man ihn kennenlernen will und seine persönlichen Schwierigkeiten und Probleme, dann muss man den Roman "Das Rätsel der Ankunft" (1993) lesen. Da hat er vier Jahrzehnte nach seiner eigenen Ankunft in England endlich einmal über seine eigene Entwurzelung, über sein Außenseitertum geschrieben. Und er hat versucht nachzuzeichnen, wie er sich sein hybrides, postkoloniales Selbst überhaupt konstruiert hat. Das ist ein sehr bewegendes Buch. Ich halte es für sein Meisterwerk und einen Klassiker.

    Funck: Gut, dann haben wir schon einmal einen Lektüretipp, danke dafür. Er war ein brillanter Schriftsteller und Stilist. Und ich glaube, charakteristisch für seine Literatur ist oft ein Genre-Mix. Denn er mischte in seinen Büchern immer wieder Autobiografie
    mit Fiktion, mit Reisebericht, Interview oder Gesellschaftsanalyse. Heißt das: Naipaul war nicht nur ein Wegbereiter für eine neue postkoloniale Weltliteratur, sondern auch ein früher Vertreter des postmodernen Schreibens?
    Herablassender Blick auf die Dritte Welt
    Löffler: Jein, "postmodern" würde ich nicht sagen. Aber man findet in seinem Werk in der Tat die Mischung, die Sie beschrieben haben zwischen autobiografischer Erfahrung und historischen Erinnerungen und politischer Reportage. Damit hat er eigenes Genre geschaffen, das in England sehr berühmt ist: "Travelogue": Reiseschriftstellerei. Das ist bei uns im deutschsprachigen Raum nicht sehr angesehen, in England aber sehr hoch angesehen. Und in diesem Genre war er glaube ich einer der führenden Vertreter. Er hat in seinen großen Reiseberichten aus der sogenannten Dritten Welt über die sogenannten "Halbfertig-Gesellschaften", wie er sie nannte, unser Bild von den postkolonialen Gesellschaften geprägt. Und er hat damit auch sehr viel Widerspruch produziert, weil seine Berichte manchmal so klingen, als seien diese Halbfertig-Gesellschaften selbst schuld an ihren Problemen und an ihrer Rückständigkeit und Misere und Unterdrückung. Naipaul hat da oft einen sehr herablassenden Ton. Das klingt dann manchmal fast ein bisserl wie die Herablassung weißer Imperialisten und Kolonialherren. Und das hat natürlich die großen postkolonialen Kritiker sehr empört. Etwa Salman Rushdie oder Edward Said und andere.
    War ausgerechnet der Migrant Naipaul ein Imperialist und Reaktionär?
    Funck: Ja, die warfen Naipaul dann ja vor, dass er in seinen Berichten sozusagen aus den Opfern des Kolonialismus Täter mache. Und Sie beschimpften ihn als Reaktionär und Imperialisten ein. Aber ist an diesen Vorwürfen gegen Naipaul nicht auch tatsächlich was dran?

    Löffler: Na ja, zum Teil müssen wir heute im Rückblick sagen, dass Naipaul mit seinen unpopulären Ansichten ja nicht nur Unrecht hatte. Man kann ja in der Tat die postkolonialen Fehlentwicklungen, vor allem der afrikanischen Staaten nach der Unabhängigkeit, die kann man doch nicht alle immer nur den Kolonialherren in die Schuhe schieben. Daran waren die Einwohner der ehemaligen Kolonien schon auch zum Teil selbst schuld. Die Korruption, die Misswirtschaft, der Terror, diese furchtbaren Diktaturen: Das alles haben sich diese Länder teilweise auch selbst zuzuschreiben. Und das zeigt Naipaul vor allem in seinem großen Kongo-Roman "An der Biegung des Flusses" von 1979. Da beschreibt er die Diktatur des kongolesischen Machthabers und Tyrannen Mobutu. Das ist ein sehr unfreundliches Porträt dieses Landes. Also, Naipaul hatte mit seiner düsteren Sicht auf die Dritte Welt eben nicht nur Unrecht. Und besonders, wenn man heute zurückblickt auf sein großes Buch "Eine islamische Reise" (1981), wo er sehr früh über die Islamisierung von Staaten wie dem Iran oder Pakistan, Indien schreibt und darüber sehr kritisch schreibt, weil er findet, dass diese Länder gewaltsam islamisiert worden sind - wenn man das heute liest, muss man sagen, dass er mit diesem Porträt eines hysterischen, islamischen Extremismus, der einen damals sehr befremdete, dass er damit etwas beschrieben hat, was wir jetzt im Westen, Jahrzehnte später, als politische Realität wahrnehmen.

    Funck: Er war also auch ein prognostischer Autor. Und dann würden Sie wahrscheinlich auch Burkard Müller Recht geben, der heute in seinem Nachruf in der "Süddeutschen Zeitung" meint, dass V.S. Naipaul mit seiner düster-defätistischen Sicht auf die Dritte Welt letztlich nur bittere Wahrheiten verkündete, die neimand hören wollte. Nämlich zum Beispiel die Wahrheit, dass viele Revolutionsbewegungen in den Ex-Kolonien inhuman-mörderische Ausmaße annahmen. War Naipaul ein einsamer Rufer in der Wüste, den man manchmal falsch verstanden hat?
    Nur der eigenen Wahrheit verpflichtet
    Löffler: Er war ein Eigenbrötler, er war ein Querdenker. Er hat sich von niemandem beeinflussen lassen. Und er fühlte sich immer seiner Wahrheit verpflichtet gewesen und dem, was ihm seine Gesprächspartner auf seinen zahllosen Reisen erzählt haben. Er hatte da einen ganz unbestechlichen Blick, auch einen schonungslos kritischen Blick. Er war stahlhart im Ton, aber ich glaube, dass seine Bücher nach wie vor unglaublichen Wert haben und zur Weltliteratur gehören.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Aufassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.