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Zweisprachigkeit
Wie Sprache die Weltsicht bestimmt

Zweisprachig aufgewachsene Menschen wechseln mit der Sprache auch ihre Sicht auf die Welt. Das haben Linguisten für Englisch und Deutsch untersucht. Je nachdem, in welcher Sprache die Probanden eine Szene beschreiben sollten, wechselten sie auch die Perspektive auf das Geschehen.

Von Guido Meyer | 06.08.2015
    Ein Miniatur-Wörterbuch "Deutsch - Englisch" steht auf den aufgeschlagenen Seiten seines großen "Bruders"
    Mit der Sprache ändert sich die Perspektive. (picture alliance / dpa / Peter Kneffel)
    Eine Frau geht die Straße entlang. Am Ende steigt sie in ein Auto. Eigentlich zwei simple Handlungen. Oder ist es nur eine?
    "Ein Deutscher würde diesen Vorgang - eine Frau geht - immer so beschreiben, dass die Aussage auch das Ziel der Handlung beinhaltet. Er würde sagen: 'Eine Frau geht zu einem Supermarkt.' Oder: 'Eine Frau geht zu ihrem Auto.' Englischsprechende hingegen fokussieren ihre Aussage allein auf die Aktion und ignorieren deren Ergebnis. Sie würden sagen, 'eine Frau geht' oder 'ein Mann fährt Fahrrad', ohne den Endpunkt der Handlung zu erwähnen."
    Von 2010 bis 2014 hat ein Team von Linguisten um Professor Panos Athanasopoulos von der Lancaster University in England deutschen Muttersprachlern und englischen Muttersprachlern einfache Videos gezeigt - eben von der Machart: Eine Frau geht irgendwo hin. Die Probanden sollten jeweils beschreiben, was sie sehen.
    Ein anderes Videobeispiel beschreibt Alexandra Kibbe:
    "Wenn wir jetzt eine Bewegung wahrnehmen, zum Beispiel: Ein Auto fährt die Straße entlang und auf eine Garage zu, dann würde ein deutscher Muttersprachler beschreiben: 'Das Auto fährt in die Garage', wohingegen ein englischsprachiger Muttersprachler nur die Bewegung an sich beschreiben würde: 'Das Auto fährt'."
    Für Deutschland war die Diplom-Psychologin Alexandra Kibbe von der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg an der Studie beteiligt. Sie hat deutsche Versuchsteilnehmer in Deutschland auf Deutsch befragt, während Teamchef Panos Athanasopoulus das Gleiche mit englischen Probanden in England auf Englisch machte.
    Athanasopoulus: "Es ist so, als träten Deutschsprechende einen Schritt zurück und würden die Szene in ihrer Gesamtheit betrachten, von Anfang bis Ende: Eine Frau kommt aus dem Supermarkt und geht zu ihrem Auto. Englischsprachige hingegen nehmen ein Vergrößerungsglas und zoomen ganz nah heran an die Aktion. Sie ignorieren sowohl das Ende wie den Anfang der Handlung. Sie betrachten nur den reinen Vorgang. Der interessiert sie am meisten. Sie erwähnen lediglich, ob eine Frau geht, ein Mann radfährt und so weiter."
    Die Grammatik bestimmt das Bewusstsein
    So weit, so gut. Nur - warum ist das so? Warum liegt den Engländern die Handlung näher als der Zusammenhang? Und warum ist von Deutschen keine Stellungnahme ohne Einordnung zu haben? Kibbe:
    "Das liegt am grammatikalischen Aufbau der Sprache. Zum Beispiel bei den Engländern, die benutzen andere Verbformen. Viele, die ein bisschen englisch sprechen, kennen ja diese -ing-Formen bei den Verben - "going" zum Beispiel. Das beschreibt immer den Prozess der Handlung. Diese Möglichkeiten von einer andauernden Handlung, die so konkret im Verb auszudrücken, haben wir im Deutschen nicht."
    In der Tat bleibt Deutschen im Präsens stets nur die einfache Zeitform 'ich gehe' - egal, ob man es jeden Tag tut - 'täglich gehe ich zur Arbeit' - oder als Antwort auf die Frage, 'was machst du gerade?' Im Englischen dagegen gibt es die sogenannte progressive Zeitform, die eine andauernde Handlung beschreibt. Athanasopoulus:
    "Entweder Sie reden über ein Ereignis, das derzeit stattfindet, oder Sie beschreiben eine Gewohnheit. Wenn Sie sagen, 'I was playing the piano when the phone rang' heißt das, dass das Telefon klingelte, als sie gerade Klavier spielten. Sagen Sie aber, 'I played the piano and the phone rang' bedeutet das, dass Sie das Klavierspielen beendet hatten, als es klingelte. Auf Deutsch gibt es diese Unterscheidung nicht. Das Fehlen der progressiven Zeitform scheint auch den unterschiedlichen Blickwinkel zu bestimmen."
    Die holistische Weltsicht der Deutschen
    Die Deutschen hätten eine holistische Sicht der Welt, so das Linguistenteam - das heißt so viel wie: allumfassend, uneingeschränkt, absolut, total. Kibbe:
    "Die holistische Weltsicht geht davon aus, dass wir die Welt als Ganzes betrachten. Und in der deutschen Sprache ist es so, diese Menschen, deutsche Muttersprachler, konzentrieren sich auf Anfangspunkte und auf Endpunkte. Zum Beispiel englische Muttersprachler konzentrieren sich mehr auf die Bewegung an sich. Das heißt natürlich, wenn man mehrere Sprachen spricht, ist man in der Lage, beide Sichten zu übernehmen, je nachdem, in welchem Kontext man sich befindet."
    Hier kommen die Bilingualen ins Spiel, Menschen also, die natürlich in ihrer Muttersprache aufgewachsen sind, aber heute zwei Sprachen fließend sprechen. Sie waren der Untersuchungsgegenstand dieses Experiments. Athanasopoulus:
    "Zweisprachler stellen für uns eine interessante Möglichkeit dar. Statt festzustellen, dass Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, auch unterschiedliche Ansichten haben, können wir fragen, ob ein und dieselbe Person unterschiedliche Sichtweisen in sich trägt, ob sie sich wie zwei verschiedene Personen benimmt."
    Sprache als Ansichtssache
    Und so wurden diesmal deutsche Zweisprachler in Deutschland auf Deutsch befragt und anschließend in England auf Englisch. Dabei überraschte es nicht, dass sich auch die deutschen Zweisprachler - in vertrauter Umgebung und Sprache - so verhalten und Dinge so beschreiben wie Deutsche, die nur deutsch sprechen. Athanasopoulus:
    "Aber die Bilingualen, die auf Englisch in Großbritannien getestet wurden, benahmen sich so wie Engländer. Sie beschrieben Szenen nur mit den Worten 'eine Frau geht die Straße entlang", ohne Rücksicht auf den Zweck der Handlung."
    Kibbe: "Ein deutscher Muttersprachler, der aber fließend englisch spricht, entscheidet in einer englischen Situation, das heißt, wenn er auf Englisch befragt wird, eher wie ein englischer Muttersprachler, wohingegen wenn er sich in einem deutschen Kontext befindet und auf Deutsch befragt wird, wie ein deutscher Muttersprachler reagiert, das heißt, diese Wahrnehmung verändert sich abhängig vom Kontext, in dem sich die Person befindet."
    Womit die Sprache also in der Tat das Bewusstsein bestimmt. Das Idiom, in dem Menschen sich ausdrücken, schreibt ihnen unbewusst vor, was sie wie wahrnehmen, wie sie es darstellen, beschreiben und wiedergeben. In diesem Fall heißt das: Englischsprachige Deutsche können sich - auf Englisch befragt - der progressiven Zeitform bedienen, der -ing-Form also. Diese sprachliche Möglichkeit erweitert auch den Wahrnehmungshorizont.
    Literatur
    Athanasopoulos P, Bylund E, Montero-Melis G, Damjanovic L, Schartner A, Kibbe A, Riches N, Thierry G. (2015)
    Two languages, two minds: Flexible cognitive processing driven by language of operation.
    Psychological Science
    DOI: 10.1177/0956797614567509