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Zwei neue Bücher von Mathias Énard
Reflexionsschärfe und weiter literarischer Horizont

Der französische Autor Mathias Énard ist für seine üppigen und gelehrten Romane bekannt. Jetzt hat er erstmals einen Poesie-Band veröffentlicht, aus dem seine Leidenschaft für die Kulturen rund ums Mittelmeer spricht. Und eine Graphic Novel über syrische Flüchtlinge in Berlin.

Von Dirk Fuhrig |
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Der Schriftsteller Mathias Énard ist ein Weltreisender (Marie-Lisa Noltenius)
"Proust friert in Paris
Am Boulevard Haussmann,
In der Rue Hamelin.
Proust ist entschieden gegen die Zentralheizung.
Wickelt sich in Plaids und Decken wie eine Mumie,
Sie sind seine Haut, seine Begleitung,
Seine Erinnerungen."
Diese humorvollen Verse aus dem letzten Poem von Mathias Énards Gedichtband erklären den altertümlich klingenden Titel, den Énard für sein Buch gewählt hat. Der Schriftsteller ist selbst Mitglied der Proust-Gesellschaft der katalanischen Metropole, in der er seit fast 20 Jahren lebt. Die bewusst umständliche Formulierung gibt auch den ironisch-verschmitzten Grundton vor, der sich durch zumindest einen Teil der Gedichte zieht.
Erste Poesie-Sammlung Énards
Es ist die erste Poesie-Sammlung des für seine üppigen und gelehrten Romane berühmten Schriftstellers überhaupt. Anders als Marcel Proust, dessen Welt aus den Salons der Pariser Gesellschaft und später aus seinem eigenen Schlafzimmer bestand, ist Énard ein weitgereister Autor, vor allem in Europa und den Regionen rund um das Mittelmeer.
"Tag für Tag verlieren wir Städte
Tanger,
Montevideo,
Beirut,
Combray,
Barcelona."
Man kann Énards Poesie, in der neben einem magischen Proust-Ort wie Combray vor allem Lebensstationen des Autors auftauchen, als Erinnerungs-Literatur betrachten. Zwar wurden die formal sehr unterschiedlichen Gedichte nicht in einem Zug geschrieben, sondern sind im Laufe der Jahre entstanden, immer wenn Énard unterwegs war. Erst im Nachhinein, in einer Zwischenphase seines Schaffens nach dem Groß-Roman "Kompass", ist bei ihm offenbar die Idee entstanden, diese Reisenotizen zu veröffentlichen.
Schaffensweg des Autors
Die Gedichte zeichnen auch den Schaffensweg des Autors nach, der in "Zone" die Schrecken des Balkan-Krieges in einen Klagegesang verwandelt hat, in "Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten" die Toleranz im alten Konstantinopel beschworen und in "Die Straße der Diebe" schon 2012 einen Flüchtling aus Marokko in den Mittelpunkt eines Romans gestellt hat. "Stanzen aus der Straße der Diebe" heißt ein Kapitel in dem aktuellen Gedichtband. In der schmalen Gasse mit diesem Namen in Barcelona hat Énard selbst einmal gewohnt.
"Oben auf meinem Beobachtungsposten
Bin ich Entdecker im Straßengetöse.
Blick ich nach Süden, wo Gabelstapler rosten
Erspäh ich forschend die Blüte ihrer Möse
Und niemand stört, wenn sie schreit und stöhnt.
In Barcelonas Tosen geht es unter,
Von Megafonen und Sirenen übertönt.
Die Huren klackern rauf und runter,
Die Rollgitter der Läden rasseln,
Und Dealer lassen sich nach ihrer Tour
Von aufmerksamen Bullen fassen"
Manche Verse laufen in der deutschen Übersetzung etwas hakelig, insgesamt haben Sabine Müller und Holger Fock, Énards Stamm-Übersetzer der Romane, auch den lyrischen Ton des Autors gut getroffen, wie in dieser "Ballade über die Bar Marsella":
"Trostlos, zärtlich und entschieden
Verschafft deine Hand mir Frieden
Sanft setzt die Opiumraucherin
Den süßen Schuss mir am Kamin
Kalt reißt die Explosion mich nieder
In einem Graben erwach' ich wieder
Von schnüffelnden Hunden bewacht
In dieser von Bitternis bestirnten Nacht.
Mitunter klingt das nach Rimbaud oder Apollinaire. Weitere literarische Referenzen werden im Anhang erklärt - Anspielungen auf arabische Autoren oder mehrfach auf den vergessenen, aus Tanger stammenden spanisch-marokkanischen Schriftsteller Ángel Vázquez, den Énard bewundert.
Aus den mal gereimten, mal ungereimten Versen lassen sich immer wieder thematische Gedankensplitter herausfischen, die einem auch in Énards Prosa begegnen. Charakteristisch ist die Grundspannung zwischen Unterwegssein und Sehnsucht nach Rückkehr.
"Wer weiß, wie es zu Hause aussieht
Ich habe dieses Meer satt
Und seine Einsamkeit
Zeit, heimzukehren
Europa ist ein alter Kontinent
Der es nicht mag, wenn man ihn verlässt
Und ich, ganz besonders
Ich mag es nicht, wenn man mich allein
Zurücklässt"
"Zuflucht nehmen"
Das Transitorische, der Übergang zwischen Weltgegenden und Kulturen, ist der Kern von Mathias Énards literarischem Schaffen. Dieses Motiv findet sich auch in dem zweiten Text, der jetzt auf Deutsch erschienen ist. Die Graphic Novel "Zuflucht nehmen" hat Énard gemeinsam mit Zeina Abirached herausgebracht. Die herausragende libanesische Zeichnerin lebt in Paris und Beirut.
Die Handlung spielt jedoch hauptsächlich in Berlin. Dort hat Mathias Énard als Stipendiat des DAAD gewohnt, als die ersten Flüchtlinge vor dem Krieg in Syrien nach Deutschland kamen. Und so steht die aus Aleppo stammende Lehrerin Neyla im Mittelpunkt dieser Graphic Novel. Ein deutscher Architekt und Flüchtlingshelfer, der Würste beim Wohltätigkeitsbasar in Prenzlauer Berg brät, verliebt sich in sie - doch Karsten und Neyla kommen nicht zusammen, weil der Verlust von Heimat und Sprache die Syrerin komplett aus der Bahn geworfen hat.
"Ich kann nicht mehr. Berlin ist mir zu kalt … alles ist kalt hier. Die Gebäude. Die Leute. (…) Aber es gibt auch liebenswürdige Menschen. Die vom Bezirksverein zum Beispiel. (…) Und dann mein Kopftuch. Ich hab das Gefühl, man hält mich für eine Terroristin."
Die Sprechblasen-Dialoge sind, dem Genre entsprechend, eher schlicht gehalten. Getragen wird der Band von den kraftvollen Schwarz-Weiß-Grafiken Zeina Abiracheds, die es - wie schon in ihren Comics über den libanesischen Bürgerkrieg - schafft, Trauer und Leid, aber auch Freude eindrucksvoll in die Gesichter der Figuren zu legen. Énards Texte rücken da in den Hintergrund, auch wenn er eine zweite Geschichte einfügt: Die spielt 1939 in Afghanistan, wo die Schweizer Abenteurerin Annemarie Schwarzenbach - der Énard schon in seinem Roman "Kompass" eine tragende Rolle gegeben hatte - mit ihrem Ford Roadster vor den Bamiyan-Statuen rastet. Und dies just in dem Augenblick, als in Europa der Zweite Weltkrieg beginnt. Die Buddha-Statuen erlangten traurige Berühmtheit, als die Taliban sie 2001 in die Luft sprengten.
Krieg, Zerstörung, Flucht
Die Parallelen zwischen Kriegen, Zerstörung und Flucht binden den Berliner und den afghanischen Handlungsstrang etwas angestrengt zusammen. Die Graphic Novel ist insgesamt vor allem durch die (Flüchtlings-)Thematik und die eindrucksvollen Zeichnungen interessant - inhaltlich aber etwas plakativ und eher keine literarische Großtat.
Die Gedichte in der "Letzten Mitteilung an die Proust-Gesellschaft von Barcelona" hingegen zeugen von Mathias Énards Reflexionsschärfe, von seinem weiten literarischen Horizont - und von der schwebenden Eleganz seiner Sprache.
"Marcel auf seinem Totenbett,
Eine Brühe, erst kochendheiss, dann erkaltet,
Heinrich Heine in seiner Matratzengruft.
Der Schlaf ist sanft,
Das Morphin,
Der Tod ist sanft,
Die Hure.
Isis und Osiris, Tod und Schlaf,
Morphin und Schmerz,
Alkohol,
Visionen
Zum Schluss Atemstillstand."
Nach dem Intermezzo mit Gedichten und der Graphic Novel schreibt Mathias Énard derzeit wieder an einem umfangreichen Roman - sein erster, in dem er sich mit Frankreich beschäftigt. Es wird darum gehen, wie sich das Leben in einer ländlichen Region wie die seiner Geburtsstadt Niort, nicht weit von La Rochelle und Poitiers, über die Jahrzehnte verändert hat. Der Weltbürger Énard, der Beirut und Damaskus kennt wie wenige andere europäische Schriftsteller, der in Barcelona Arabisch unterrichtet und libanesisch kocht, kehrt literarisch in seine Heimat zurück - auf diesen neuen Roman dürfen wir gespannt sein.
Mathias Énard: "Letzte Mitteilung an die Proust-Gesellschaft von Barcelona"
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Verlag Hanser Berlin, Berlin. 128 Seiten, 19 Euro.
Zeina Abirached/Mathias Énard: "Zuflucht nehmen"
Aus dem Französischen von Annika Wisniewski
avant-Verlag, Berlin. 348 Seiten, 30 Euro.