Auch im akademischen Betrieb stellt sich die Frage, wo die Meinungsfreiheit aufhört. Letztes Jahr gab es an der Universität Siegen ein Seminar (*), zu dem der AfD-Abgeordnete Marc Jongen und der Buchautor Thilo Sarrazin eingeladen waren. Das Thema des Seminars war: Meinungsfreiheit. Es gab Stimmen, die eine Ausladung befürworteten. Zu denjenigen, die damit nicht einverstanden sind, gehört der Philosoph Lutz Wingert.
"Universitäten sind nicht der Gral oder das Zentrum der Gesellschaft", so Wingert. Ein Stück weit sei der Konflikt in Siegen beispielhaft dafür, dass wir eine Schwierigkeit haben zu differenzieren zwischen der Beschränkung der Meinungsfreiheit, die dem Schutz der Demokratie dienen soll und staatlicher Bevormundung. Die Universitätsleitung in Siegen habe "hier Maulkörbe umhängen" wollen: Sie "wollte bestimmte Fragen nicht diskutieren. Und das an einer Universität. Insofern war das ein falscher Schritt, der der Demokratie und der Freiheit nicht dienlich war".
Renommierte Professoren mit Shitstorms überzogen
Wingert zufolge müssen wir gefährliche Meinungen zulassen, damit sie nicht gefährlich bleiben. "Wir können nicht dadurch dass Meinungen unterdrückt werden, das, was zu diesen Meinungen führt, austrocknen." Insofern sei die Instrumentalisierung von Meinungsfreiheit eine Gefahr, die wir nicht vermeiden können. Allerdings säßen die Gegner der Meinungsfreiheit nicht nur auf der sogenannten rechten, sondern genauso auf der linken Seite: "Denken Sie an die Humboldt-Universität. Dort werden bekannte und renommierte Professoren wie Herfried Münkler für ihre außenpolitischen Auffassungen mit Shitstorms überzogen." Gefährliche Meinungen sind zuzulassen, um sie "durch den Streit mit Worten und Argumenten zu bezwingen". Aber natürlich gebe es auch Grenzen, jenseits derer dieses Vorgehen nicht mehr funktioniert. "Es geht darum, dem Eindruck der Tabuisierung von bestimmten Problemen entgegenzuwirken. Und das ist die Aufgabe von meinungsfreudigen Menschen", von Universitäten, Schulen, der Öffentlichkeit. "Wir müssen das Gefühl, dass bestimmte Dinge nicht gesagt werden dürfen, Ernst nehmen. Der Grundgedanke ist: Aussprechen, um auch zu bekämpfen."
Angst vor Sanktionierung kein gutes Zeichen
Wenn der Schriftsteller Uwe Tellkamp eine Revision der Einwanderungspolitik von Kanzlerin Angela Merkel fordert und diese Einschränkung von Leuten aus dem Kulturbetrieb nicht öffentlich wiederholt werde aus Angst vor Sanktionierung, dann sei das "kein gutes Zeichen": "Zu sagen, wir diskutieren darüber nicht, ist kein Weg, um die Differenz zwischen Meinung und Wahrheit aufzuheben": Der Kulturrelativismus sei an den Universitäten sehr verbreitet und finde "auf beiden Seiten rechts wie links Unterstützung".
Abzuwarten, welche der beiden Seite sich nun durchsetze, folge dem Muster eines "Unterwerfungsmodell(s)", das es nicht geben dürfe: "Wir müssen darauf insistieren, dass, wenn etwas wahr ist, jeder es Kraft eigener Vernunft einsehen kann. (…) Meinungsfreiheit kann wie Religionsfreiheit missbraucht werden zu etwas, derentwillen sie nicht gedacht ist."
(*) Anmerkung der Redaktion: In einer ursprünglichen Version hatten wir berichtet, dass das Seminar abgesagt wurde. Die Universität Siegen berichtigt in einer Stellungnahme, dass die Diskussion sehr wohl statt gefunden hat. Wir bitten diesen Fehler zu entschuldigen.